Joseph Haydn
* 31. März 1732
† 31. Mai 1809
Trio Es-Dur Hob.XV:22 (op.71 Nr.2)
Komponiert: | London, 1794/95 |
Widmung: | Marie Hermenegildis Esterházy, geb. Fürstin Liechtenstein |
Uraufführung: | nicht dokumentiert |
Erstausgabe: | Preston, London, Mai 1795 |
Wenn dieses Es-Dur-Trio eine Sonderstellung unter den Haydnschen Klaviertrios einnimmt, dann verdankt es diese Auszeichnung ohne Zweifel vor allem seinem ersten Satz (Allegro moderato), der von vielen Haydnkennern zu den Höhepunkten des Gesamtwerkes gezählt wird. Das Inzipit des Werkes scheint ein Jahr später zum Vorbild des Anfangs von Hob.XV:30 geworden zu sein, mit dem das Werk ja auch die Tonart gemeinsam hat. (Schon im Spätwerk Haydns ist Es-Dur auf dem besten Weg, die „Klaviertrio-Tonart“ par excellence zu werden…) Doch das eigentliche Wunder beginnt am Ende dieser eröffnenden Hauptthemenperiode, wo dieses zunächst so erdgebunden erscheinende Thema unvermittelt zu einem Höhenflug ansetzt, der uns bald in weit entfernte Regionen entführt. Die improvisatorisch anmutende Leichtigkeit, mit der Haydn hier agiert, verzaubert; und so nimmt es gar nicht wunder, wenn wir uns schon kurz nach einem (die Stelle des Seitenthemas vertretenden) dominantischen Hauptthemenzitat unvermittelt in Ges-Dur wiederfinden, das wir schon auf dem ersten kühnen Ausflug gestreift hatten. In der breit angelegten Schlußgruppe macht sich ein schlichtes Motiv bemerkbar, das in der Durchführung zu unserem Reisebegleiter werden soll. Bevor wir aber dieses Reich betreten dürfen, stellt sich uns ein unüberwindlich erscheinendes Hindernis in den Weg. Die Dominante von f-moll, an die Haydn uns hier anrennen läßt, sieht nicht weniger grimmig aus als eine das Tal versperrende Felswand. Doch – Logik des Traumes und des Märchens – schwerelos, ohne die sterblichen Mühen einer Modulation auch nur ahnen zu müssen, finden wir uns plötzlich in der dahinter liegenden Wunderwelt. Das Zauberwort, das uns dahin bringt, ist natürlich wieder das Inzipit, das uns hier einmal seinen subdominantischen Klang hören läßt. Der wahrlich märchenhafte Ideenreichtum, den Haydn in der von hier auf verschlungenen Pfaden zur Reprise zurückführenden Entwicklung vor uns ausbreitet, rechtfertigt A. P. Browns zusammenfassendes Urteil vollauf: „The most impressive development yet penned by Haydn.“ Daß nach solchen Abenteuern die Reprise ohne nennenswerte Neuerungen abläuft, kann niemanden ernstlich enttäuschen.
Das folgende Poco Adagio (G-Dur – in der Folge der Haydnschen Klaviertrios gleich der dritte G-Dur-Mittelsatz en suite) hat Haydn zunächst als Klavierstück komponiert. Eine Abschrift dieser wahrscheinlich aus dem Jahre 1794 stammenden Fassung von der Hand des Haydn-Adlatus Johann Elssler wird in Budapest aufbewahrt. Obwohl das Stück im Allebreve-Takt notiert ist, vermittelt die durchgehende Triolenbewegung ein Zwölfachtel-Gefühl, das im Zusammenwirken mit der typischen Tonart auch ohne den charakteristischen Siciliano-Rhythmus ein pastorales Bild entstehen läßt. Die pianistischen Formulierungen sind durchwegs originell, und als Klavierstück zählt das Werk sicher zu den interessantesten Kompositionen Haydns. Wahrscheinlich waren es diese Qualitäten, die den Komponisten bewogen, das sozusagen „herrenlose“ Stück in das Klaviertrio zu übernehmen. Die Umgestaltung in einen Triosatz kann man allerdings nicht als restlos geglückt bezeichnen: Offenbar widerstrebte es dem Komponisten, an dem so zwingenden und kompakten Klaviersatz etwas Wesentliches zu ändern, und so verurteilte er die Streicher zu recht kargen Begleitakkorden, die den instrumentalen Aufwand nicht wirklich rechtfertigen. – Wie der vorangehende und auch der folgende Satz ist dieser Mittelsatz ein monothematischer Sonatensatz, und auch hier ist es die Durchführung, die durch die assoziative Freiheit ihrer Harmonien fasziniert. So kommt es, daß wir uns unmittelbar vor dem Eintritt der Reprise bis nach fis-moll verirrt haben: Wie Haydn nun dieses fis sozusagen im Handumdrehen zum Leitton umdeutet, ist ein Kabinettstück modulatorischer Artistik. Verglichen mit dem analogen Teile des Kopfsatzes, der mit einem Minimum an Veränderungen auskommt, erscheint hier die Reprise in einer substantiell verkürzten und variierten Form.
Das Finale (Allegro) repräsentiert einen Satztypus, den Haydn in seiner letzten Schaffensperiode besonders häufig für Schlußsätze im Dreivierteltakt verwendet. Unter den vier Dreiviertel-Finalsätzen der beiden Esterházy-Zyklen findet sich dieser „neue“ Typus gleich dreimal (Hob.XV:18, 22, 23), während nur noch ein Trio (Hob.XV:20) an seiner Stelle das traditionelle Menuett bringt. Von diesem hat der neue Finaltyp nur mehr das Metrum. Das Tempo ist meist erheblich rascher, die rhythmische Gestalt pointierter und extravaganter; fast immer spielen akzentuierte Synkopierungen und raffinierte metrische Komplikationen eine wesentliche Rolle. Die Ausprägung dieser Charakteristika wäre ohne Kenntnis der osteuropäischen Volks- und Tanzmusik schwer vorstellbar. Daß Haydn als eigentlicher „Erfinder“ dieses neuen Idioms gilt, ist deshalb mit Blick Herkunft und Lebensraum des Komponisten nicht sehr überraschend.
Vielleicht wollte Haydn der mit der Übernahme des Mittelsatzes aus einem anderen Medium verbundenen Gefahr des allzu losen Pasticcio-Charakters begegnen – jedenfalls begnügt er sich nicht mit der formalen Kongruenz zwischen den Ecksätzen, er bringt in diesem Finale zusätzlich noch zwei dezente, aber ausreichend deutliche, den Zusammenhalt des Werkganzen unterstreichende Rückgriffe auf den Kopfsatz an: Das aus der Überleitung zur Schlußgruppe stammende und die Durchführung des ersten Satzes beherrschende Geigenmotiv schlägt hier in nur leicht modifizierter Gestalt die Brücke zwischen Haupt- und Seitensatz; und die den Hauptteil der Durchführung eröffnende Mediantrückung (C-As, bzw. IIV-IV) findet sich im Finale an entsprechender Stelle, wenn auch in anderer Funktion und in neuem harmonischen Kontext, wieder. Hier wird am Ende eines verwegen modulierenden Abschnittes ein Gis-Dur-Akkord als Dominante von cis-moll statuiert; die Rückung führt uns dann unvermittelt zu einer Scheinreprise in E-Dur. (Diese E-Dur-Vision in einem Es-Dur-Stück weckt Erinnerungen, und zwar sehr willkommene, an Haydns letzte Klaviersonate, Es-Dur, Hob.XVI:52.) Wie schon im ersten Satz ist diese markante Bruchstelle aber nur Kristallisationskern einer ganzen Reihe von recht gewagten Terzmodulationen, die das Durchführungsgeschehen bestimmen. Die Meisterschaft, mit der Haydn in diesen Sturm-und-Drang-Szenen Regie führt, ist staunenswert. Inmitten einer solchen Flut von Ideen und Möglichkeiten so vollkommen Überblick zu bewahren und Maß zu halten, ohne je berechnend oder kalt zu erscheinen, ist eine Gnade, die nur den ganz Großen gewährt wurde – Haydn läßt uns in jedem Takt an ihr teilhaben.
© by Claus-Christian Schuster