Dmitrij Shostakovitch
* 12. September 1906
† 09. August 1975
Trio Nr.1, c-moll, op.8 (1923)
Komponiert: | Sankt-Peterburg („Petrograd“), 1923 |
Widmung: | Tatjana Ivanovna Glivenko (*1906) |
Uraufführung: | Sankt-Peterburg („Petrograd“), Dezember 1923 (nicht dokumentiert) Moskau, Konservatorium, Kleiner Saal, 20. März 1925 Lev Nikolaevic Oborin (1907-1974), Klavier N. Fëdorov, Violine Aleksandr Aleksandrovic Egorov (1887-1959), Violoncello |
Erstausgabe: | Muzyka, Moskva, 1983 (Polnoe sobranie socinenij, t.37) |
Am 24. Februar 1922 stirbt Schostakowitschs Vater an Lungenentzündung – eines von vielen Tausenden Opfern dieses mörderischen Winters, dem die durch Krieg und Revolution entkräftete und dezimierte Bevölkerung der darniederliegenden jungen Sowjetunion ebenso wehrlos ausgeliefert ist wie dem politischen und wirtschaftlichen Terror des neuen Regimes. Der Fünfzehnjährige muß neben seinem Studium versuchen, den Lebensunterhalt für die Familie – die Mutter und zwei Schwestern – bestreiten zu helfen. Während die Mutter eine Arbeit als Kassiererin annimmt und die neunzehnjährige Maria Nachhilfestunden gibt, macht Mitja, was sich gerade anbietet. Eine seiner zahlreichen und häufig wechselnden Arbeitsstellen ist das von Shklovskij erwähnte Kino „Selekt“, wo er die oft drastischen Erzeugnisse der Stummfilmära mit einstimmenden Klavierimprovisationen begleitet. Die Arbeitsüberlastung bekommt dem schwächlichen Jungen aber nicht gut: Anfang 1923 erkrankt er an Tuberkulose. Die Ärzte, die ihn operieren, empfehlen seiner Mutter dringend, den Sohn auf Kur in den Süden zu schicken. Das Klavier muß verkauft werden, neue Schulden werden gemacht, aber im Sommer kann Mitja, von seiner älteren Schwester begleitet, auf einen Monat nach Gaspra ans Schwarze Meer fahren. Zu den zahlreichen Bekanntschaften, die er dort unter den urlaubenden Moskauer und Petersburger Intellektuellen macht, gehören die Familien Kustodiev und Glivenko. Der Maler Boris Kustodiev (1878-1927), den Schostakowitsch sehr schätzt, wird noch posthum eine Rolle im Leben des Komponisten spielen: Es sind Kustodievs Illustrationen zu Nikolaj Leskovs „Lady Macbeth“, die 1930 Schostakowitschs Aufmerksamkeit auf das Sujet seiner zweiten Oper ziehen. Von den beiden Töchtern des Moskauer Literaturwissenschaftlers und Romanisten Ivan Glivenko (1868-1931) war Tanja genauso alt wie Mitja. Dmitrij Sollertinskij berichtet über die Begegnung der beiden:
„Tanja, ein kleines, schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einem runden, hübschen Gesicht, war fröhlich, gesellig und sehr beliebt. Sie war stets umgeben von einer Schar junger Leute. Schostakowitsch schloß sich dieser Gruppe an. Gemeinsam verbrachte man die Zeit mit Schwimmen, Ballspielen und Spaziergängen in der Umgebung. Abends traf man sich, um Schostakowitsch beim Musizieren zuzuhören. Dmitrij konnte sich, ähnlich wie die anderen Jungen, dem Charme Tanjas nicht entziehen. Er wagte es aber nicht einmal zu träumen, daß sie seine Gefühle erwidern könnte. Krankhaft schüchtern und in sich verschlossen, fürchtete er, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit dem einbandagierten Hals und der großen runden Brille fühlte er sich unter den selbstsicheren Gleichaltrigen wie ein häßliches Entlein. Nach einigen Tagen geschah jedoch ein Wunder – Mitja stellte fest, daß seine Gefühle Widerhall fanden. Tanja wandte sich ihm mit besonderem Interesse und mit Sympathie zu, und wenn sie sich trafen, erstrahlte ihr Gesicht vor Freude.“
Zuhause erwarten die Geschwister aber die alten Sorgen:
„Als ich von der Krim zurückkam, mußten wir mit unseren Schulden fertig werden. Ende 1923 mußte ich deshalb Arbeit in einem Kino annehmen. Aber um die zu bekommen, mußte ich eine Qualifikationsprüfung als Klavierillustrator bei der Gewerkschaft RABIS ablegen. Diese Prüfung ähnelte sehr meinem ersten Besuch bei Bruni. Zuerst sollte ich einen »Blauen Walzer« spielen und danach etwas Östliches. Bei Bruni hatte ich nichts Östliches zustande gebracht, doch 1923 hatte ich schon Rimskij-Korsakovs »Sheherazade« und César Cuis »Orientale« kennengelernt. Die Qualifikation hatte ein positives Resultat, und im November trat ich meine Arbeit im Kinotheater »Goldenes Band« an. Die Arbeit war sehr schwer, aber da wir zwei Pianisten waren, gelang es mir irgendwie, den Besuch von Theater- und Konzertveranstaltungen mit dem Dienst zu vereinbaren. Da das »Goldene Band« mir im Laufe meiner zweimonatigen Tätigkeit nur einmal Gehalt zahlte, mußte ich dort weggehen, das ausstehende Gehalt bei Gericht einklagen und mir einen anderen Lebensunterhalt suchen…“
Das ist der biographische Hintergrund, vor dem in eben diesem Herbst 1923 das einsätzige Klaviertrio Opus 8 entstand. Es ist das erste Kammermusikwerk Schostakowitschs. Er widmete es seiner neuen Freundin Tanja, die seine erste große Liebe war und die für Jahrzehnte eine seiner treuesten und wichtigsten Ratgeberinnen werden sollte. Fast gleichzeitig mit dem Klaviertrio entstand eine Zyklus von drei Stücken für Violoncello und Klavier (op.9), der als verschollen gilt. Auch unser Trio wurde Jahrzehnte hindurch verloren geglaubt, bis das Autograph nach dem Tode Schostakowitschs unverhofft wieder auftauchte; allerdings fehlte die vorletzte Seite der Partitur, so daß der Schostakowitsch-Schüler Boris Tišèenko (*1939) für die Erstveröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe 1982 die fehlenden 22 Takte der Klavierstimme ergänzen mußte.
Das überaus originelle Werk stellt in einer vielgliedrigen, von ferne an ein Rondo erinnernden Form zwei kontrastierende Themenkomplexe einander gegenüber: die Gegensatzpaare „Chromatisch – diatonisch“, „Fallend – steigend“ werden in ständig neuen Brechungen gegeneinander ausgespielt. Das formale Verfahren hat wohl nicht zufällig Ähnlichkeiten mit der Montagetechnik der Filme, die Schostakowitsch allabendlich musikalisch untermalen mußte. Dabei ist der Unterton ironischer Doppelbödigkeit immer präsent, ohne den Ernst dieses Spiels zu desavouieren. Die Sicherheit, mit der diese Gratwanderung zwischen Bekenntnis und Parodie absolviert wird, bleibt bewundernswert, auch wenn dieser erste kammermusikalische Versuch des jungen Meisters an Bedeutung hinter dem monumentalen zweiten Klaviertrio (op.67) weit zurücksteht.
© by Claus-Christian Schuster