Johannes Brahms
* 7. Mai 1833
† 3. April 1897
Klavierquartett Nr.2, A-Dur, op.26
Komponiert: | Düsseldorf, 1855 (?) |
Widmung: | Elisabeth Rösing, geb. Reiffenberg (1797-1871) |
Uraufführung: | Wien, Musikverein (Tuchlauben), 29. November 1862
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Franz Dobyhal (1817-1894), Viola
Heinrich Röver (1827-1875), Violoncello
|
Erstausgabe: | Simrock, Bonn, Juni 1863 |
Wenn es auch keine eindeutigen Belege dafür gibt, so darf es doch als
wahrscheinlich gelten, daß Brahms den Plan zu seinem A-Dur-Quartett
etwa gleichzeitig mit den ersten Skizzen zu den beiden Schwesterwerken
in G-Moll (op.25) und C-Moll (op.60) entworfen hat. In jenen allzu oft
und meistens mit überbordender poetischer Freiheit beschworenen
Düsseldorfer Tagen der Jahre 1854 bis 1856 liegt jedenfalls der Keim für
die einzigartige Triade dieser Klavierquartette, die wohl den
Scheitelpunkt der gesamten Gattungsgeschichte markieren.
Die überaus komplizierte Entstehungsgeschichte der drei Werke läßt sich
in vielen Details nicht mehr rekonstruieren; fraglos bleibt aber, daß
die drei Quartette eine gedankliche Einheit bilden: So grundverschieden
Schicksal und Aussage dieser höchst individuellen Schöpfungen auch ist,
so ergänzen sie einander doch zu einem Organismus von bezwingender
Kohärenz. Neben den zwei Schwesterwerken, dem schon allein wegen des
mitreißenden Rondo alla zingarese populären G-moll-Quartett und dem
wertherisch-bekenntnishaften C-moll-Quartett, das in seiner unerhörten
Radikalität und Konsequenz einen Sonderfall nicht nur innerhalb der
Brahmsschen Kammermusik darstellt, hatte unser A-Dur-Quartett schon
immer einen recht schweren Stand – ein Factum, das sich in
Aufführungsstatistik und Rezeptionsgeschichte recht deutlich
widerspiegelt.
Max Kalbeck mutmaßte, die Anfänge des Opus 26 reichten in die Tage des
33. Niederrheinischen Musikfestes (Düsseldorf, Mai 1855) zurück: „Jenes
träumerische, süße Adagio, welches den zweiten Satz des Quartetts
bildet, scheint einer ganz bestimmten rheinischen Mainacht seine
Entstehung zu verdanken.“ Kalbecks ebenso rührende wie bilderreiche
Deutung des Satzes hätte den Komponisten wohl peinlich
berührt – womit aber nicht gesagt ist, daß sie am Kern der Sache völlig vorbeiginge.
Mit dem Joachim-Schüler Carl Bargheer (1831-1902), dem Bratschisten
Schulze und Julius Schmidt („Schlummer“-Schmidt) am Cello probierte
Brahms im Herbst 1857 in Detmold Klavierquartette aus – ob aber darunter
schon Teile unseres A-Dur-Quartettes waren, läßt sich nicht sagen. Erst
nachdem Brahms Detmold endgültig den Rücken gekehrt hatte und
vorübergehend in seiner Heimatstadt seßhaft geworden war, sollte das
Opus 26 aus dem Nebel der Vorgeschichte treten.
Am 13. Juli 1861 bezog Brahms in dem Hamburger Vorort Hamm (Schwarze
Straße 5) eine Wohnung im Hause von Elisabeth Rösing, der Witwe eines
Privatgelehrten; Frau Dr. Rösings Nichten, Betty und Marie Völckers, die
im Nachbarhaus wohnten, waren Stützen des von Brahms zwischen Juni 1859
und Mai 1861 geleiteten Hamburger Frauenchores gewesen. Zusammen mit
ihren Freundinnen Laura Garbe und Marie Reuter bildeten sie noch immer
jenes Vokalensemble, das Brahms zärtlich „mein Mädchenquartett“ nannte,
und dessen ständige Verfügbarkeit wohl nicht den geringsten Reiz des
neuen Domizils ausmachte. Bis zu Brahms´ Abreise nach Wien (September
1862) sollte Hamm seine Künstlerresidenz bleiben. Der damals noch ganz
ländliche Ort am linken Alsterufer war von der Stadt aus bequem zu
erreichen, und Brahms konnte den ihn besuchenden Freunden sein
verwaistes Zimmer im Elternhaus anbieten. Zu den Gästen, die Brahms hier
schon in den ersten Monaten seines Aufenthaltes besuchen sollten,
gehörten natürlich allen voran Clara Schumann aus Berlin und Joseph
Joachim aus Hannover – aber bald gesellten sich auch neue
Bekanntschaften hinzu, wie Hermann Levi, der aus Rotterdam anreiste (und
dessen innige Beziehung zu Brahms einen so unglücklichen Verlauf nehmen
sollte), oder der umtriebige Selmar Bagge aus Wien, den wir weiter
unten als Kritiker der Uraufführung des Opus 26 wiederfinden werden.
Unter den allerersten Arbeiten, die Brahms in seinem neuen Quartier zu
einem vorläufigen Abschluß brachte, müssen die ersten beiden Sätze von
Opus 25 und der 3. Satz unseres A-Dur-Quartetts gewesen sein – denn
Clara, die in einem Brief vom 15. Juli um eine Notensendung gebeten
hatte, konnte sich schon zwei Wochen später über diese Stücke auslassen:
„Ein Urteil kann ich natürlich nicht fällen, nur über den ersten
Eindruck zu Dir sprechen – wird Dir daran etwas liegen? Und doch habe
ich oft erfahren, daß der erste Eindruck mir blieb. […] Das Scherzo in
A dur kenne ich noch zu wenig, habe aber doch mit großem Interesse die
schönen Verwebungen des Themas verfolgt – das schlingt sich immer so
schön ineinander und entwickelt sich ebenso eines aus dem andern. Das 2.
Motiv erinnerte mich sehr an eine Stelle in Roberts Streichquartett
[op.41 Nr.3]
, nicht melodisch gerade, aber in der Anlage und Stimmung.
Das Trio ist recht frisch, und eigentümlich im Rhythmus, die 6 und 7
Takte frappierten mich erst nicht angenehm, aber daran gewöhnt man sich.
Ich glaube, mit diesem Stücke ist es wie mit manchem von Dir, das wird
einem erst recht lieb, wenn man es genau kennt, erst oft gehört hat.“
(Clara Schumann an Johannes Brahms, [Bad] Kreuznach, 29. Juli 1861)
Gegen Ende des Sommers muß das Quartett schon sehr weit gediehen gewesen sein;
Brahms´ Jugendfreund Albert Dietrich berichtet in seinen „Erinnerungen an Johannes Brahms“ über den September 1861:
„Nun machte ich die projectirte kleine Tour nach Hamburg, um Brahms zu
besuchen, und wohnte bei dessen Eltern in der Stadt, Fuhlentwiete, einer
engen alten Straße. Brahms selbst wohnte, um ruhiger arbeiten zu
können, äußerst freundlich in dem Vorort Hamm bei einer Frau Dr. Rösing.
Ihr widmete er eins seiner schönsten Werke, sein A-dur-Clavierquartett.
Er spielte mir gegen seine Gewohnheit aus den Skizzen vor, und ich
gewann dabei schon die Überzeugung, daß es ein hervorragend herrliches
Werk werden würde.“
In den letzten Septembertagen kann Brahms die Quartett-Zwillinge an
seinen „liebsten Jussuf“ Joachim nach Hannover schicken. Joachims erste
Reaktion (Brief vom 2. Oktober 1861) nimmt in mancher Hinsicht die seit
anderthalb Jahrhunderten im wesentlichen gleichbleibende Rezeption der
beiden Werke vorweg: Während er über das G-moll-Quartett sofort ins
Schwärmen gerät, bedenkt er op.26 gerade mit einem einzigen mageren
Satz. Doch es wäre nicht Joachim gewesen, wenn sich seine Perspektive
nach näherem Studium nicht grundlegend gewandelt hätte:
„Mit dem A-Dur-Quartett habe ich mich immer mehr befreundet. Der Ton
innigster Zartheit wechselt schön mit frischer Lebenslust. Manche
harmonische Besonderheit würde mir, hätte ich sie im raschen Fortgang
gleich gehört, statt sie mit dem Aug´ zu betrachten, nicht störend
gewesen sein! […] Herrlich ist das Adagio! Erst meint ich, der
Gegensatz zum E dur wäre nicht glücklich; aber als ich´s (selbst auf
meine stockende Weise) auf dem Klavier durchspielte, wurde ich doch ganz
warm dabei, und wenn dann der goldene Faden des Themas in die
unbestimmte Leidenschaft beruhigend hineinschimmert, so ist das gerade
ganz wunderschön. Einige schwere Griffe werden leicht in den
Streichinstrumenten zu ändern sein. Auch das Nachschlagen im Scherzo,
das sich bei der Ausführung unpraktisch erweisen dürfte. Schon im ersten
Satz des Schumannschen A-Dur-Quartetts, das doch viel langsamer geht,
klingt es unruhig. Aber wie rund und aus dem Ganzen ist sonst das
Scherzo geraten. Es gemahnt manchmal an letzten Beethoven, so
konzentriert ist der Bau, und eigentümlich die Wendung der Melodie.
Mache nur, daß ich bald alle Sachen höre.“
(Joseph Joachim an Johannes Brahms, Hannover, 15. Oktober 1861)
Daß der Schreiber hier treffsicher genau dieselbe Parallele zu Schumanns
op.41 Nr.3 zieht wie Clara in ihrem Brief zwei Monate zuvor, ist ein
schönes Beispiel für die Dichte und Tragfähigkeit des
Beziehungsgeflechtes, auf dem die Wahlverwandtschaft zwischen diesen
musikalischen Geistern beruhte.
Als Joachim dann Gelegenheit bekam, die beiden Werke nicht nur zu hören,
sondern auch zu spielen, entwickelte er – wie viele tiefer veranlagte
Musiker – eine ganz besondere Vorliebe für das A-Dur-Quartett; von einer
mit Brahms unternommenen Konzertreise wird er einige Jahre später
schreiben:
„Die beiden Quartette von ihm haben mich in Zürich und Aarau wieder
recht erwärmt; namentlich hat das A-dur soviel Zartheit und Verklärung
an vielen Stellen, daß man nur daran zu denken braucht, will man über
einzelne Rücksichtslosigkeiten des Freundes hinwegkommen. Wer so
schreibt, ist edel und gut.“
(Joseph Joachim an Clara Schumann, Basel, 4. November 1866)
Obwohl das Opus 25 schon am 16. November 1861 in Hamburg von Clara
Schumann (mit John Böie, F. Breyther und Louis Lee) aus der Taufe
gehoben werden konnte, mußte es sich ebenso wie seine A-Dur-Schwester in
den folgenden Monaten noch zahlreiche Änderungen und Verbesserungen
gefallen lassen – von diesem langwierigen und vielschichtigen Prozeß
geben die erhaltenen autographen Quellen einen ungefähren Begriff. Daß
aber damit der Läuterungsweg der Werke noch lange nicht beendet war,
erfährt man aus dem Schreiben, das die Übersendung der beiden vorläufig
abgeschlossenen Partituren an den Musikkritiker Adolf Schubring
(1817-1893) nach Dessau begleitete:
„Sehr geehrter Freund!
Ich weiß Sie nicht besser zu grüßen, was ich doch gerne wollte, als indem ich Ihnen einige Noten schicke.
Zwei Klavier-Quartette, denen ich die Stimmen beilege, obschon ich
glaube, Sie werden dieselben lieber lesen als nach dem schlechten
Manuskript spielen.
Ohne Egoismus geht´s freilich nicht, ich wünschte sehr zu hören, was die Quartette für Eindruck machen.
Und, bitte, grade heraus, denn es ist doch besser, wir zanken uns im Notfall einmal, als sagen kein rechtes Wort.
Leider muß ich auch wieder drängen um die Rücksendung, da ich die
Quartette gern zur Herausgabe vornähme; durch Feuer und Wasser müssen
sie noch gehörig, ehe sie eingehen können in dem Tempel Härtel oder
sonst wo.
Ich denke, in acht Tagen haben Sie sie vollauf genossen, und spätestens
lassen Sie Ihren rücksendenden, und wenn es Ihre Zeit und Lust erlaubt,
besprechenden Brief mir eine Geburtstagsfreude sein.“
(Johannes Brahms an Adolf Schubring, Hamm, 27. April 1862)
Der erwartete „besprechende Brief“ blieb sicher nicht aus – leider ist
er uns nicht erhalten geblieben. Daß aber Brahms, als er am 8. September
1862 von Hamburg nach Wien aufbrach, den Weg über Dessau nahm, wo er
mehrere Tage bei Schubring zu Gast blieb, könnte durchaus mit den
Quartetten zu tun haben. Jedenfalls bildeten die beiden Partituren einen
gewichtigen Teil des musikalischen Gepäcks, mit dem der junge Komponist
Mitte September in der Kaiserstadt eintraf. Wie dann Brahms Anfang
Oktober bei Julius Epstein vorsprach und –spielte, wie der perplexe
Pianist daraufhin einen Extrakt des jungen musikalischen Wiens – das
Hellmesberger-Quartett, den Verleger Johann Peter Gotthard(-Pazdirek),
Josef Gänsbacher und andere zu sich zu auf ein Brahms-Frühstück einlud,
bei dem die beiden Quartette prima vista musiziert wurden, das alles ist
schon längst unveräußerlicher Besitz der musikalischen Mythologie.
Natürlich war es nicht das A-Dur-Quartett, sondern das Rondo alla
zingarese, das den erhitzten Josef Hellmesberger die Geige aufs Bett
werfen ließ, um den verblüfften Komponisten mit den Worten „Das ist der
Erbe Beethovens!“ zu umarmen; aber schon der Zufall, daß diese legendäre
Matinee in eben jenem Hause (Schulerstraße 8/Domgasse 5) stattfand, das
als Mozarts „Figarohaus“ musikalisch vorbelastet war, tauchte diese
Episode in symbolträchtiges Licht, dessen Zauber sich vielleicht auch
die Protagonisten selbst nicht ganz zu entziehen vermochten. Jedenfalls
konnte Leopold Alexander Zellner schon am 12. Oktober in seinen
„Blättern für Theater, Musik und Kunst“ die bevorstehende Zusammenarbeit
des Hellmesberger-Quartetts mit dem Neuankömmling ebenso avisieren wie
die für den 7. Dezember anberaumte Erstaufführung der Brahmsschen
Serenade op.11 in den philharmonischen Gesellschaftskonzerten. Am 16.
November 1862, auf den Tag genau ein Jahr nach der Hamburger
Uraufführung des Werkes, trat Brahms dann mit dem G-Moll-Quartett
wirklich das erste Mal vor das Wiener Publikum. Knapp zwei Wochen später
(am 29. November) bescherte er diesem Publikum mit der Präsentation des
A-Dur-Quartetts das allererste Mal auch das Erlebnis einer
Brahms-Uraufführung – ein Ereignis, dessen zahlreiche Wiederholungen den
Mythos der „Musikstadt Wien“ über die folgenden fünfunddreißig Jahre
hinweg fortschreiben sollten.
Und wie quittierten die Wiener Kritiker diese historische Begebenheit?
Was immer man der Musikkritik im allgemeinen und jener in Wien im
besonderen vorgeworfen haben mag – daß sie diesen Moment unbeachtet
vorübergehen habe lassen, kann man beim schlechtesten Willen nicht
behaupten. Und weil es sich um einen ganz besonderen Augenblick im Leben
des Komponisten wie in der Musikgeschichte seiner zukünftigen
Heimatstadt handelt, mögen abschließend die (hier erstmals gesammelten)
Rezensionen in chronologischer Reihe folgen, etwa so, wie sie dem
erwartungsvollen Debutanten wohl vor Augen gekommen sein dürften.
Der anonyme Rezensent des „Fremdenblattes“, der in seiner Eigenschaft
als Korrespondent der einflußreichen Leipziger „Signale“ eine ihm selbst
offenbar durchaus bewußte Bedeutung hatte, reagierte am raschesten:
Herr Johannes Brahms, über dessen G-moll-Piano-Quartett wir uns letzthin
ausgesprochen, veranstaltete vorgestern Abends ein Konzert im
Musikvereinssaale, und hatte Gelegenheit, sich dem Publikum nach beiden
Richtungen seiner künstlerischen Thätigkeit, nach Seite seiner
Kompositionsweise und seines Klavierspiels zu zeigen. Sein Talent wurde
bei Gelegenheit des oben erwähnten G-moll-Quartettes bereits anerkannt;
wir können aber nicht verhehlen, daß uns das vorgestern gehörte
Piano-Quartett in A-dur in keiner Weise befriedigte, und wir danken es
dem Componisten, daß er die „Variationen und Fuge über ein Thema von
Händel“ darauf folgen ließ, wodurch es ihm gelungen, den ungünstigen
Eindruck des Quartetts wieder zu verwischen. Das Allegro (1. Satz)
enthält nichts als musikalische Phrasen; zu einem eigentlichen Thema
kommt es nicht. Das Adagio bringt zwar ein solches, allein es ist nicht
bedeutend genug, um zu fesseln, und verläuft nach Art modern
italienischer Canzonen in nichtssagenden Wendungen. Einen ursprünglich
frischen herzlichen Ton schlägt der Komponist hingegen im Scherzo an,
welcher Satz, sowohl was Erfindung, als was die Durchführung (diese
beruht großentheils auf einer geistreichen Imitation) betrifft, wirklich
hervorgehoben zu werden verdient. Auf das schöne Scherzo aber folgt zum
Abschlusse ein polkaartiges Allegro, welches, wie schon gesagt, einen
unangenehmen Eindruck hinterließ. Ganz anders verhält es sich mit den
genannten Variationen. Hier zeigte Brahms eine Fülle von Phantasie und
Erfindung. Als Klavierspieler besitzt Herr Brahms eine durchgebildete,
ausgeglichene, wenn auch nicht immense Technik. Äußerer Glanz,
bestechende Eigenschaften einer außerordentlichen Bravour fehlen ihm,
aber sein Spiel ist durchaus der Ausdruck echter Empfindung. Er spielte
den Clavierpart im A dur-Quartette, in welchem er von den Herren
Hellmesberger, Dobyhal und Röver auf das Vortrefflichste unterstützt
wurde. […]
Fremdenblatt, XVI. Jahrgang, Nr.329, Wien, 1.12.1862, unpag. S.5,
stark gekürzt in: Signale für die musikalische Welt, Zwanzigster Jahrgang, Nr.50, Leipzig, 4.12.1862, S.689
Zwei Tage später ließ sich Eduard Hanslick (1825-1904), der sich später
gerne als Brahms-Apologet der allerersten Stunde fühlte und gerierte,
ein erstes Mal zum Thema Brahms vernehmen; über unsere Uraufführung
schreibt er:
Nicht so günstig wirkte das Clavierquartett in A-dur. Die Schattenseiten
von Brahms´ Schaffen treten darin sprechender hervor. Fürs erste sind
die Themen nicht bedeutend. Brahms liebt es bei der Wahl seiner Themen,
deren contrapunktische Verwendbarkeit weit über ihren selbständigen,
inneren Gehalt zu schätzen. Die Themen des Quartetts klingen trocken und
nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle geistvoller
Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im Großen ist ohne
bedeutende Themen unmöglich. Sodann vermissen wir den großen,
einheitlichen Zug der Entwicklung. Wir betrachten ein fortwährendes
Anknüpfen und Abreißen, ein Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne
Erfüllung. In jedem Satz finden wir feine Episoden-Motive, aber keines,
das im Stande wäre, ein ganzes Stück zu tragen. Mit dem Quartett nur
vom einmaligen Hören bekannt, vermögen wir natürlich nur den ersten
Eindruck, nicht das Werk selbst zu schildern. Ohne Zweifel würde ein
genaueres Studium hier wie bei Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes
ans Licht bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit kaum viel
gewonnen. Diese verlangt plastisches Hervortreten der Melodien, große,
nach einem Ziel treibende Steigerung und Entwicklung. Das
Clavierquartett und andere neuere Sachen von Brahms mahnen uns
bedenklich an Schumann´s letzte Periode, gerade wie uns Brahms´ Anfänge
an Schumann´s erste Periode erinnern. Nur zu der goldklaren, reifen
Mittelzeit des echten Schumann bietet uns sein Lieblingsschüler kein
Seitenstück. […]
Ed[uard] H[anslick] in: Die Presse, 15. Jahrgang, Nr.331, Wien, 3.12.1862, 2. unpag. S.
Am Vortag von Brahms´ philharmonischem Début erschienen zwei weitere
Kritiken der nun schon eine Woche zurückliegenden Premiere. Die erste
stammt aus der Feder des Cellisten, Komponisten und Journalisten Selmar
Bagge (1823-1896), den wir schon als Brahmspilger in Hamm getroffen
haben; Bagge lebte von 1842 bis 1863 in Wien, wo er sich, nachdem er
mehrere Jahre hindurch neben seinem eigenen Lehrer Simon Sechter als
Kompositionslehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde
gewirkt hatte, in mehreren publizistischen Anläufen als Musikkritiker
etablierte:
Das Concert, welches Herr Brahms heute vor acht Tagen gab, versammelte
ein nicht ganz vollzähliges aber wie es schien, den besten Musikkreisen
angehöriges Publikum, und die Stimmung desselben war eine immer
animirtere. Man schien allmälig sich mit der neuen Erscheinung zu
befreunden und sich an ihr zu erwärmen. Das Clavierquartett in A-dur,
eine durchweg verständliche, fein und interessant gearbeitete,
liebenswürdige Composition fand sehr vielen Beifall, namentlich die
beiden mittleren Sätze. Ob es werthvoller sei, als das kürzlich
gespielte in G-moll wollen wir vorläufig nicht entscheiden, –
eingänglicher, ansprechender ist es unbedingt. Der Componist scheint auf
jenes in G-moll mehr Werth zu legen, da er es zu seinem ersten Debut in
Wien wählte, klüger hätte er gewiß gethan umgekehrt zu verfahren. Doch
charakterisirt es gerade den wirklichen Künstler sich von solchen
Erwägungen nicht leiten zu lassen, oder überhaupt über die äußere
Wirksamkeit nicht nachzudenken. […]
Selmar Bagge in: Deutsche Musik-Zeitung, III. Jahrgang, Nr.49, Wien, 6.12.1862, S.389
Das erste öffentliche Auftreten Joh. Brahms´ in Wien war, nach dem Rufe,
der ihm voranging, und nach den Proben, die man bereits von seinem
Talente kennen gelernt hatte, für musikalische Kreise von besonderem
Interesse. In dem ersten von ihm am 29. November d. J. im
Musikvereinssaale veranstalteten Konzerte hat er sich durch den Vortrag
der Hauptstimme eines Quartetts für Piano, Violin, Viola und Cello
(A-dur) und einer Partie Variazionen nebst Fuge über ein Händel´sches
Thema für das Klavier allein, (beide Werke von eigener Komposizion) in
seiner Doppel-Eigenschaft als Tonsetzer und Pianist vorgestellt.
Bei dem Anhören des berührten Quartetts tritt uns gleich im Beginne des
ersten Satzes eine Tonsprache entgegen, die uns in eine aus dem
Alltäglichen emporhebende Stimmung versetzt und unsere Aufmerksamkeit
fesselt; wir fühlen das, was man „Geist“ nennt, über uns ergehen. Dieser
Geist trägt allerdings weniger das Gepräge einer schöpferischen
Begeisterung als jenes einer feinen Bildung an sich und regt mehr an,
als er hinreißt; allein da ihm auch eine beachtenswerthe musikalische
Gestaltungskraft zur Seite steht, so verliert er sich nicht so leicht in
unzusammenfaßbar verschwommene Elemente und ringt nicht auf Kosten
jedes formellen Reizes nach einem Anscheine von Bedeutung, wie es bei
Neuern so häufig der Fall ist.
Wohl folgt auch Brahms im Wesentlichen der modernen Richtung, und die
pathologischen Eindrücke walten daher vor, so wie er auch von geistigen
Ausschweifungen nicht frei ist; allein eben so unverkennbar ist es, daß
es sich an klassischen Vorbildern, namentlich an Beethoven,
herangebildet hat. Wenn er auch die Fäden nicht in ein vollkommen
durchsichtiges, sich mit organischer Triebkraft entfaltendes Ganze zu
verweben vermag, so verliert er doch nie ganz den leitenden
Grundgedanken und weiß ihn wiederholt in anziehenden Wendungen und
Umgestaltungen zum Vorschein zu bringen.
Nur dann, wenn die Stimmung in der Entwicklung der Seelenzustände sich
zur Leidenschaft steigert, dann ist auch für ihn die Klippe da, an der
schon so Viele gescheitert sind; denn nur den Höchstbegabten ist es
gegeben, auch im Sturme der Leidenschaft stets dem Gesetze des Schönen
treu zu bleiben, nie dem Ohre des Hörers mißfällig zu werden.
Im Adagio, welches die meiste Theilnahme erregte, ist die Behandlung der
Streichinstrumente gegenüber der Hauptstimme eine äußerst wirksame. Der
eindringenden Sprache dieser Stimme, die uns gewaltsame innere
Bewegungen enthüllt, geht die schöne Harmonie der Streichinstrumente wie
mit flehenden Trostesklängen versöhnend zur Seite, und nur Schade ist
es, daß dann, als die Stimmung sich bis zum Gewitter steigert, dieser
Höhepunkt der Schilderung mehr auf äußere Effekte angelegt ist und die
versöhnenden Elemente selbst grollend mit hinabsinken in das Dunkel. Dem
Scherzo, in welchem das der Weise des Komponisten eigenthümliche Pathos
ebenfalls durchklingt, wäre um des Gegensatzes willen ein etwas
frischerer Humor zu wünschen; doch ist es schön gearbeitet und hat einen
gefälligen lebendigen Schritt, so wie auch der letzte Satz durch innere
Lebendigkeit und manche überraschende Züge in der Behandlung sich
auszeichnet. […]
H—l in: Recensionen und Mittheilungen über Theater, Musik und bildende Kunst, Achter Jahrgang, Nr.49, Wien, 6.12.1862, S.781-82
Die letzten beiden Rezensionen erschienen drei Tage nach der
philharmonischen Erstaufführung der Serenade op.11, und dementsprechend
fassen sie die Eindrücke aller drei Brahms-Konzerte dieser Wochen
zusammen. Der wie der Brahms-„Entdecker“ Julius Epstein aus Zagreb
stammende Leopold Alexander Zellner (1823-1894), der 1868
Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde werden sollte, macht
aus seiner Skepsis gegenüber dem Komponisten Brahms (der eine
ausgeprägte Wertschätzung des Pianisten gegenüberstand) kein Hehl:
Begonnen wurde das Concert mit einer Serenade für Orchester in sechs
Sätzen [op.11]. Auch diese Composition, so wirksame Einzelheiten sie
immer aufweist (sehr schön sind der erste und zweite Satz, dann der
erste Menuett), wollte gleich den bisher gehörten dieses Tonsetzers
dennoch keinen lebhaften Eindruck hervorbringen. Wir glauben dem
wesentlichen Grunde dieser Erscheinung auf die Spur gekommen zu sein.
Brahms componirt zu voll und zu breitspurig. Seine Sachen sind zu wenig
durchsichtig und zu wenig concis in der Form. Man könnte ihm vielleicht
mit mehr Recht, als es einst ein Potentat gegenüber Mozart that,
bemerken: zu viel Noten, Freund. […]
Jene nur theilweise Befriedigung, welche die Serenade gewährte, empfing
man auch von dem zweiten Quartette (A-dur) des Hrn. Brahms, welches er
im Vereine mit Hrn. Hellmesberger und Genossen in seinem eigenen
Concerte zur Aufführung brachte. Die beiden ersten Sätze sind frisch und
– so weit dieß bei der Art dieses Componisten: jeden nur übrigen Fleck
der Partitur möglichst dicht mit Notenköpfen zu besäen, sein kann – auch
durchsichtig. Reminiscenzen dagegen, zumal an Schubert, lassen sich
manche vernehmen.. Die beiden letzten Sätze sind – gemacht und die
Längen werden empfindlich. Im Ganzen indessen war es nicht
uninteressant, dieses Werk kennen zu lernen.
[Leopold Alexander Zellner in:] Blätter für Theater, Musik und Kunst, VIII. Jahrgang, Nr.99, Wien, 10.12.1862, S.398
Das letzt Wort soll aber der Wiener Schumann-Apostel Karl Debrois van
Bruyck (1828-1902) haben. Der aus einer flämischen Adelsfamilie
stammende, in Brünn geborene und in Wien aufgewachsene van Bruyck, der
einige Jahre später (1867) mit einer sehr bemerkenswerten Analyse des
Wohltemperierten Klaviers an die Öffentlichkeit trat, wurde wegen seines
„trockenen“, „gelehrten“ Stils ebenso oft getadelt wie belächelt; es
ist aber gar nicht schwer, hinter der predigerhaften Fassade dieser
Besprechung eine wirklich empfindsame Seele und ein offenes Ohr
auszumachen. Von den meisten der vorangegangenen „Beurteilungen“
unterscheidet sich dieser journalistische Segensspruch jedenfalls gar
nicht unvorteilhaft:
Herr Johannes Brahms hat nun zu drei verschiedenen Malen Gelegenheit
gehabt, sein Verhältnis zu dem Publikum Wiens zu prüfen und eine
Erfahrung zu sammeln, welche für den Künstler immer einen gewissen Werth
hat. Zwar darf für diesen weder Beifall noch Mißfall, weder
Enthusiasmus noch Gleichgiltigkeit jemals absolute Bedeutung haben, aber
es wird stets für ihn von einem gewissen Interesse sein, sich über sein
Verhältniß zur Welt zu orientiren. Daß das Quartett [op.25], mit
welchem Herr Brahms sich zuerst in einer Hellmesberger´schen Soirée
einführte, im Ganzen nur mäßigen Anklang fand, hat uns nicht sehr
überrascht, dagegen sind wir verwundert, daß dasselbe Schicksal einem
Orchesterwerk zu Theil ward, einer Art Suite (der Komponist nennt es
Serenade [op.11]), welche in dem zweiten Gesellschaftskonzert zur
Aufführung kam und als eine durchaus schöne, interessante, geistvolle
Arbeit wohl eine wärmere Aufnahme verdient hätte. Einigermaßen für
solche Lauheit entschädigt wurde der junge Künstler in einem Konzert,
welches er selbst veranstaltete. Zwar vermochte sich ein
Pianoforte-Quartett [op.26], welches er in diesem produzirte, auch nur
getheilte Gunst zu erobern, dagegen errang er sich mit einer Serie von
ihm über ein Händel´sches Thema komponirter Variationen [op.24]
einstimmigen, lebhaften Beifall; und mochte auch an diesem Beifall das
eminente, brillante Spiel des Komponisten einigen Antheil haben (welches
zu entfalten ihm sein Werk reichen Anlaß bot), so glauben wir doch die
bessere Hälfte desselben auf Rechnung der Komposition selbst setzen zu
dürfen. […]
Brahms ist unzweifelhaft – wir haben es vor Jahren schon ausgesprochen –
eine genialische, d.h. aus sich selbst schöpfende Natur, eine wirklich
künstlerische Individualität, und das will schon etwas heißen. Er
besitzt Phantasie, Geist und Gemüth, für den Ausdruck des Pathetischen
wie Humoristischen stehen ihm gleich treffende Töne zu Gebote, und seine
neuesten Produktionen zeigen uns, zu einem wie hohen Grad von Feinheit
er insbesondere auch sein formelles Talent auszubilden gelernt hat.Wir
haben also für seine weitere Entwicklung keinen anderen Wunsch, als daß
er nicht auf die Ausbildung gerade des letzteren die höchste Energie
seines geistigen Vermögens wenden, sondern daß es ihm Gelingen möge,
dieses mit einem immer höheren substanziellen Gehalt zu erfüllen und
sich, möglichst fern vom Element des Phantastischen und Nebulosen, mit
seinem Denken und Empfinden in die Region des rein Menschlichen zu
versenken, da, was er sich so innerlich erarbeitet, uns gewiß auch voll
und warm aus seinen Tönen entgegenklingen wird. Dem Adel seiner Natur
könnte ein solcher Flug bei ausdauernder Kraft und Selbstverleugnung und
einiger Gunst der Verhältnisse wohl gelingen. […]
[Karl Debrois] v[an] Br[uyck] in: Wiener Zeitung – Abendblatt, Nr.283, Wien, 10.12.1862, p.1130
Wenn man bei der Lektüre dieser gesammelten kritischen Ergüsse als
Nachgeborener ein, je nach Temperament, belustigtes oder verärgertes
Kopfschütteln kaum unterdrücken kann, so wird man doch auch neidlos
anerkennen müssen, daß das Echo zumindest seinem Ausmaße nach in einem
recht ausgewogenen Verhältnis zu seinem Anlaß stand; und von welcher
medialen Äußerung der Gegenwart ließe sich das noch behaupten?
© by Claus-Christian Schuster