Claude Debussy
* 22. August 1862
† 25. März 1918
Trio g-moll L.3
Komponiert: | Fiesole, Oktober 1880 |
Widmung: | Emile Durand |
Uraufführung: | Fiesole, Villa Oppenheim, Oktober 1880 (privat) Claude Debussy, Klavier Vladislav Pachulskij, Violine Pëtr Daniltschenko, Violoncello |
Erstausgabe: | Henle, München, 1986 |
Wer immer ein unreifes Jugendwerk eines großen Komponisten nach Jahrzehnten der vom Autor selbst gewünschten Vergessenheit ans Tageslicht zerrt, darf sich nicht nur des Beifalls novitätenhungriger Gourmets sicher sein (deren Hunger nach Neuem sich aber nur in den seltensten Fällen auf die zeitgenössische Musik erstreckt), sondern er muß sich auch gegen den nicht leicht zu entkräftenden Vorwurf der Pietätlosigkeit wehren. Selten aber ist beides, Neugier und Skepsis, gleichermaßen so plausibel wie im Falle des 1986 veröffentlichten Klaviertrios des achtzehnjährigen Debussy.
Die Neugier beruht zunächst auf dem Umstand, daß es sich hier um die früheste erhaltene Instrumentalkomposition Debussys handelt, wird aber sicher noch geschürt durch die verwickelte und abenteuerliche Geschichte der Wiederauffindung des Autographs; einige Jahre hindurch war nur der 1. Satz des Werkes zugänglich, bis dann völlig unerwartet eine zweite Quelle erschlossen werden konnte, die die Wiederherstellung des gesamten Textes ermöglichte. Das Wiener Schubert Trio brachte gleichzeitig mit dem Erscheinen der Erstausgabe die erste Einspielung des ganzen Trios heraus. Der Vorwurf der Leichenschändung hinwiederum, begangen am Komponisten des „Pélléas“, kann angesichts eines Werkes, das trotz aller musikologisch belegbaren Querverbindungen zu Schumann und César Franck dennoch die meisten Anleihen bei Massenet (und manchmal wohl auch noch eine Etage tiefer) macht, nicht ausbleiben.
Gerade diese offen zutage liegenden Mängel des Werkes aber scheinen eine Beschäftigung oder zumindest eine Bekanntschaft mit ihm zu rechtfertigen. Denn für das tiefere Verständnis der Eigenheiten der Sprache Debussys kann es nun einmal nicht einerlei sein, „auf welchem Mist“ sie gewachsen ist, und aus welchen heterogenen Elementen sie allmählich zu sich selbst gefunden hat. Bei Debussy, der seine ersten vollgültigen Werke in einem Alter schrieb, das etwa Schubert gar nicht mehr erlebte, ist dieser Entwicklungsgang äußerst langdauernd und alles andere als geradlinig. Unter diesem Aspekt ist das wiederaufgefundene Klaviertrio Debussys als verblüffende Markierung des Ausgangspunktes eines einzigartigen Werdeganges sicher von Interesse und hörenswert.
Debussy war am Ende des Studienjahres 1879/80 in den Augen seiner Eltern und Lehrer kaum mehr als ein Versager, ein „verpatztes Wunderkind“, das sich für die angestrebte Laufbahn als Klaviervirtuose eben als ungeeignet erwiesen hatte. Umso erstaunlicher, daß gerade Debussys Klavierlehrer Marmontel, der aus seiner Sicht allen Grund hatte, mit seinem Schüler äußerst unzufrieden zu sein, ihm eine überaus verlockende Einladung zukommen ließ: die russische Millionärin Nadeschda Filaretovna von Meck, die Mäzenin Tschaikovskijs, suchte für ihre alljährliche Europatour einen „Hauspianisten“ und Klavierlehrer für ihre Kinder. Debsussys erste „Saison“ bei der Familie Meck dauerte vom 8. Juli bis zum 14. November 1880. Zunächst reist er der Familie nach Interlaken entgegen. Von dort fährt man nach kurzem Aufenthalt über Paris an die französische Atlantikküste, nach Arcachon, wo man für die Badesaison bleibt. Frau von Meck, die in diesem Sommer mit fünf von ihren elf Kindern unterwegs ist, wird nicht nur von einer beachtlichen Anzahl Bediensteter begleitet; neben Debussy gehören auch der Geiger Vladislav Pachulskij und der Cellist Pëtr Daniltschenko zum Meckschen Hofstaat; dieses „Von-Meck-Trio“ muß zur Erbauung der Familie in nächtelangen Séancen die gesamte verfügbare Klaviertrioliteratur, meist prima vista, zum besten geben. Daneben steht Debussy Frau von Meck als Partner für das Vierhändigspiel zur Verfügung – seine Fertigkeit im Blattlesen, etwa der IV. Symphonie von Tschaikovskij, wird allseits bewundert. Anfang Oktober trifft der Troß in Florenz ein und nimmt kurz darauf in der Villa Oppenheim in Fiesole Quartier. Auch hier werden, neben dem täglichen Klavierunterricht für die Kinder, die Trioabende fortgesetzt. Und so ist es gleichermaßen verständlich und verzeihlich, daß Debussy der Versuchung erliegt, sich in diesem Genre auch als Komponist zu versuchen. Frau von Meck ist von den Triounterhaltungen so entzückt, daß sie bei Tschaikovskij brieflich anfragt, ob er nicht auch so ein Stück schreiben wolle. Mit der ablehnenden Antwort Tschaikovskijs und ihrer nachfolgenden Revision werden wir im letzten Abend unseres Zyklus zu tun haben. Debussy jedenfalls scheint sich in Fiesole wohl gefühlt zu haben, denn am Tag nach seiner Abreise schreibt Frau von Meck an Tschaikovskij:
„Mein kleiner Franzose ist abgereist. Denken Sie nur, Pëtr Iljitsch, der Junge hat geweint, als er uns verließ. Das hat mich tief gerührt; er hat ein so liebevolles Herz. Er hätte uns überhaupt nicht verlassen sollen, aber der Direktor des Konservatoriums war schon sehr ärgerlich, weil er seine Rückkehr um vierzehn Tage verschoben hatte…“
(15.11.1880)
Was das „liebevolle Herz“ Debussys anlangt, sollte Frau von Meck recht behalten: ihre Tochter Sonja, die 1880 gerade 13 Jahre alt gworden war, wurde für den „kleinen Franzosen“ im Laufe der folgenden zwei Sommer, die er mit den Mecks auf Reisen verbrachte (1881 Moskau, Rom, Venedig; 1882 Moskau, Wien) immer anziehender, sodaß er sich 1882 in Wien – man hatte kurz zuvor an der Staatsoper den „Tristan“ unter Hans Richter gehört – dazu verstieg, um Sonjas Hand anzuhalten. Dieser Fauxpas beendete Debussys Gastspiel im Hause Meck.
Ob schon in diesem ersten Sommer etwas von diesen Leiden angeklungen sein mag? Wenn man das flüchtige „Tristan“-Zitat im letzten Satz des Trios hört, ist man fast versucht, daran zu glauben…
Das Manuskript seines Klaviertrios nahm Debussy bei seiner Rückreise nach Paris mit, um es dort – Wunder über Wunder – ausgerechnet seinem verhaßten Harmonielehrer Emile Durand zu verehren:
„Beaucoup de notes accompagnées de beaucoup d’amitié, offert par l’auteur à Son professeur Monsieur Emile Durand“
lautete die blumige Widmung. Angesichts dieser Zeilen darf man sich fragen, ob – neben manchem zweifellos aufrichtig Unbeholfenen – nicht auch einige bewußte (Selbst-)Ironie in dieses erste „große“ Werk des beginnenden Komponisten eingeflossen ist.
Schon die Tempobezeichnungen könnten einem Dogmatiker einiges Kopfzerbrechen verursachen: „Andantino con moto allegro“ (G-Dur) ist der Beginn des ersten Satzes überschrieben; aber das anschließende Allegro appassionato für das zweite Thema rückt die Dinge ganz von selbst ins rechte (Beziehungs-)Lot. Ein drittes, lyrisches Thema schließt sich an – und wenn erst das ganze Material ausgebreitet ist, pflichtet man gerne dem Komponisten bei, der meint, daß man bei einer solchen Fülle von Themen billigerweise die Durchführung unter den Tisch fallen lassen kann. Die Reprise bringt die drei Themen in neuen Tonarten, um den Satz mit einer nochmaligen Reexposition des ersten Themas anstelle einer Coda zu beschließen.
Der zweite Satz trägt die noch kryptischere Überschrift: „Scherzo. Intermezzo. Moderato con allegro“ (h-moll). Debussy scheint also in Fiesole mit seinen russischen Kollegen französisch gesprochen zu haben, wodurch auch sein Italienisch einen unverkennbar russischen Anstrich erhielt. Aber jenseits dieser sprachlichen Fährnisse ist dieser Satz in seiner schlichten dreiteiligen Form ein sehr hübsches Stück Musik (und ganz offensichtlich ein Pendant zu dem gleichzeitig entstandenen Klavierstück „Danse bohémienne“).
Das folgende Andante espressivo (G-Dur) gibt sich keine Mühe, nobler auszusehen als es ist – es ist ein herrlich sentimentales Salonstück, dem man gerade wegen dieses Mangels an Raffinement einiges verzeiht, was in den Händen eines Routiniers wohl unverzeihlich wäre.
Im Finale. Appassionato (g-moll) klaffen Absicht und Ausführung wohl am weitesten auseinander; die Instrumentation wird der offenbar angestrebten „schumannschen“ Dramatik nur sehr unvollkommen gerecht; die Rondoform ist zwar durchaus geschickt gehandhabt, krankt aber daran, daß der sprachliche Duktus der einzelnen Episoden sich nicht mit dem des Ritornells verträgt – es ist ein wenig so, als ob Hochsprache und Dialekt, Sakrales und Vulgäres willkürlich vermischt würden.
Es ist erstaunlich, daß das Werk trotz all dieser unleugbaren Schwächen in seiner Gesamtheit durchaus den Eindruck eines starken und persönlichen Talents entstehen läßt. Seine wirklichen Stärken liegen in einer Vielzahl von originellen Details, die zwar kaum je ein formales Gefüge oder auch nur die Physiognomie eines ganzen Themas retten können, sich in ihrer Summe aber dennoch durchsetzen: eine originelle harmonische Nuance, eine elegante Melodiewendung, ein geglückter Übergang, eine gut plazierte Gegenstimme, eine sympathische Geste. Nicht viel, gemessen an dem Überreichtum und der makellosen Meisterschaft der Trios von Ravel und Fauré – doch wohl mehr als genug für einen ersten mutigen Gehversuch.
© by Claus-Christian Schuster