Strauss: Klavierquartett Es-Dur op.13

Richard Strauss

* 01. Juni 1864
† 08. September 1949

Klavierquartett Es-Dur op.13

Komponiert:München, Anfang Oktober 1884 – 1. Jänner 1885
Widmung:Georg II., Herzog von Sachsen-Meiningen
Uraufführung:Weimar, 8. Dezember 1885
Richard Strauss, Klavier
Karel (Carl) Halir (1859-1909), Violine
N. Müller, Viola
Hugo Dechert (1860-1923), Violoncello
Erstausgabe:Joseph Aibl, München, März 1886

Am 3. Oktober 1884 schrieb der Berliner Tonkünstlerverein einen Kompositionswettbewerb aus; der Preis war mit 300 Mark dotiert und sollte für ein Klavierquartett vergeben werden. Die Jury bestand aus Heinrich Dorn (Berlin), Joseph Rheinberger (München) und Franz Wüllner (Köln). Es ist nicht uninteressant, die Beurteilungen des von Strauss unter dem Losungswort „Die Tonkunst, die viel beredte“ eingesandte Werk durch die verschiedenen Juroren zu vergleichen: der Nestor der Jury, der achtzigjährige Dorn, reihte es an die 8. Stelle; der beharrliche Anti-Wagnerianer Rheinberger, damals ein Mittvierziger, setzte es auf den 2. Platz, und nur der etwas ältere Brahms-Intimus Wüllner erkannte dem Werk den 1. Preis zu. Offensichtlich war aber die Meinung der Jury über die anderen eingesandten Werke noch uneinheitlicher, so daß Strauss schließlich doch den Sieg davontrug. Der Uraufführung in Weimar mit Mitgliedern des Halir-Quartetts folgten in kurzen Abständen Aufführungen in Meiningen und Köln, wo sich Wüllner nachhaltig für das Werk einsetzte.

Richard Strauss, der sich im Alter gern als der Vollender und unwiderruflich Letzte einer Jahrhunderte umspannenden Epoche der Musikgeschichte stilisierte ( – in den „Metamorphosen“ findet diese Selbsteinschätzung ihren wohl beredtesten und überzeugendsten Ausdruck – ), hat sich mit dem Klavierquartett op.13 schon als Zwanzigjähriger ganz bewußt in eine große Traditionsreihe eingeordnet. Die Beethoven-Tonart c-moll ist nicht zufällig auch die von Brahms‘ letztem Klavierquartett; und wenn Brahms rückblickend in seinem C-moll-Quartett „eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack mit gelber Weste“ (Brief an Theodor Billroth, 23. Oktober 1874), so hatte der junge Strauss zwar nicht gerade ein Werther-Erlebnis hinter sich, aber doch eine recht aufwühlende, in den Briefen scherzhaft camouflierte Beziehung zu der verharmlosend als „Pflegemama“ titulierten Grethe Begas. Diese reizende junge Dame war die Frau des wesentlich älteren Bildhauers Reinhold Begas. Strauss hatte sie in Berlin kennengelernt, wo er den Winter 1883/84 verbracht hatte. Verkürzend könnte man wohl sagen, daß sich die beiden c-moll-Klavierquartette von Brahms und Strauss ziemlich genauso zueinander verhalten, wie Brahms‘ Clara-Erlebnis zum Berlin-Abenteuer des neunzehnjährigen Strauss: dort tiefstes, das Innerste berührendes Erschauern, hier jungenhafte Faszination ganz allgemeiner Art: von der Großstadt, der Eleganz der Gesellschaft, dem Liebreiz der Frau.

Das nach der Rückkehr aus Berlin komponierte Klavierquartett wurde und wird dennoch fast immer als ein „brahmsisches“ Werk empfunden und beschrieben; die Parallelen erschöpfen sich aber in Wirklichkeit in einigen Eigenheiten von Faktur und formalem Verfahren. Strauss‘ Brahms-Verehrung war widerstrebend und nur von kurzer Dauer: nachdem er unmittelbar nach der ersten Begegnung mit der (erst wenige Wochen zuvor in Wien uraufgeführten) III. Symphonie mit burschikoser Sicherheit festhält, das Werk sei „miserabel und unklar instrumentiert“, das „Adagio“ (womit wohl das Andante gemeint ist) gar „öde und gedankenarm“ (Brief an den Freund Ludwig Thuille, 6.1.1884), ändert er nach mehrmaligem Anhören und gründlichem Studium seine Meinung ganz radikal: jetzt ist die Symphonie „klar in Form und Aufbau, famos gearbeitet… hat einen Zug und Schwung, der was Beethoven’sches hat… ganz herrlich in der Erfindung“ (Brief an den Vater, Ende Jänner 1884), und ist schließlich nicht nur Brahms‘ „schönste Sinfonie, sondern wohl die bedeutendste, die jetzt geschrieben worden ist“ (an Ludwig Thuille, 8.3.1884). Als Strauss aber dann im Oktober des Folgejahres in Meiningen Alexander Ritter kennenlernt und ganz in den Bannkreis dieses militantesten Wagnerianers gerät, ist es mit seiner Brahms-Begeisterung bald zu Ende. Bis ins hohe Alter waren Brahms‘ Symphonien für Strauss fortan nur noch „schlecht instrumentierte Klaviersonaten“.
Somit fällt die Komposition des Klavierquartetts in eine ganz kurze Phase des „Brahminentums“ im Leben des Komponisten; und natürlich kann man das dem Werk, bei aller grundlegenden Verschiedenheit der künstlerischen Intention und der kompositorischen Meisterschaft, sehr wohl anhören und ansehen.

Der erste Satz (Allegro, c-moll) lehnt sich in seinem Incipit äußerlich an den Beginn von Brahms‘ Klavierquartett g-moll op.25 an. Auch die raffinierte Technik der Entwicklung des Seitengedankens aus dem Nachsatz des Hauptthemas ist Brahms abgeschaut; aber schon die emphatische Schlußgruppe ist ureigenster und unverwechselbarer Strauss: die jubelnden Nonensprünge über den rauschenden C-Dur-Kaskaden nehmen schon die Welt der symphonischen Dichtungen vorweg. Die knappe eigentliche Durchführung kreist um die weit entfernte Tonart fis-moll. Auf eine sehr originell eingeleitete und erweiterte Reprise folgt eine ungewöhnlich ausgedehnte Coda, in der die Hauptmotive noch einmal kontrapunktisch zerstäubt werden. Mit einer trotzig-stolzen Geste schließt der Satz in C-Dur.

Das Scherzo(Presto, Es-Dur) ist ein humoriges „Kabinettstück“, das auf recht bajuwarische Weise derben Witz und zarte Ländlertöne (im H-Dur-Trio) vereint. Die sichere Hand, mit der hier die Effekte verteilt sind, verrät den künftigen Musikdramatiker.

Im folgenden Andante (f-moll/F-Dur) ist der Einfluß der langsamen Sätze aus den Brahmsschen Klavierquartetten ganz deutlich spürbar, obwohl der Ton um einiges süß(lich)er ist als bei Brahms. Ganz unüberhörbar sind die „Rosenkavalier“-Vorausklänge am Schluß der Reprise (der Satz hat die auch von Schubert häufig verwendete zweiteilige Form ohne Durchführung oder Mittelteil).

Das Finale (Vivace, c-moll) läßt einen gleich zu Beginn an Schumann denken: der synkopierte Einsatz auf der neapolitanischen Sext, der markige und unbeugsame Rhythmus – all das ist ganz den Schumannschen Archetypen nachempfunden. Formal ist der Satz eine recht eigenwillige Fortsetzung der seit Schubert beliebten Mischformen zwischen Rondo und Sonatenhauptsatz. Auch hier ist die Treffsicherheit, mit der Form, Farbe und Charakter behandelt werden, ganz erstaunlich: das Feld für die symphonischen Dichtungen ist schon bestellt.

Der Münchner Verleger Eugen Spitzweg, der Neffe des Malers und tatkräftige Förderer des jungen Meisters, verlegte das Werk 1886; die Widmung an Herzog Georg II., kurz bevor Strauss die Meininger Hofkapelle verließ, um nach München zurückzukehren, sollte wohl das trotz des Abschieds ungetrübte Verhältnis zwischen dem Komponisten und seinem fürstlichen Mäzen dokumentieren.

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello, Es-Dur, op.47

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncello, Es-Dur, op.47

Komponiert:Leipzig, , 24. Oktober – 26. November 1842
Widmung:Graf Mateusz Wielhorski (1794-1866)
Uraufführung:Leipzig, Gewandhaus, 8. Dezember 1844
Clara Schumann (1819-1896), Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Niels Wilhelm Gade (1817-1890), Viola
Carl Wittmann (1810-1860), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, Februar 1845

Wenige Wochen vor dem Ende seiner schöpferischen Laufbahn schrieb Schumann dem jungen Komponisten Ludwig Meinardus (1827-1896), der ihm einige Werke zur Begutachtung geschickt hatte:

„Sie müssen´s vor allem in Erfindung schöner und neuer Melodien suchen. Das Combinatorische darf nur das Zufällige sein. […] Wenn man in freien Formen schaffen will so muß man erst die gebundenen, für alle Zeiten gültigen beherrschen. Es würde Ihnen gewiß besser sein, Sie schrieben Sonaten nach alter Formenweise, als daß Sie sich im Zwanglosen ergehen. Dann machen Sie sich auch vom subjectiven Clavier los. Chor und Orchester heben uns über uns selbst weg.“
(28. Dezember 1853)

Hier spricht nicht etwa ein enttäuschter Revolutionär, der sich in seiner Krankheit zum ängstlichen Bewahrer des Althergebrachten gewandelt hat – auch wenn eine bestimmte Art der Musikgeschichtsschreibung, der das Einmaleins von Sozialgeschichte und Pathologie zur Erklärung des Genies ausreichend erscheint, uns das einzureden versucht. Die Warnung vor den Verlockungen des „Zwanglosen“ und des „subjectiven Claviers“ steht in völligem Einklang mit dem künstlerischen Credo, das Schumanns Entwicklung in seinen produktivsten Jahren begleitet hat. Was er hier an einen jungen (und als gefährdet erkannten) Kollegen weiterzugeben versucht, ist eine Lektion, die ihn selbst – ohne viele Worte – sein Freund Mendelssohn gelehrt hatte.
1838, unmittelbar nach Entstehung der Mendelssohnschen Streichquartett-Trias (op.44), finden wir Schumann als Organisator und aufmerksamsten Zuhörer von „Quartett-Morgen“ unter Leitung seines Freundes Ferdinand David. Bis zu diesem Zeitpunkt umfaßt sein Werkkatalog (mit den vernachlässigbaren Ausnahmen eines Symphoniefragments [1832/33] und eines unausgearbeitet gebliebenen Klavierquartetts [1829]) ausschließlich Klavierwerke und Lieder. Der Kontrast zum Werk des bewunderten Freundes („…der ist doch der beste Musiker, den die Welt jetzt hat…“) könnte nicht größer sein: Es gibt kaum ein wichtiges Genre, in dem Mendelssohn zu diesem Zeitpunkt nicht schon Bedeutendes geleistet hätte.
Das Vorbild Mendelssohns ermutigt Schumann, die Herausforderung, die ihm sein eigenes Genie bedeutet, anzunehmen, sich von den Fesseln des „subjectiven Claviers“ zu befreien und einen langen „Marsch durch die Institutionen“ der Musik anzutreten. Der erste Sieg auf diesem Weg ist die Vollendung der Ersten Symphonie (B-Dur, op.38, 1841). Aber bevor er auf der Marschroute, die er später Meinardus anempfehlen wird, fortschreitet und mit „Das Paradies und die Peri“ (op.50, 1843) auch sein erstes Chor-Orchesterwerk vollendet, schenkt er das Schaffensjahr 1842 einem Genre, für das er spätestens seit der Bekanntschaft mit Mendelssohns Streichquartetten und den reichen Eindrücken der „Quartett-Morgen“ eine ganz besondere Hochachtung hat: der Kammermusik.

Folgerichtig beginnt dieses Schumannsche Kammermusikjahr mit drei Felix Mendelssohn gewidmeten Streichquartetten (Juni/Juli 1842), mit denen er Clara am Abend ihres dreiundzwanzigsten Geburtstages überrascht. Am 29. September 1842 konnte auch der Widmungsträger die Quartette hören. Unter den Gästen waren neben Mendelssohn und Schumann auch die Komponistenkollegen Johannes Verhulst (1816-1891) und Moriz Hauptmann (1792-1868):

„Bei David habe ich drei Quartette von Schumann gehört, die ersten, die er geschrieben, die mir sehr gefallen, ja mich in Verwunderung über sein Talent gesetzt haben, das ich mir bei weitem nicht so bedeutend vorgestellt habe nach den Claviersachen, die ich früher von ihm kennen lernte, die gar so aphoristisch und brockenhaft waren und sich in bloßer Sonderbarkeit gefielen.“
(Moritz Hauptmann an Louis Spohr, 2. Oktober 1842)

Wenn Schumann seine eigene Vergangenheit auch nicht ganz so düster sah, so lag doch auch für ihn die Verheißung in der Zukunft, am Ende des eben begonnenen Weges:

„Am zurückgelegten Weg freut mich manches; es ist aber nichts gegen die Aussichten, die ich sich mir in einzelnen schönen Stunden in der Ferne eröffnen sehe. Wissen Sie mein morgen- und abendliches Künstlergebet? Deutsche Oper heißt es. Da ist zu wirken. Aber auch die Symphonie soll nicht vergessen werden.“
(Brief an Carl Koßmaly, 1. September 1842)

Natürlich sind die kammermusikalischen Erkundungen und Entdeckungen dieser Monate weit mehr als bloße Vorbereitung zur Erreichung des erträumten Zieles, aber die Sehnsucht nach solcher Erfüllung schwingt doch in jedem dieser Werke mit.
Mit dem optimistischen Ungestüm eines jugendlichen Eroberers nimmt Schumann eine Aufgabe nach der anderen in Angriff. Die Systematik seines Vorgehens ist einleuchtend: die in den Streichquartetten gewonnenen Erfahrungen werden sogleich auf ein Werk angewendet, in dem er dem Streichquartett das Klavier gegenüberstellen kann. Und schon eine Woche nach der Vollendung des Klavierquintetts op. 44 finden wir ihn über einem neuen Werk: Mit der Komposition eines Klavierquartetts, das er am 24. Oktober 1842 beginnt, beschreitet er den Weg einer stufenweisen Reduktion, der ihn – mit den für seine Schaffensweise typischen großen Unterbrechungen – über die Klaviertrios bis zu den drei Violinsonaten seiner letzten Schaffensjahre führen wird.

„Es soll aber auch immer besser werden und mir ist bei jedem neuen Werke, als müßte ich wieder von vorne anfangen.“, schreibt er zwischen der Vollendung des Quintetts und dem Beginn der Arbeit am Quartett an den treuen Ferdinand David. Daß sich in diesem „Immer-wieder-von-vorne-Anfangen“ eines der Geheimnisse der Unsterblichkeit verbirgt, weiß Schumann genau. Es ist seine stärkste Waffe gegen die Versuchungen der Routine.
Am 26. November ist das Quartett vollendet. Es soll für Clara zu Weihnachten am Gabentisch liegen, und ein Klaviertrio soll es begleiten. Doch über der Arbeit an diesem (den späteren Fantasiestücken op.88) erleidet Robert eine Nervenschwäche und muß die Arbeit unterbrechen.
In nur wenig mehr als sechs Monaten hat er, immer das fernste und höchste Ziel vor Augen, seine ersten sechs Kammermusikwerke vollendet – eines der vielen großen Wunder der Musikgeschichte.

Anders als Mendelssohn muß Schumann auf die Uraufführung und Veröffentlichung seiner neuen Werke meistens einige Zeit warten. In der Zwischenzeit versucht er sich mitunter, ein wenig unbeholfen, auch als sein eigener Agent:

„Ich habe ein Quintett geschrieben; das sollte meine Frau vielleicht auch in B[erlin] spielen; ich würde mich freuen, wenn Sie es hörten – es macht eine recht frische Wirkung. Auch ein Quartett für Pianoforte und ein Trio hab´ ich fertig – aber noch nicht gehört. Bis zu unserer Ankunft in Berlin würde ich aber alles in Ordnung bringen, damit Sie´s kennen lernten – ich weiß ja, Sie lieben manches an meiner Musik – drum nennen Sie mich nicht unbescheiden.“
(an Franz Liszt, 3. Jänner 1843)

Aber erst am 5. April 1843 kann Schumann das Quartett das erste Mal im Rahmen einer privaten Leseprobe hören: „Es nimmt sich recht effectvoll aus, ich glaube effectvoller als das Quintett. Doch darüber steht mir kein Urtheil zu.“, ist seine etwas überraschende Reaktion. „Effectvoll“? Das war doch wohl nicht, was ihm als letztes Ziel vorschwebte?
Anders als der vom Publikum verwöhnte Mendelssohn ist Schumann auf der ständigen, fast ängstlichen Suche nach einem breiteren Erfolg, und der – das weiß er nur zu gut – hängt vom „Effect“ ab. Ebenso wenig wie Mendelssohn ist er bereit, das Eigenleben seiner Werke dieser äußeren Wirkung unterzuordnen, aber anders als Mendelssohn vermag er oft nicht abzuschätzen, was denn schließlich wirklich „Effect“ machen wird, und was auch ganz ohne diese nicht unwillkommene Nebenerscheinung bestehen kann und wird. Natürlich hätte Mendelssohn ihm voraussagen können, daß das Quintett viel populärer werden würde als das Quartett. Aber warum sollte man das bedauern? Daß das Quartett im Schatten des Quintetts steht, ist unbestreitbar – aber es fühlt sich dort wohl, und der Schatten tut ihm gut. Man muß sich nur die ersten Takte der beiden Werke ansehen, um zu sehen, daß Schumann selbst das sehr gut gewußt haben muß.

Die extreme Gegensätzlichkeit der beiden Werke wurde auch von der zeitgenössischen Kritik bemerkt und bestaunt:
„[…] Das Quartett ist wieder von höchst origineller Erfindung und zeugt von der Productivität des Componisten. Es ist gleichzeitig mit oben erwähntem Quintett componirt, und dennoch ist die Form und der Inhalt, obgleich die Tonarten dieselben, so wesentlich von jenem verschieden, daß man glauben könnte, es liege zwischen der Geburt des ersten und des zweiten wenigstens ein Lustrum.“
(Monatsschrift für Dramatik, Theater und Musik. Berlin, 1847)

Dem in seiner zupackenden Direktheit mitreißenden Anfang des Quintetts steht der gänzlich anders geartete des Quartetts gegenüber: Wie aus Nebelschleiern entsteht in wenigen einleitenden Takten (Sostenuto assai) die Kontur einer ruhenden Tonlandschaft, die sich mit dem Eintritt des Allegro ma non troppo unvermittelt ins Morgenlicht getaucht und von jugendlicher Bewegung durchpulst findet. Mit resoluten Skalen und und fanfarenartig gestoßenen Akkordzerlegungen scheint der Seitensatz einen derben Kontrast zu diesem schwärmerischen Beginn zu bilden, doch schon nach wenigen Takten tritt dieses neue Material spielerisch in den Hintergrund und macht Platz für ein unerwartetes Choralzitat („Wer nur den lieben Gott läßt walten“). Im weiteren Verlauf gewinnt der Seitengedanke immer mehr an Energie, bis schließlich seine herrische Vergrößerung das Ende der Exposition markiert. An der Schwelle zur Durchführung begegnet uns wieder das Sostenuto des Anfangs; doch das Naturphänomen, das uns hier erwartet, ist ein ganz anderes als zu Beginn. Mit relativ geringen Veränderungen (d-moll statt Es-Dur; hart akzentuierte anstelle von weich arpeggierten Akkorden) entfesselt Schumann in der vorher so einladenden Landschaft ein faszinierendes Unwetter, in dessen Verlauf wir so ziemlich in allen erdenklichen Tonarten vergeblich Schutz suchen müssen, bis uns endlich – unter nur langsam sich entfernendem Donnergrollen – das heimatliche Es-Dur wieder aufnimmt. Am Ende der Reprise versinkt die Szenerie, fast schon erwartet, wieder in den Sostenuto-Nebel, bevor eine befreiende Coda den Satz mit einer aus jubelnder Entschlossenheit und zögernder Frage eigenartig gemischten Geste zu Ende bringt.

Die Ambivalenz dieses Schlusses führt uns in das Halbschattenreich des Scherzos (Molto vivace, g-moll). Obwohl wir Schumann selten so nahe an der Märchenwelt Mendelssohnscher Scherzi finden wie im Ritornell dieses Satzes, ist doch die ganze Anlage des Stückes urtypischer Schumann: die Fünfteiligkeit mit den beiden kontrastierenden Scherzi entspricht ganz dem schon in der B-Dur-Symphonie erprobten Schema, das hier – vor allem dank der ständig eingestreuten Rückgriffe auf die geheimnisvoll-unruhige Bewegung des Hauptteils – noch fesselnder gehandhabt erscheint. Besonders reizvoll ist das Zusammentreffen der Achtelmotorik des Ritornells mit den traumtänzerischen Synkopen des zweiten Trios. Von der tektonischen Rolle des Trios mit seiner instrumentalen Lokalfarbe, wie es uns aus der Klassik vertraut ist, haben sich die beiden Trios dieses Satzes schon sehr weit entfernt: Ihre Hauptaufgabe scheint es zu sein, die Vieldeutigkeit der Stimmung sinnfällig zu machen.

Das Andante cantabile (B-Dur) zählt zu den Zimelien der Kammermusikliteratur. Daß das sequenzierende Thema einfach und eingängig genug ist, um sofort „Effect“ zu machen, berührt den unverletzbaren Adel dieser Idee in keiner Weise. Selten sind entwaffnende Schlichtheit und subtilstes Raffinement eine so ideale Verbindung eingegangen. Unendlich raffiniert ist schon der Einfall, den Satz mit den letzten vier Takten des Themas beginnen zu lassen; die omnipräsente Überschneidung von Schluß- und Anfangstakten des – ganz regelmäßig gebauten – Sechzehntakters kann erst durch diesen Kunstgriff ihre volle Wirkung tun: nämlich die, den Satz „unendlich“ erscheinen zu lassen. Zwischen den zweimal drei Strophen dieses „Liedes“ ist als Allerheiligstes ein Ges-Dur-Gesang eingebettet, der ganz aus Beethovenschem Geist empfunden ist. In einzelnen Wendungen deuten sich Echos der Cavatina aus dem Streichquartett op.130 an, ohne daß sich diese Ahnungen je zu wirklichen „Reminiszenzen“ verdichten würden. Die Liedstrophen selbst sind als Variationen gestaltet:

1. Strophe = Thema (Cello)
2. Strophe = 1. Variation (Violine mit Cello-Kontrapunkt)
3. Strophe = 2. Variation (Klavier mit Bratschen-Kontrapunkt)

4. Strophe = 3. Variation (Bratsche mit Violin-Figuration)
5. Strophe = 4. Variation (Violine und Bratsche mit Klavier-Figuration)
6. Strophe = Thema (Cello)

Die ersten vier Strophen halten die melodische und harmonische Kontur des Liedthemas fest, wobei nur die dritte Strophe rhythmisch und melodisch verziert (synkopiert und umspielt) erscheint. Die fünfte Strophe bezeichnet den Punkt der größten Entfernung vom Thema; es ist gleichzeitig die instrumental reichste Passage des Satzes (mit drei „konzertierenden“ Instrumenten). Die Schlußstrophe gewinnt durch den Orgelpunkt, auf dem sie ruht, und die dadurch bedingten harmonischen Veränderungen Coda-Charakter. Am Ende dieser Strophe übernimmt das Cello den Orgelpunkt des Klaviers, wobei dieser Moment durch die von Schumann geforderte Scordatur der tiefsten Cellosaite nach B noch besonders hervorgehoben ist. Über dem liegenden Cellobaß kündigt sich in den anderen Instrumenten das Incipit des folgenden Satzes an.

Das Finale (Vivace) entfaltet – ganz im Beethovenschen Sinne – alle bisher nur angedeuteten kontrapunktischen Künste. Es ist dabei von einer formalen Unbekümmertheit und Unregelmäßigkeit, die auch im Werk des Revolutionärs Schumann ihresgleichen sucht. Das schwungvolle und so gut vorbereitete Incipit (das übrigens wie eine Antwort auf die Schlußwendung des Kopfsatzes klingt) mündet sofort in ein kurzes Fugato. Die Wiederkehr des Incipits wird mit einem zweiten Hauptmotiv beantwortet, das die modulatorische Brücke zu dem in B-Dur stehenden kanonischen Seitenthema bildet. Synkopische Textur und Instrumentation dieses Gedankens sind unüberhörbar aus der 3. Strophe des Andante abgeleitet. Auch in der Durchführung unterstreicht Schumann die Bindung an den vorangegangenen Satz, indem er die dort das Finale vorbereitenden Schlußtakte jetzt zum Ausgangspunkt einer weitläufigen modulatorischen Entwicklung macht. Die Wiederkehr des Incipits wird diesmal statt von einem Fugato von einer hofmannesk-exzentrischen Episode auf der Subdominante beantwortet, in der man – bis zur Unkenntlichkeit verfremdet – Spuren des Ritornells und des ersten Trios des zweiten Satzes wiederzufinden glaubt. Erst nach dieser beunruhigenden und dunklen Episode findet der Satz wieder in das Flußbett einer „ordnungsgemäßen“ Reprise zurück. Nach Mendelssohnscher Manier wird aber auch die „Durchführung“ Gegenstand der Reprise, die schließlich in ein prächtiges Doppelfugato von ganz unerhörter Kraft mündet. Hier werden die beiden Hälften des Incipits als getrennte Themen einander überlagert. Zu guter letzt geraten Bratsche und Geige noch ernstlich in Gefahr, vollends in Bachsche Regionen abzudriften – aber mit einer kurzentschlossenen Codawendung bereitet Schumann dem selbst entfesselten Zauber ein überraschendes Ende.

Am Sonntag, dem 8. Dezember 1844, geben Robert und Clara Schumann für ihre Leipziger Freunde im Gewandhaus-Saal eine Abschiedsmatinee. Clara kann vor Kälte kaum die Finger rühren, bewältigt aber tapfer das ganze lange Programm, das mit der Uraufführung des Klavierquartetts beginnt und mit Beethovens Waldstein-Sonate schließt. (Am Beginn des zweiten Teiles spielt Ferdinand David übrigens jene Bachsche Chaconne, deren Nachklänge ganz zu Ende des Quartetts zu vernehmen waren.) Im Klavierquartett sitzt Niels Wilhelm Gade, seit September Kapellmeister des Gewandhausorchesters, der unschuldige Anlaß (wenn auch nicht der alleinige Grund) von Schumanns Weggang aus Leipzig, an der Bratsche. Mit dem Cellisten Carl Wittmann ist auch ein gebürtiger Wiener an dieser wichtigen Uraufführung beteiligt – wie schon bei der Uraufführung von Mendelssohns zweiter Cellosonate ein Jahr zuvor fällt ihm die ehrenvolle Aufgabe zu, den Widmungsträger, Graf Mateusz Wielhorski, einen von Bernhard Romberg ausgebildeten, ausgezeichneten Cellisten von europäischem Ruf, den nur sein gesellschaftlicher Rang an der Ausübung des Musikerberufes hindert, zu vertreten. Über Mateusz und seinen älteren Bruder Michal hat Schumann seinem Schwiegervater wenige Monate zuvor aus St. Petersburg berichtet:
„[…] dann aber und vor allem die beiden Wielhorsky, zwei ausgezeichnete Männer, namentlich Michael, eine wahre Künstlernatur, der genialste Dilettant, der mir je vorgekommen; beide höchst einflußreich bei Hof und fast täglich um Kaiser und Kaiserin. Clara, glaub´ ich, nährt eine stille Passion zu Michael, der, beiläufig gesagt, übrigens schon Enkel hat, d. h. ein Mann über die 50 hinaus, aber frisch wie ein Jüngling ist an Leib und Seele…“
(Brief an Friedrich Wieck, 1. April 1844)

Aus dem Petersburger Kammermusiksalon der Grafen Wielhorski, die im russischen Musikleben der ersten Jahrhunderthälfte eine ähnliche Rolle spielen wie die Brüder Rubinstein in der zweiten, wird das Schumannsche Klavierquartett seinen Weg auch in die Weiten des Russischen Reiches machen. Clara und Robert brechen unterdessen, am 13. Dezember 1844, schweren Herzens in das gar nicht ferne Dresden auf.

© by Claus-Christian Schuster

Mozart: Quatuor pour le Clavecin, ou Fortepiano, Violon, Tallie [sic] et Basse [Nr.1, g-moll, KV 478]

Wolfgang Amadeus Mozart

* 27. Jänner 1756
† 05. Dezember 1791

Quatuor pour le Clavecin, ou Fortepiano, Violon, Tallie [sic] et Basse [Nr.1, g-moll, KV 478]

Komponiert:Wien (Domgasse 5/Schulerstraße 8), beendet am 16. Oktober 1785
Uraufführung:nicht dokumentiert
Erstausgabe:Wien, Hoffmeister, Dezember 1786

Mozarts zwei im Jahr 1785/86 entstandene Klavierquartette sind die ersten bedeutenden Beispiele eines Kammermusikgenres, das zwar immer im Schatten anderer und ungleich reicher mit Meisterwerken bedachter Musizierformen stand, das aber – vielleicht gerade wegen seiner relativen „Ungewöhnlichkeit“ – besonders viele außergewöhnliche Schöpfungen zu verzeichnen hat.

Entwicklungsgeschichtlich ist das Klavierquartett ein direkter Abkömmling der barocken „Sonata a tre“ (mit der Normbesetzung 2 Violinen und basso continuo), wobei das ursprünglich den Baß nur stützende Cembalo Hand in Hand mit seiner schrittweisen Ersetzung durch das Hammerklavier allmählich die Führungsrolle übernahm. Tatsächlich findet man im Kammermusikrepertoire der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts weit mehr Klavierquartette in der die unmittelbare Abstammung von der „Sonata a tre“ sogleich zu erkennen gebenden Besetzung von 2 Violinen, Violoncello und Klavier. Die für uns „klassisch“ gewordene Besetzung, in der die zweite Geige durch eine Bratsche ersetzt wird, ist in vielleicht noch höherem Maße, als man das für die Schwestergattungen Klaviertrio und Streichquartett behaupten kann, eine Erfindung der Wiener Klassik. Das älteste bisher bekannt gewordene Stück dieser Besetzung ist ein (unveröffentlichtes) Divertimento des Beethoven-Freundes Emanuel Aloys Förster (1748-1823) aus dem Jahre 1771. Im Druck begegnet uns das Klavierquartett zuerst im „Notturno en Quatuor“ (komponiert 1778 in Mannheim, gedruckt 1781 in Paris) des Abbé Georg Joseph Vogler (1749-1814). Ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Werkes veröffentlichte Johann Baptist Vanhal (1739-1813) in Wien ein Klavierquartett (op.29 Nr.3, 1782).

Die Entstehung der Mozartschen Klavierquartette erscheint also musikhistorisch durchaus plausibel. Doch es hieße den tieferen Sinn und Wert dieser Werke gründlich verkennen, wollte man in ihnen bloß die Widerspiegelung einer Modeerscheinung sehen. Es scheint vielmehr, daß ihr Erscheinen in Mozarts Oeuvre sozusagen von langer Hand vorbereitet ist: Die ersten Jahre von Mozarts Wiener Lebensjahrzehnt zeigen uns einen tiefgreifenden Entwicklungsschub in zwei grundverschiedenen Genres, mit denen Mozart sich schon in den 1770er Jahren eingehend beschäftigt hatte: dem Klavierkonzert und dem Streichquartett. Zwischen Ende 1782 und Anfang 1785 entstehen (von Einzelsätzen sowie zahlreichen Fragmenten und Entwürfen abgesehen) 11 Klavierkonzerte (KV 413 bis KV 467) und 6 Streichquartette (die „Haydn-Quartette“), in denen diese beiden Genres auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben werden. Das Klavierquartett bietet nun Mozart die Möglichkeit, die Errungenschaften aus diesen beiden gegensätzlichen Entwicklungslinien in Eines zu verschmelzen: der symphonische Dialog und die brillante Gestik des Klavierkonzertes verbinden sich hier mit der gesammelten Innigkeit und dem subtilen Raffinement des Streichquartetts. Diese auf den ersten Blick unmöglich erscheinende Synthese macht den Zauber und die Eigenart dieser Werke aus; es ist damit gleichzeitig aber auch ein Punkt erreicht, wo Mozarts Kunst Geschmack und Aufnahmsfähigkeit seiner Zeit nicht mehr in Rechnung stellt. Mozart hatte offenbar mit seinem Logenbruder, dem Komponisten Franz Anton Hoffmeister (1754-1812) vertraglich vereinbart, für dessen 1784 gegründeten Verlag eine Serie von (den damaligen Usancen entsprechend wahrscheinlich drei oder sechs) Klavierquartetten zu schreiben. Als sich das erste dieser Werke, unser g-moll-Quartett, das unmittelbar nach seiner Fertigstellung in Druck ging, als für das Publikum zu anspruchsvoll und schwierig erwies, scheint Mozart seinen Freund von der Verpflichtung zur Übernahme der Quartette entbunden zu haben. Das zu diesem Zeitpunkt offenbar schon fertiggestellte zweite Quartett (Es-Dur, KV 493) ließ er dann erst 1787 bei Artaria erscheinen; die anderen Werke der geplanten Reihe wurden nie in Angriff genommen.

Auf dem Postwagen, der Mozarts neue Werke von Wien nach Salzburg bringt, sind wie zur sinnfälligen Illustration der inneren Zusammenhänge These, Antithese und Synthese – Streichquartett, Klavierkonzert und Klavierquartett – friedlich vereint:

„…gestern brachte endlich der Austräger ein wohlverwahrtes Päckl vom Postwagen mit den 6 Quartetten, und 3 Sparten. näm: ein Quartett mit dem Clavier, Violino, Viola und Violoncello obligato. Dann die 2 grossen neuen Clavier Concerte. Das Clavier quartetto ist erst vom 16ten october dieses jahr, und liegen schon das Violin und Viola, weils bereits gestochen sind, im Abdruck dabey.“

schreibt Leopold Mozart am 2. Dezember 1785 an seine Tochter nach St. Gilgen. Über den Genuß, den ihm diese Werke verschafft haben müssen, erfährt Nannerl nichts, weil dieser Brief ebenso wie die folgenden ansonsten fast ausschließlich die Gesundheit von Nannerls Sohn Leopold, der sich in diesen Monaten beim Großvater befand und nach dessen amüsiertem Urteil (wegen eines Hautausschlags) „einem Saufbruder ähnlich“ sah, und verschiedenen pikanten Tratsch zum Gegenstand hat. Daß aber Vater Mozart fürwahr allen Grund hatte, auf das neueste Werk seines Sohnes stolz zu sein, können wir leicht nachvollziehen.

Das einprägsame Incipit des Kopfsatzes (Allegro) mit dem charakteristischen Dialog zwischen Tutti und Solo läßt sofort die Dramatik eines Konzertsatzes entstehen. Unter Mozarts Klavierkonzerten stehen nur zwei in Moll (KV 466, d-moll, und KV 491, c-moll), und beide sind in unmittelbarer Nachbarschaft der Klavierquartette entstanden. In den Kopfsätzen dieser beiden Konzerte ist der für das Genre typische dialogische Konflikt zwischen Soloinstrument und Orchester gleichsam hinausgezögert – das Klavier kommt jeweils erst am Ende einer deutlich symphonische Züge tragenden Orchesterexposition zu Wort. Verglichen damit präsentiert sich das Klavierquartett also sogar „konzertanter“ als die Konzerte. Bemerkenswert ist, daß die Solopartien aller drei Werke mit dem gleichen expressiven Oktavruf auf der Dominante beginnen, dem jedes Mal eine resignativ fallende Geste folgt. Ganz der Stilwelt der Streichquartette entstammt die kontrapunktische Klarheit, mit der das Motto die weitere Entwicklung trägt und prägt. Der von der thematischen Keimzelle des Mottos ausgehende düster beharrende Grundton des Satzes wird nur wenige Male spielerisch aufgelockert, niemals ganz aufgegeben. In den allerletzten Takten tritt dann der recitativische Ursprung dieses Hauptmotivs ganz klar zutage: der Satz endet mit einer Unisono-These, deren Ernst und Strenge nicht nur keinen Widerspruch zu dulden, sondern auch keine Weiterentwicklung zuzulassen scheint.
Um so erstaunlicher und beglückender ist, wie im folgenden Andante (B-Dur) das Eis Takt für Takt dahinschmilzt – die rhythmische Monomanie des Kopfsatzes löst sich auf die einfachste Weise der Welt, und man vermeint, das unschuldige und ahnungsvolle Plätschern eines Frühlingsbaches zu hören, an dessen endlich befreiten Ufern sich dann im abschließenden Rondeau aller lang aufgestaute kindliche Übermut ausleben darf.
Das fast erdrückende, bedrohliche Übergewicht des Kopfsatzes in der Gesamtarchitektur des Werkes ist ganz sicher gewollt und für die Dramaturgie des Werkes entscheidend; die gängige Interpretenausflucht vor diesem vermeintlichen Problem (nämlich den ersten Satz „quasi alla breve“ zu spielen und die Wiederholung von Durchführung und Reprise geflissentlich zu „überspringen“) greift auf jeden Fall viel zu kurz – ein Musterbeispiel dafür, daß Treue gegenüber dem Buchstaben eines Werkes sehr wohl auch etwas mit der Treue gegenüber dem innewohnenden Geist zu tun hat

© by Claus-Christian Schuster

Mendelssohn: Klavierquartett [Nr.4], h-moll, op.3

Felix Mendelssohn

* 03. Februar 1809
† 04. November 1847

Klavierquartett [Nr.4], h-moll, op.3

Komponiert:Berlin, 1824 – 18.Jänner 1825
Widmung:Johann Wolfgang von Goethe
Uraufführung:Paris, März 1825
Felix Mendelssohn, Klavier
Pierre Baillot (1771-1842), Violine
N. Mial, Viola
Louis Norblin (1781-1854), Violoncello
Erstausgabe:Hofmeister, Leipzig, Dezember 1826

Mendelssohns viertes und letztes Klavierquartett ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: zum einen dokumentiert es – als Schlußstück der innerhalb weniger Jahre (1821-1825) entstandenen Werkreihe – beispielhaft die Rasanz und Zielstrebigkeit von Mendelssohns kompositorischer Entwicklung, andererseits ist es aber auch für sich genommen ein aufschlußreiches Denkmal der wahrscheinlich folgenreichsten Begegnung, die das Leben des Wunderkindes prägte: jener mit Johann Wolfgang von Goethe, dem das Quartett gewidmet ist. Das Werk des Fünfzehnjährigen steht dabei eher am Ende als am Anfang einer Entwicklung: In Textur und Anlage hat es wahrscheinlich mehr mit den Gattungsmustern aus dem XVIII. Jahrhundert als mit dem „romantischen“ Klavierquartett der unmittelbar folgenden Jahrzehnte gemeinsam.
Die öfter geäußerte Mutmaßung, die Bevorzugung dieses Genres in Mendelssohns erster Schaffensperiode habe mit der (im Vergleich zu Streichquartett und Klaviertrio) relativ schwachen Gattungstradition des Klavierquartetts zu tun, die dem jungen Komponisten die Belastung durch allzu viele große Vorbilder erspart habe, mag aus unserer zeitlichen Perspektive schlüssig erscheinen: Bevor man aber dieses Argument aufgreift, sollte man sich vergegenwärtigen, daß es – neben den drei bis heute lebendigen Meisterwerken, die Mendelssohn vorlagen (Mozart, KV 478 und KV 493, Beethoven, op.16) – eine sehr beachtliche Anzahl veröffentlichter und vielgespielter Klavierquartette damals hochgeschätzter Meister aus der Zeit unmittelbar vor der Entstehung unseres Werkes gibt, die, obwohl heute fast vergessen, die Richtigkeit dieser Perspektive recht fraglich erscheinen lassen. Auffällig viele dieser Werke entstammen dem Beethoven-Umfeld – und welche Bedeutung die Auseinandersetzung mit Beethoven und seinem Erbe für den jungen Mendelssohn hatte, zeigen ja auch seine bald nach den Klavierquartetten entstandenen ersten Streichquartette.
Für den in Berlin heranwachsenden Komponisten kommen in diesem Zusammenhang wohl vor allem die drei Klavierquartette (op. 4-6) des Hohenzollern-Prinzen Louis Ferdinand von Preußen (1772-1806) in Betracht. Daß Beethoven selbst sich auch schon als Fünfzehnjähriger an drei Klavierquartetten (WoO 36) versucht hatte, konnte Mendelssohn wohl nicht wissen; die beiden Klavierquartette des Beethoven-Schülers Ferdinand Ries (1784-1838) könnten ihm aber durchaus vertraut gewesen sein, ebenso das 1817 erschienene Werk des damals populären Conradin Kreutzer (1780-1849, nicht zu verwechseln mit dem Widmungsträger der Kreutzer-Sonate, dem französischen Geiger Rodolphe Kreutzer). Unter den anderen Werken, die so etwas wie eine „Klavierquartett-Tradition“ belegen, wäre natürlich noch Carl Maria von Webers Opus 8 (1809) zu erwähnen. Im selben Jahr veröffentlichte übrigens Václav Jan Tomasek (1774-1850), der etwa zur gleichen Zeit wie Mendelssohn zu Goethe in Kontakt treten sollte, sein einziges Klavierquartett. (Schumann wird ihm an Schuberts 50. Geburtstag in Prag begegnen und in ihm einen interessanten geistreichen Alten finden.)
Während man also schwerlich behaupten kann, Mendelssohn habe seine Erstlingssaat in einem Brachfeld ausgebracht, so fällt doch auf, daß sich die Diktion seiner vier Klavierquartette recht deutlich von der seiner älteren Zeitgenossen unterscheidet. Neben unvermeidlichen Spuren der Auseinandersetzung mit Mozart und Beethoven finden sich in diesen Werken nämlich – und zwar in zunehmendem Maße – vor allem Echos vorklassisch-barocken Musizierens. Aus diesem Blickwinkel könnte die ganze Werkreihe (und unser H-moll-Quartett als krönender Abschluß in ganz besonderer Weise) durchaus auch als frühes Beispiel einer „historistischen“ Kompositionshaltung gedeutet werden. Es ist gut möglich, daß Zelter, der als Leiter der Berliner Singakademie einer der Hauptexponenten eines erneuerten und vertieften Interesses an älterer Musik war, seinem Schüler einige Anregungen in dieser Richtung gegeben hat; ein Blick auf das Werk seiner anderen prominenten Schüler – Carl Loewe, Gustav Meyerbeer und Otto Nicolai – wird uns allerdings davor bewahren, diesem Einfluß allzuviel Gewicht beizumessen. Viel eher ließe sich mutmaßen, daß dieser – im übrigen für ein Frühwerk nicht ganz außergewöhnliche – „historistische“ Wesenszug ganz unmittelbar mit der Art der Beziehung des Komponisten zu Johann Wolfgang von Goethe, dem Widmungsträger des Opus 3, zusammenhängen könnte.

Schon Mendelssohns Vater war zu Goethe in eine wenn auch nur flüchtige Beziehung getreten: 1816 hatte er dem Dichter einen Brief Carl Friedrich Zelters (1758-1832) überbracht. Schon damals hatte Abraham Mendelssohn die Absicht gehabt, Goethe auch seine Kinder vorzustellen, wozu sich dann aber kein passender Zeitpunkt gefunden hatte. Erst fünf Jahre später – Carl Friedrich Zelter war in der Zwischenzeit der Musiklehrer der Kinder geworden – kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Felix Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe. Zelter selbst kündigt seinem illustren Freund den Besuch an:
„Morgen früh reise ich mit meiner Doris und einem zwölfjährigen muntern Knaben, meinem Schüler, dem Sohn des Herrn Mendelssohn, ab nach Wittenberg um dem dortigen Feste beyzuwohnen. […] Meiner Doris und meinem besten Schüler will ich gerne Dein Angesicht zeigen, ehe ich von der Welt gehe, worin ich´s freylich so lange als möglich aushalten will.“
(Brief Zelters an Goethe vom 26. Oktober 1821)

Wenige Wochen zuvor hatte der „muntere Knabe“ seinem Lehrer ein erstes Klavierquartett, ein schließlich unvollendet (und bis in die jüngere Vergangenheit auch unveröffentlicht) gebliebenes Werk in d-moll, zur Korrektur vorgelegt.
Sechzehn Tage lang hielt sich Zelter mit seiner Tochter und seinem Lieblingsschüler in Weimar auf. Die bekannte Schilderung dieses ersten Zusammentreffens in Ludwig Rellstabs Lebenserinnerungen (Berlin 1861) ist zwar nicht aus dem unmittelbaren Erleben, sondern schon in voller Kenntnis der „geschichtlichen“ Dimension dieser Begegnung niedergeschrieben, vermittelt aber doch ein anschauliches und wohl in allen wesentlichen Punkten zutreffendes Bild. Noch lebendiger skizziert Felix selbst die Situation in einem Brief an seine Eltern:

„Ich spiele hier viel mehr als zu Hause, unter vier Stunden selten, zuweilen sechs, ja acht Stunden. Alle Nachmittage macht Goethe das Streichersche Instrument mit den Worten auf: »Ich habe Dich heute noch gar nicht gehört, mache mir ein wenig Lärm vor.«; und dann pflegt er sich neben mich zu setzen.“

Angesichts der sich in diesen Tagen anbahnenden ungewöhnlichen Freundschaft verwundert es nicht, daß die Mendelssohns die allernächste Gelegenheit, Goethe wieder einen Besuch abzustatten, ergriffen. Diese bot sich schon im nächsten Jahr auf der Rückreise von einem Sommeraufenthalt in der Schweiz. Diesmal wurden auch die Schwestern Fanny und Rebecka Goethe vorgestellt. Felix spielte seinem großväterlichen Freund ein eigens zu diesem Anlaß innerhalb weniger Tage in Frankfurt komponiertes (zweites) Klavierquartett (c-moll, op.1) vor, das er dann dem Goethe-Verehrer Fürst Antoni Henryk Radziwill (1775-1833), dem Schwager des oben erwähnten Louis Ferdinand von Preußen, widmen sollte. (Radziwill, der neben seiner Tätigkeit als preußischer Statthalter in Posen unermüdlich an seinem opus summum, einer umfangreichen Bühnenmusik zu Goethes Faust arbeitete, wurde übrigens auch von Beethoven und Chopin mit Widmungen bedacht.) Auch Fannys Lieder auf Goethesche Texte finden das Gefallen des Dichters. Ihr Klavierquartett, an dem sie schon seit Mai arbeitet, wird aber erst etliche Wochen nach dem Besuch in Weimar fertig. – Lea Mendelssohn sagt Goethe zum Abschied: „Es ist ein himmlischer, kostbarer Knabe! Schicken Sie ihn mir recht bald wieder, daß ich mich an ihm erquicke.“

Ein halbes Jahr später kann Zelter seinem Freunde nach Weimar berichten:

„Mein Felix hat sein fünfzehntes Jahr angetreten.Er wächst unter meinen Augen. Sein erstaunliches Clavierspiel darf ich ganz als Nebenher ansehen.[…] Alles gewinnt Gediegenheit, kaum fehlt noch Stärke und Macht; alles kommt von Innen und das Äußerliche seiner Zeit berührt ihn nur äußerlich. Denke Dir meine Freude, wenn wir´s erleben, daß der Knabe lebt und erfüllt was seine Unschuld verspricht. Gesund ist er. Ein sehr schönes Quartett fürs Fortepiano wünsche ich daß es Deiner Großfürstin zugeeignet würde. […] Es ist ganz neu und noch besser als das was er in Weimar hat hören lassen.“
(Brief Zelters an Goethe, 11. März 1823)

Die im März 1825 erschienene Ausgabe dieses (dritten) Klavierquartetts (f-moll, op.2) sollte dann freilich nicht die von Zelter gewünschte Widmung an die Großfürstin Maria Pavlovna tragen – Mendelssohn eignete dieses Werk seinem Lehrer selbst zu.

Schon einige Wochen vor der Veröffentlichung des F-moll-Quartetts, am 18. Jänner 1825, hatte Mendelssohn sein viertes und letztes Klavierquartett (h-moll, op.3) vollendet. Mit diesem jüngsten Werk im Gepäck machte er sich im März in Begleitung seines Vaters auf die Reise nach Paris. Abraham Mendelssohn maß dieser Unternehmung ganz besondere Bedeutung bei: vom Urteil Luigi Cherubinis (1760-1842), des gefeierten Direktors des Pariser Conservatoire, sollte es abhängen, ob Felix die Musik zu seinem Lebensberufe machen dürfe. Die Begegnung mit dem Maestro verlief nicht ganz reibungsfrei – der elegante und selbstsichere Junge mußte dem alternden Pädagogen verschwendungssüchtig und eitel erscheinen, während Felix in Cherubini nur mehr eine ehrwürdige Ruine sah. (Cherubinis Tochter, die Felix „göttlich hübsch“ fand, bot da schon einen anderen Anblick…) Doch diese wechselseitigen Vorbehalte konnten nichts am professionellen Urteil des Meisters ändern. Über das Zusammentreffen schreibt Felix seiner Mutter:

„[…] Nun endlich zu den Musikern selbst, soviel ich ihrer bis jetzt kenne. Vor allem Cherubini, den ich einigemal gesehen. Der ist vertrocknet und verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über alle Maaßen. Halévy versicherte, es gäbe Tage, wo gar nichts aus ihm raus zu kriegen wäre. Einen jungen Musiker, der ihm etwas vorgespielt, habe er gefragt, ob er vielleicht gut malen könne; einem anderen habe er gesagt, »vous ne ferez jamais rien«; wenn er selbst ihm etwas zeige, und Cherubini sage nichts und schnitte keine grimace, so müsse es ganz vortrefflich seyn. Er hat ihm nur ein einzigesmal, und zwar nachdem ihm Halévy seine Oper vorgespielt, gesagt: c´est bien. – Mais c´est trop long, il faut couper. Alle Leute, die ihn kennen, sind sehr verwundert, daß er, nachdem er mein h moll Quartett aufs allerschändlichste hat executiren hören, lächelnd auf mich zukam und mir zunickte. Dann sagte er zu den Andern: ce garçon est riche, il fera bien; il fait même déjà bien; mais il dépense trop de son argent, il met trop d´étoffe dans son habit. Alle behauptete, daß seie ganz unerhört, besonders als er nachher hinzusetzte: je lui parlerai alors il fera bien! Dann sagten sie, er hätte noch niemals mit jungen Musikern gesprochen. Auch wollte Halévy gar nicht glauben, daß Cherubini mir das gesagt habe. Kurz, ich behaupte, daß Cherubini der einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausgebrannten Vulkan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“
(Brief vom 6. April 1825)

Wenn der junge Komponist sein Werk auch „aufs allerschändlichste executirt“ fand, so waren seine Partner bei dieser Aufführung, die als Premiere gelten darf, doch unter den angesehensten Pariser Musikern. (Der heute nur mehr als Autor didaktischer Werke bekannte Pierre Baillot darf neben Ignaz Schuppanzigh als einer der wichtigsten Pioniere des professionellen Quartettspiels gelten; Cherubini selbst hat in seinen letzten Lebensjahren für ihn sechs Streichquartette geschrieben.) Übrigens sollten die erfrischend offenen und unmittelbaren Urteile des jungen Parisbesuchers nicht auf die Goldwaage gelegt werden; so entlockt ihm etwa seine erste Bekanntschaft mit Mozarts Klarinettenquintett (KV 581, 1789) das Verdikt: „Es sind sehr schöne Sachen drin, aber die Jugendarbeit giebt sich in jeder Note […] zu erkennen.“

Nach zwei Monaten in Paris, wo Mendelssohn neben Cherubini auch Rossini, Reicha, Onslow, Hummel und vielen anderen älteren Kollegen begegnete, machten sich Vater und Sohn auf die Heimreise, die sie über Frankfurt am Main wiederum nach Weimar führte. Hier präsentierte Felix am Abend des 20. Mai 1825 Goethe das ihm zugedachte Klavierquartett; der Weimarer Geiger und Komponist Carl Eberwein (1786-1868) und zwei anonym geblieben Musiker begleiteten ihn.
Dieser dritte Besuch war der kürzeste, und das Bedauern darüber klingt in Goethes Brief, den er am folgenden Tag an Zelter schickt, nach:

„[…] Herr Mendelssohn verweilte auf seiner Rückreise von Paris allzukurze Zeit; Felix produzierte sein neustes Quartett zum Erstaunen von jedermann; diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation hat mir sehr wohlgetan. Den Vater konnte nur flüchtig sprechen, weil eine große Gesellschaft und die Musik abhielt und zerstreute. Ich hätte so gern durch ihn etwas von Paris vernommen. Felix hat den Frauenzimmern von den dortigen musikalischen Verhältnissen einiges erzählt, was den Augenblick sehr charakterisiert. Grüße die ganze Familie und erhalte mein Andenken auch in diesem Kreise.“

„Diese persönlich hör- und vernehmbare Dedikation“ – das ist gewiß mehr als eine wohlwollende und freundliche Floskel. Für Goethes Ohr, über das die Musikwissenschaft sehr abschätzig zu urteilen pflegt, muß im leidenschaftlichen Ernst und der innigen Begeisterung dieser jugendlichen Partitur etwas bewahrt gewesen sein, was ganz persönlich ihm galt, und der Dichter hat diese Botschaft sehr wohl vernommen. Nicht, daß diese Empfänglichkeit uns für Goethes Taubheit Beethoven und Schubert gegenüber entschädigte; aber vielleicht sollten wir versuchen, das Mendelssohnsche Quartett ein wenig mit Goethes Ohren zu hören.

Wie Goethe seinem heranwachsenden Freund zuhörte, das hat er selbst am treffendsten unmittelbar nach Felix´ letztem Besuch geschildert:
„So eben, früh halb 10 Uhr, fährt bey klarstem Himmel, im schönsten Sonnenschein, der treffliche Felix, mit Ottilien, Ulriken und den Kindern, nachdem er vierzehn Tage bey uns vergnüglich zugebracht und alles mit seiner vollendet liebenswürdigen Kunst erbaut, nach Jena […]. Mir war seine Gegenwart besonders wohlthätig, da ich fand: mein Verhältniß zur Musik sey noch immer dasselbe; ich höre sie mit Vergnügen, Antheil und Nachdenken, liebe mir das Geschichtliche; denn wer versteht irgend eine Erscheinung, wenn er sich [nicht] von dem Gang des Herankommens penetrirt? Dazu war denn auch die Hauptsache daß Felix auch diesen Stufengang recht löblich einsieht, und glücklicherweise sein gutes Gedächtniß ihm Musterstücke aller Art nach Belieben vorführt. Von der Bachischen Epoche an, hat er mir wieder Haydn, Mozart und Gluck zum Leben gebracht; von den großen neuern Technikern hinreichende Begriffe gegeben, und endlich mich seine eigenen Productionen fühlen und über sie nachdenken machen.“
(Brief an Zelter, 3. Juni 1830)

Da dieser letzte Besuch nur in vertiefter Weise fortsetzte, was in den ersten drei Begegnungen begonnen worden war, wird man wohl auch die „archaischen“, „historisierenden“ Aspekte unseres H-moll-Quartetts als Teil dieses musikalischen Dialoges mit Goethe werten dürfen.

Schon zu Beginn des ersten Satzes (Allegro molto) beschwört die symbolträchtige, Schlüsselwerke evozierende Grundtonart mit pochenden Baßoktaven den Geist des Thomaskantors. Trotzdem ist das Hauptthema selbst durchaus keine Stilkopie; und vor allem seine Behandlung ist reinster und unverwechselbarer Mendelssohn. Die emblematische Keimzelle – eine chromatische Umkreisung des Grundtones – wird zum allgegenwärtigen Bindeglied des Satzes. Das Seitenthema, das einer Mendelssohnschen Vorliebe entsprechend variativ aus dem Hauptthema abgeleitet ist und keinen dialektischen Konflikt mit diesem sucht, erscheint schon in der Fortspinnung des Nachsatzes. Da die innige Verschwisterung dieser beiden thematischen Erscheinungsformen ihre parallele Verwendung in der Durchführung problematisch erscheinen ließe, führt der Komponist ein eigenes Durchführungsmotiv ein, das nur den betonten Halbtonschritt mit dem Hauptthemenkopf gemeinsam hat. In Verbindung mit dem für den Durchführungsteil gewählten rascheren Tempo ermöglicht die Symbiose dieser beiden Elemente einen dramatisch beschleunigten und modulationsreichen Ablauf dieses entscheidenden Abschnittes. Die Reprise, die Mendelssohn während der Arbeit noch einschneidend kürzte, verebbt in eine Folge von zwei Orgelpunkten, an denen der motorische Impetus des Stückes zu brechen droht, bis die Wiederaufnahme des raschen Durchführungsmotivs den Satz mit einer energischen Coda beschließt. Die in vielen späteren Werken des Meisters gepflegte strukturelle Zweiteiligkeit (Exposition/Durchführung – Reprise/Coda), als deren Grundvoraussetzung die Entlastung der Durchführung von dialektischen Aufgaben gelten muß, kündigt sich in der formalen Disposition dieses Jugendwerkes schon deutlich an.

Das Thema des langsamen Satzes (Andante, E-Dur) beweist, auf welch subtile Weise Mendelssohn der „Simplizität“ und dem „Regelmaß“ zu entgehen wußte, das oberflächliche oder bösmeinende Kritiker seiner Musik mitunter vorwerfen. Obwohl das Thema äußerlich der achttaktigen Norm entspricht, weicht es in seinem harmonischen und metrischen Verlauf der regelmäßigen Periodik auf raffinierte Weise aus. Daß das Klavier, dem das Thema zunächst anvertraut ist, als Folge dieses Raffinements nicht einmal mehr aus eigener Kraft in die ganz naheliegende Tonika zurückzufinden vermag, sondern von den teilnahmsvollen Streichern gewissermaßen nach Hause getragen werden muß, darf durchaus als ein Element romantischer Ironie verstanden werden – und ich möchte glauben, daß der Autor des „Wilhelm Meister“ für solche Züge nicht unempfänglich war. Auch die Weiterführung des Satzes zeigt uns den jungen Mendelssohn als einen Meister des spielerischen Umganges mit Formkonventionen, die er lächelnd umgeht und dabei unzerbrochen und heil läßt. Die endlich erreichte Tonika wird noch einmal kadenzierend bekräftigt; die Fortspinnung dieser Bekräftigung führt uns auf die Wechseldominante, von wo aus wir zum zweiten Mal das Thema – diesmal natürlich auf der Dominante – erreichen. Jetzt kennt der Pianist den Heimweg schon und erspart sich daher die retardierenden Verirrungen. Leider bringt gerade diese Sicherheit das Thema um zwei Takte und somit um sein labiles „Ebenmaß“, seinen unverwechselbaren Zauber. (Wer vermöchte zu sagen, ob der Junge wirklich schon so viel Lebensweisheit besaß, um mit dem Hintersinn dieses musikalischen Experimentes bewußt zu spielen?) Die abweichende Fortführung scheint jedenfalls auf diesen Verlust mit sehnsüchtigen Komplikationen zu reagieren. In einem neuerlichen Anlauf versucht nun das Cello sein Glück, zwar wieder in der Tonika, doch ganz in den bieder hinkenden Fußstapfen der vorigen Variante. Erst die variierte Wiederholung der zweiten Fortführung findet die „verlorenen“ beiden Takte wieder auf, über die das Stück endlich selig in den Heimathafen einlaufen kann.
Der Sinn dieses bezaubernden Satzes scheint mir ganz in diesem unschuldigen Spiel zu liegen; die möglichst korrekte und stichhaltige Anwendung der formalen Terminologie auf die „Satzglieder“ ABACAC(A) erscheint daneben als eine recht verzichtbare Fleißaufgabe.

Das Scherzo (Allegro molto, fis-moll) ist ein sehr frühes Beispiel für die berühmten Mendelssohnschen „Elfenscherzi“. Für den analogen Satz des Oktetts op.20 überlieferte Fanny Mendelssohn als literarische Vorlage die Schlußverse der Walpurgisnacht:

Wolkenflug und Nebelflor
Erhellen sich von oben,
Luft im Laub und Wind im Rohr
Und alles ist zerstoben.

Aus Goethes Gesprächen mit Eckermann wissen wir, daß der Dichter schon im Scherzo des Klavierquartetts das poetische Urbild mühelos wiedererkannte:

„Es ist wunderlich, wohin die aufs Höchste gesteigerte Technik und Mechanik die neuesten Komponisten führt; ihre Arbeiten bleiben keine Musik mehr, sie gehen über das Niveau der menschlichen Empfindungen hinaus, und man kann solchen Sachen aus eigenem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen… Mir bleibt alles in den Ohren hängen… Doch das Allegro hatte Charakter. Dieses ewige Wirbeln und Drehen führte mir die Hexentänze des Blocksbergs vor Augen, und ich fand also doch eine Anschauung, die ich der wunderlichen Musik supponieren konnte.“
(Gespräch vom 14. Jänner 1827)

Die chromatische Umkreisung eines Zentraltones – diesmal der Dominante – weckt die Erinnerung an das Grundmotiv des Kopfsatzes. Die alternierenden Formteile, Scherzo (fis-moll) und Trio (H-Dur), sind durch die ostinate Klavierfiguration und die völlig analoge formale Gestaltung (jeweils eine monothematische Sonatenform en miniature) zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, was den Satz besonders großflächig erscheinen läßt.

Auch das Finale (Allegro vivace) ist von beeindruckenden Dimensionen. Wie schon im Kopfsatz fällt die Dominanz des Hauptthemenkopfes (hier ein rhythmisch bestimmtes Motiv) auf. Die dem eigentlichen Hauptthema vorangehende Einleitung erinnert in Instrumentation und Textur (Klavierdiskant in Oktaven gegen orchestrale Streicherflächen) entfernt an einige besonders charakteristische Stellen der Schubertschen Klavierkammermusik. Während diese Parallele natürlich keinesfalls auf direkte Einflüsse hinweist, werden in der Entwicklung des Hauptthemas selbst recht deutlich Reminiszenzen Beethovenscher Töne vernehmbar.
Die formale Gestaltung und Organisation des Satzes ist allerdings ganz autonomer und origineller Mendelssohn. Da die thematischen Zellen außerhalb des Hauptthemenkomplexes recht schwach ausgeprägt sind, wird die Großgliederung durch die ostinate Figuration der Begleitstimmen erzielt: Sechzehntel für die Einleitung, Achteltriolen für den ersten, homophonen, und Staccato-Achteln für den zweiten, fugierten Abschnitt der „Durchführung“, während das rhythmisch prägnante Hauptthema in der Art eines einfachen Chorsatzes, also mit seinem eigenen Rhythmus begleitet wird. Die im ersten Satz nur angedeutete Zweiteiligkeit ist hier voll ausgeprägt: die „Coda“ ist eine gekürzte Wiederholung der „Durchführung“, die an den Ausgangspunkt des Werkes – zur chromatischen Tonfolge, die das Leitmotiv des Kopfsatzes gebildet hatte – zurückkehrt.

Die Deutlichkeit, mit der nicht nur in diesem Punkt wesentliche Elemente des Mendelssohnschen Personalstils hier erstmals in Erscheinung treten, machen dieses letzte Klavierquartett des noch nicht Sechzehnjährigen zu einem für das Verständnis seiner Eigenart zentralen Schlüsselwerk. Daß es daneben dem als unmusikalisch verleumdeten deutschen Dichterfürsten einmal auch einen „wortlosen“ Platz in der Musikgeschichte verschafft hat, macht seinen ganz besonderen Reiz aus.

© by Claus-Christian Schuster

Herzogenberg: Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.2, B-Dur, op.95

Heinrich von Herzogenberg

* 10. Juni 1843
† 09. Oktober 1900

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.2, B-Dur, op.95

Komponiert:Berlin, 1896/97
Widmung:Johannes Brahms
Erstausgabe:Rieter-Biedermann, Leipzig, 1897

Heinrich von Herzogenbergs Werk gehört zu den liegengelassenen und verschwendeten Schätzen der österreichischen Musik. Es bleibt unverständlich, daß ein so reiches und gediegenes Oeuvre zur Gänze in Vergessenheit geraten konnte; wüßte man nicht, daß diese Vernachlässigung ein Kind der Gedankenlosigkeit ist, könnte man Österreichs (wirklichen und eingebildeten) Überreichtum an großer Musik für sie verantwortlich machen. Wahrscheinlich ist auch Herzogenbergs für manche Kritiker allzu große Geistesverwandtschaft und Nähe zu Brahms (die sogleich den platten Spruch von „Schmied“ und „Schmiedl“ provoziert) mit ein Grund für dieses Unrecht. Nach einem Jahrhundert sollte aber Abstand und Überblick groß genug geworden sein, um den wahren Wert seines Werkes schätzen zu können.
Wer sich, unabhängig von der Nichtachtung, die die Musikwelt dem Komponisten angedeihen läßt, einen Eindruck von der Eigenart des Menschen verschaffen will, möge zu den ersten beiden Bänden des Briefwechsels von Johannes Brahms greifen, die der Korrespondenz mit dem Ehepaar Elisabet und Heinrich von Herzogenberg gewidmet sind. Nicht von ungefähr hat Max Kalbeck diese Briefe an den Beginn seiner großangelegten Briefedition gestellt: der Gedankenaustausch zwischen diesen drei außergewöhnlichen Menschen gehört zum Schönsten und Erhellendsten, was es in der Briefliteratur der Musikgeschichte gibt.

Wenn man weiß, wie unerreichbar fern Brahms auch nur ein Anflug von Schmeichelei und Schönrednerei gelegen ist, wird man den folgenden Worten seines Briefes an Elisabet vom 15. Jänner 1887 ihr wahres Gewicht beimessen können:

„…Mehr wie bei anderen Kollegen muß ich bei Heinz´ Sachen an mich denken und werde daran erinnert, wie und wo – ich eben auch zu lernen und zu machen versuche. Er weiß, um was es sich handelt, und deshalb ist mir auch so wichtig und lieb, sein zustimmendes Wort zu hören (und Ihres dazu). Er weiß besser und mehr als ich (das hat seine einfachen Gründe). Aber beneiden muß ich ihn, daß er lehren kann. Wir sind die gleichen schweren Wege mit gleichem, gutem Ernst gegangen. Er kann mittun, anderen so schlimme Mühe zu ersparen. Von Berliner Schwätzern ist uns viel schlechte Schule gekommen, von dort scheint für die Jüngeren eine bessere zu kommen…“

Man darf argwöhnen, daß dieselbe präpotente Engstirnigkeit, die es zulassen konnte, daß Brahms´ hier und immer wieder ausgesprochener Wunsch nach einer Lehrstelle in Wien ungehört blieb, auch an der Resonanzlosigkeit der Herzogenbergschen Musik schuld trägt. – Herzogenberg war, in diesem Punkte glücklicher als Brahms, 1885, nach dreizehn Jahren in Leipzig, als Nachfolger Friedrich Kiels an die Berliner Musikhochschule berufen worden, der er bis wenige Monate vor seinem Tode angehören sollte. In seinen Wiener Studienjahren (1862-1864) hatte er im Hause seines Lehrers Otto Dessoff Johannes Brahms kennengelernt. 1868 hatte er Elisabet von Stockhausen, die Tochter des Hannoverschen Gesandten in Wien, geheiratet (die einige Jahre zuvor für ganz kurze Zeit Brahms´ Klavierschülerin gewesen war). Elisabets Tod am 7. Jänner 1892 in San Remo war der schwerste Schicksalsschlag und tragische Wendepunkt in Heinrich von Herzogenbergs Leben. Ab diesem Zeitpunkt wendete er sich immer mehr der Kirchenmusik zu. Die geistliche Kantate „Totenfeier“ (op.80, 1894) nimmt in seinem Werk eine ähnliche Stellung ein wie das Deutsche Requiem im Brahmsschen Schaffen. Das wie die „Totenfeier“ Elisabets Andenken gewidmete 1. Klavierquartett (e-moll, op.75, 1892) muß ihm bei der Komposition des 2. Klavierquartetts wohl vor Augen gestanden haben; und wenn man im ersten Werk ein wehmütiges und verklärtes Portrait der geliebten Frau erkennen darf, so lassen sich im zweiten unschwer die Züge des verehrten Freundes, dem es gewidmet ist, wiederfinden. Das Schicksal fügte es, daß auch dieses zweite, so viel kraftvollere und hellere Werk zum Epitaph geriet – den folgenden, am 70. Todestag Beethovens abgesandten Widmungsbrief, bei dessen Schlußsätzen Herzogenberg wohl schmerzlich an die letzten Wochen Elisabets gedacht haben mag, konnte Brahms nicht mehr beantworten:

Berlin W 62, Kurfürstendamm 263. 26. März 1897
Lieber verehrter Freund!
Zwei Dinge kann ich mir nicht abgewöhnen: Daß ich immer komponiere, und daß ich dabei ganz wie vor 34 Jahren mich frage, „was wird Er dazu sagen?“
„Er“, das sind nämlich Sie. Sie haben nun zwar seit längeren Jahren nichts dazu gesagt; was ich mir deuten kann, wie ich will. Meiner Verehrung für Sie hat es aber keinen Eintrag getan. Und so betone ich sie wieder einmal durch eine Zueignung, die Sie mir freundlich zugute halten mögen!
Meine Gedanken sind jetzt mehr wie je bei Ihnen, da ich Sie leidend weiß. Möge das Frühjahr die Möglichkeit einer Luftveränderung bringen; ist sie auch nicht immer direkt von medizinischem Werte, so erfrischt und ermuntert sie doch den Organismus und hebt die Stimmung. Und daß hiervon die Genesung abhängen kann, leugnet kein Arzt.
In alter Treue und Verehrung Ihr
H. Herzogenberg

Herzogenberg, der 1876 als erster ein Variationenwerk über ein Brahms-Thema veröffentlicht hatte („Einmal im Leben der Erste sein zu können, war sehr verlockend“), war es also auch beschieden, der letzte zu sein, der Brahms ein ihm gewidmetes Werk vorlegen konnte; und man darf sagen, daß das Schicksal kaum einen Würdigeren für diese Aufgabe erwählen hätte können.
Das eröffnende Allegro ist mit der zupackend-energischen Gestik und einprägsamen, den ganzen Satz durchpulsenden Rhythmik seines Hauptthemas sowie dem sich vom beseligten Tanz zur siegessicheren Hymne steigernden Seitenthema einer der vitalsten und selbstbewußtesten Momente im Schaffen Herzogenbergs.
Noch viel typischer für den Komponisten ist aber das folgende Notturno (Adagio, ma non troppo, Fis-Dur), dessen subtile Koloristik von ganz außergewöhnlichem Reiz ist. Es hätte nicht einmal einer zentralen f-moll-Episode (Andante sostenuto) bedurft, um jeden mit dem Werk Brahms´ vertrauten Musikliebhaber an den entsprechenden Fis-Dur-Satz der zweiten Cellosonate (op.99) denken zu lassen.
Der von Brahms heißgeliebte, aber nie für ein Scherzo verwendete 6/4-Takt gibt dem folgenden Allegro (f-moll) sein ianusköpfiges Gepräge: dem herben, das Sarkastische streifende Agitato des Hauptteiles (in dem wir nichts von dem „heiteren Frohsinn“ aufzuspüren vermochten, den der Herzogenberg-Verehrer Wilhelm Altmann daran schätzte) und der ländlichen Idylle des F-Dur-Trios liegen die selben rhythmischen und melodischen Keimzellen zugrunde.
Das Finalrondo (Allegro vivace) spielt nicht nur mit der naheliegenden Assoziation an den entsprechenden Satz des Brahmsschen op.25, die es mit dem scheinbaren g-moll des Anfangs in aller Unbekümmertheit auch noch tonartlich unterstreicht, es braucht den provozierten Vergleich auch durchaus nicht zu scheuen. Die drei Themen sind mit sicheren und kräftigen Strichen charakterisiert und ganz meisterlich verarbeitet. Wie so oft in seinem Werk hat Herzogenberg hier bewiesen, daß die Anlehnung an ein überragendes Genie nicht zwangsläufig in epigonaler Blässe und resignierter Wiederholung münden muß, sondern daß die Demut, die das Geschenk solcher Zeitgenossenschaft anzunehmen versteht, auch mit ureigenstem, nicht erborgten Reichtum belohnt werden kann.

© by Claus-Christian Schuster

Herzogenberg: Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.1, e-moll, op.75

Heinrich von Herzogenberg

* 10. Juni 1843
† 09. Oktober 1900

Quartett für Klavier, Violine, Viola und Violoncello Nr.1, e-moll, op.75

Komponiert:San Remo und Florenz, Ende 1891/Anfang 1892
Widmung:Elisabeth von Herzogenberg, geb. Stockhausen (1847-1892)
Erstausgabe:Rieter-Biedermann, Leipzig, 1897

Heinrich von Herzogenberg schrieb sein erstes Klavierquartett am Krankenlager seiner geliebten Frau Elisabeth, die er in letzter und verzweifelter Hoffnung auf Heilung an die Riviera begleitet hatte. Am 29. Dezember 1891 starb Elisabeths Mutter, Clotilde Annette von Stockhausen, in Florenz; schon wenige Tage später, am 7. Jänner 1892, erlag Elisabeth in San Remo ihrem unheilbaren Leiden. Adolf von Hildebrand stellte die Verstorbene, deren beeindruckendes Wesen auch Brahms in seinen Bann geschlagen hatte, auf ihrem Grab in San Remo als Santa Cecilia dar – und ganz ähnlich hat auch ihr Mann sie musikalisch porträtiert.

Am 3. Februar schreibt Heinrich von Herzogenberg an die Brahms-Freunde Theodor und Emma Engelmann in Utrecht:

„….Werden die Hymnen, die mein ganzes Innere erfüllen und durchhallen, jetzt auch noch durch schmerzlichstes Mitleiden getrübt, so werden sie doch die Herrschaft in mir bewahren. Nicht, daß ich ohne Lisl leben muß, sondern daß sie litt und starb, ist der wütende Jammer, der mich noch erfaßt; laßt die gütige Zeit diese Bilder, bei denen mir das Herz blutet, leise in die Ferne rücken, dann sollt Ihr sehen, daß ich nicht Schiffbruch gelitten habe – was wäre denn an einem so grenzenlosen Glück, wie ich es genossen, wenn es nicht abfärbte, wenn es durch Tod und Trauer zu vernichten wäre – … Doch genug, genug! Ich mißbrauche Eure Freundschaft allzu sehr und halte Monologe. Viel besser, ich schicke Euch ein Quartolog, ein Stück, was ich sonst niemandem zeigen möchte. Ihr seht an den Datums, wann es entstanden; geheimnißt aber nicht zu viel hinein und heraus: das Trio des Scherzos z.B. ist entstanden, als mir die Glieder vor Aufregung und Entsetzen schlotterten: an dem Tage verlor sie auf fünf Stunden das liebe wonnige Augenlicht! Vielleicht versteht Ihr das Finale am ehesten – doch nein, Ihr saht sie ja nicht wie eine Braut unter Rosen lang ausgestreckt liegen, schön jung und lieblich – eine Verlobung für die Ewigkeit!…“

In diesem „Quartolog“ finden sich alle Vorzüge, die die noch immer weithin verkannte Kammermusik Herzogenbergs prägen: Noblesse der Erfindung, Gediegenheit der Ausarbeitung und eine unmittelbar berührende schlichte Innigkeit.


Der erste Satz (Allegro ma non troppo) bezieht seine Energie aus der Dialektik zwischen herbem Ernst und hoffnungsvollem Vertrauen, die sich in den beiden beherrschenden Themenkomplexen ausdrücken. Für die Dramaturgie des Satzes ist entscheidend, daß sich beide Themen aus einem einzigen Grundmotiv (der spiegelbildlichen Gegenüberstellung von steigender und fallender Sekund) herleiten. Die so ermöglichte Stringenz des musikalischen Ablaufes läßt formales Raffinement leicht entbehren – trotz der „Regelmäßigkeit“ der zugrundeliegenden Sonatenhauptsatzform trägt der Satz durchaus nicht das Stigma „akademischer“ Glätte.
Besonders charakteristisch für Herzogenberg ist das folgende Andante quasi Allegretto (H-Dur), ein „Lied ohne Worte“, dessen Reiz in der verschleierten Periodik des Themas liegt: die Fünftakter des Bratschenthemas werden durch die Pizzicato-Repliken der anderen Streicher zu Sechstaktern gedehnt; einen nicht unähnlichen Thementyp hat der Komponist auch in seinem gleichzeitig entstandenen vierhändigen Zyklus „Dainu Balsai – Litauische Volkslieder“ aufgegriffen (op.76 Nr. 3: „Oj, Dieve! / Oh, mein Herrgott!“).
Auf Brahms´ Spuren wandelt der dritte Satz, Vivace (e-moll), auf dessen ausgelassen kapriziöses Trio Herzogenberg in seinem oben zitierten Brief hinweist. Auch hier läßt das Spiel verschiedener Metren über einem gleichbleibenden Puls an dieselben osteuropäischen Volksmusikquellen denken, aus denen auch Brahms gerne geschöpft hat; die pointierte Synkopierung des Triothemas betont diese folkloristische Note noch.
Ganz abseits der dramaturgischen Norm steht aber dann der Finalsatz (Moderato, E-Dur). Wenn man auch aus Herzogenbergs Brief einigen Aufschluß über den gedanklichen Hintergrund dieses Satzes erhält, so muß dennoch vieles an dieser Musik rätselhaft bleiben. Der feierliche Choral, der an die Stelle des erwarteten Schlußsatzes tritt, wird von Episoden völlig anderer musikalischer Provenienz unterbrochen, hinter denen sich wohl für den Außenstehenden nicht zu enträtselnde Chiffren verbergen. Wahrscheinlich sind Herzogenbergs Worte vom „Stück, was ich sonst niemandem zeigen möchte“ auf die Intimität dieser Stellen gemünzt. Doch die Empfindung, aus der diese Musik geboren wurde, ist so echt und unmittelbar, daß sie uns auch über diese Barriere hinweg erreicht. Und wenn Herzogenberg in den letzten Takten des Werkes auf die Kadenzwendung des langsamen Satzes zurückgreift, hat er in der Schlichtheit dieser Geste mehr und Tieferes über sich und die hier musikalisch verewigte Geliebte gesagt, als es Worte je vermöchten.

© by Claus-Christian Schuster

Dvořák: Zweites Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncell, Es-Dur, op.87 [B 162]

Antonín Dvořák

* 08. September 1841
† 01. Mai 1904

Zweites Quartett für Pianoforte, Violine, Viola und Violoncell, Es-Dur, op.87 [B 162]

Komponiert:Vysoká u Príbrami, 10. Juli – 19. August 1889
Uraufführung:München, Kammermusikvereinigung, 3. November 1890
Heinrich Schwartz (1861-1924), Klavier
Karl Hieber, Violine
Penzl, Viola
Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello

Prag, Umelecká beseda, 23. November 1890
Hanuš Trnecek (1858-1914), Klavier
Ferdinand Lachner (1856-1910), Violine
Petr Mareš , Viola
Hanuš Wihan (1855-1920), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1890

Fritz Simrock, der es verabsäumt hatte, sich das erste Klavierquartett rechtzeitig zu sichern, hatte schon mehrere Jahre hindurch vergeblich versucht, Dvorák zur Komposition eines neuen Werkes dieser Gattung zu bewegen. Nach mehreren erfolglosen Vorstößen schreibt er im Sommer 1888 aus Berlin nach Vysoká:

„Ein Klavier-Quartett von Ihnen hätte ich immer gerne – und Sie haben mir´s lange versprochen! Wie ist es damit?? Nur Partiturenwerke drucken, das ist eine zu teure Sache, dabei kann man unmöglich bestehen.“
(27. Juli 1888)

Das waren nun eben nicht gerade die Argumente, die Dvoráks Inspiration anregen konnten – die Klage des Kaufmanns Simrock über die aufwendigen Orchesterpartituren hatte er in den letzten Jahren schon allzuoft zu hören bekommen. Wenn er dann freilich einfacher zu druckende Werke, etwa Klavierstücke oder Lieder, anzubieten hatte, durfte er fast sicher sein, über den Preis wochenlang feilschen zu müssen (wobei er sich allerdings immer als eben so zäher wie selbstbewußter Geschäftspartner erwies). Einige Monate später führten solche Verhandlungen fast zum Eclat – Dvorák forderte zuletzt sein Manuskript (die Písné Milostné/Liebeslieder, op.83/B 160) energisch zurück; das Postscriptum dieses Schreibens ist nicht nur für die versöhnliche und umgängliche Art des Meisters bezeichnend, es ist auch der erste Vorbote unseres Quartetts:

Ein Klavierquartett oder sonst was Ähnliches will ich bald anfangen. Auch hätte ich Lust, eine oder zwei „Slawische Rhapsodien“ zu schreiben, aber noch mehr lustig und recht brillant. Was meinen Sie?
(21. Dezember 1888)

Der Liebeslieder-Streit wurde shcließlich doch noch gütlich geregelt; es dauerte dann aber immerhin noch ein gutes halbes Jahr, bis Dvorák sich wirklich an die Komposition des Quartetts machte – und man darf wohl annehmen, daß er damit weniger dem Drängen seines Verlegers nachgab, als einfach einer inneren Notwendigkeit folgte.

Nach der Vollendung des Klavierquintetts (op.81/B 155; 3. Oktober 1887) hatte Dvorák mehr als ein Jahr an seiner Oper Jakobín (op.84/B 159; 10. November 1887 – 15. November 1888) gefeilt, die am 12. Februar 1889 im Prager Nationaltheater mit großem Erfolg uraufgeführt worden war. In dieser außerhalb des tschechischen Sprachraumes noch immer so gut wie unbekannten Meisteroper hatten Dvorák und seine erprobte Librettistin Marie Cervinková-Riegrová (1854-1895) mit der köstlichen Figur des Regenschori Benda nicht nur dem gleichnamigen Komponisten, sondern vor allem Dvoráks erstem wichtigen Förderer, Anton Liehmann, bei dem der halbwüchsige Fleischhauerlehrling von 1854 bis 1856 in Zlonice Deutsch- und Musikunterricht erhalten hatte, ein liebenswertes Denkmal gesetzt; und es ist offensichtlich, daß die Arbeit an dieser Oper, deren ganzes Ambiente den Komponisten in die Welt seiner Kindheit und Jugend zurückversetzte, ein retrospektives Element, das sich schon seit einiger Zeit in seinem Schaffen manifestiert hatte, verstärkte. Bereits das Klavierquintett war ja durch die Rückbesinnung auf ein Jugendwerk angeregt worden, und außerdem hatte in der Produktion der Jahre 1887 und 1888 die Überarbeitung älterer Kompositionen eine ungewöhnlich wichtige Rolle gespielt. Wie man am Beispiel des Klavierquintetts sehen kann, standen mitunter auch Neukompositionen in engem gedanklichen Zusammenhang mit längst abgeschlossenen Werken. Es ist also recht gut denkbar, daß auch das neue Klavierquartett nicht nur, wie offensichtlich, eine Fortsetzung und Vertiefung der bei der Komposition des Klavierquintetts gemachten Erfahrungen, sondern in mancher Hinsicht auch ein dialektischer Kommentar zum ersten Werk dieser Gattung ist.

Wenige Wochen nach der Uraufführung des Jakobín reiste Dvorák nach Dresden, um dort seine V. Symphonie (F-Dur, op.76/B 54 – das Nachbarwerk des ersten Klavierquartetts) zu dirigieren. Unmittelbar danach, am ersten Sonntag im April 1889, stattete er nach langer Zeit wieder einmal seinem Geburtsort Nelahozeves (den K.u.K.-Behörden aus unerfindlichen Gründen auch unter dem deutschen Namen „Mühlhausen“ bekannt) Besuch ab. Im herrschaftlichen Schloß der Fürsten Lobkowitz, das den unscheinbaren Ort an der Moldau überragt, war jetzt ein Mädcheninternat untergebracht, das Dvorák am Nachmittag besuchte. Die ganze Szenerie, die man ohne wesentliche Retouchen als Bühnenbild für den Jakobín verwenden hätte können, inspirierte Dvorák dazu, vor den Elevinnen am Klavier lange über Motive aus seiner Oper zu phantasieren. Wahrscheinlich war dieser an der Stätte seiner frühesten Erinnerungen verträumte Tag die Geburtsstunde von Dvoráks erfolgreichstem Solo-Klavierwerk, den Poetické nálady (Poetische Stimmungsbilder, op.85/B 161), deren erstes in Prag am 17. April 1889 niedergeschrieben wurde. Das dreizehnte und letzte Stück der Sammlung wurde am 6. Juni schon in Vysoká, dem Landhaus und Sommerdomizil des Komponisten, beendet. Dieser Zyklus bildet eine ideale Brücke zwischen den Charakteren des Jakobín und der Vorstellungswelt des kurz darauf in Angriff genommenen zweiten Klavierquartetts: Der Zusammenhang zwischen den beiden Werken wird an einer Vielzahl von Details, angefangen von typischen harmonischen Wendungen und tonalen Beziehungen bis hin zu unverwechselbaren Besonderheiten der Klaviertextur, sicht- und hörbar; im dritten Stück (Na starém hrade/Auf der alten Burg) scheint sogar schon der tonale Grundplan unseres Quartetts skizziert zu sein.
Wenige Tage nach Abschluß der Poetické nálady erreichte Dvorák die Nachricht, daß ihm Seine Kaiserliche Majestät den „Orden der Eisernen Krone III. Klasse“ verliehen hatte, worüber sich der Ausgezeichnete fast ebenso sehr freute, wie über die launige Gratulation seines Schickslasgenossen Johannes Brahms, der sich nun als „Ritter des Leopoldsordens“ gerieren durfte. (Ob Dvorák die Haltung seines Freundes – „Orden sind mir wurscht – haben will ich sie!“ – teilte, ist nicht überliefert.)

Am 10. Juli 1889 begann der ausgezeichnete Komponist, den ersten Satz des Klavierquartetts zu skizzieren. Der sommerliche Aufenthalt in Dvoráks geliebtem Vysoká war diesmal von besorgniserregenden Krankheiten und einem Todesfall in der Familie überschattet. Trotzdem schritt die Arbeit so rasch voran, daß er schon einen Monat später seinem lieben Freund Alois Göbl (- eine der wichtigsten Bezugspersonen Dvoráks, dem zu Ehren er seine jüngste Tochter Aloisia [*4. April 1888] taufen ließ -) berichten kann:

Sie wollen wissen, was ich mache? Mir ist der Kopf so voll von Einfällen, wenn nur ein Mensch das alles aufschreiben könnte! Aber was nützt es, ich muß schreiben, wie die Hand es eben kann, und das übrige möge Gott geben. Jetzt habe ich schon drei Sätze eines neuen Klavierquartetts geschrieben, und mit dem Finale werde ich in einigen Tagen fertig sein. Es geht über Erwarten gut, und die Melodien laufen mir nur so zu. Gott sei´s gedankt!
(10. August 1889)

Daß dem glücklichen Komponisten die Melodien wirklich nur so zulaufen und -fliegen, kann man auf jeder Seite dieser Partitur nachprüfen, und dafür mag man sich getrost Dvoráks bescheidenem Dank an eine noch über Seiner Kaiserlichen Majestät stehende Instanz anschließen; daß aber das Werk in dieser Überfülle von Ideen nicht ertrinkt, sondern sich in monumentaler Klarheit entfaltet, dafür wird der Meister sich unsere unmittelbarere Bewunderung wohl gefallen lassen müssen.

Der Zusammenhalt der vier Sätze des Werkes mit ihrem erstaunlichen Reichtum an Motiven und Entwicklungslinien wird in erster Linie durch ein gemeinsames tonales Beziehungsschema gewährleistet. Die „äußere“ Tonartenfolge (Es-Dur – Ges-Dur – Es-Dur – es-moll/Es-Dur) läßt dieses Konstruktionsprinzip nur erahnen. Um so deutlicher zeigen sich aber die Verbindungslinien im Inneren der Sätze: Das ganze Werk hindurch sind die Variante (Es-moll), die Submediante (Ces-Dur bzw. H-Dur) und deren Dominante (Ges-Dur) als tonale Zentren mit einem ausgeprägten Hang zur Tonikalisierung wirksam; die nominale Haupttonika (Es-Dur) wird dagegen auffällig sparsam eingesetzt, behält aber gerade deshalb bis zum Schluß ungewöhnliche farbliche Frische und dramaturgische Kraft. Der Strategie ist nicht völlig neu (schon Beethoven hat in ähnlicher Richtung experimentiert), wurde aber selten mit so großer Konsequenz und so befriedigendem Resultat durchgehalten.

Gleich die Eröffnung des Kopfsatzes (Allegro con fuoco) demonstriert die gewählte Vorgangsweise paradigmatisch: Ganze fünfundzwanzig Takte lang dauert es, bis sich die Grundtonart das erste Mal unverschleiert zu erkennen gibt – der Umweg, auf den uns ein die majestätische Monumentalität des Hauptgedankens mit zupackender Rhythmik ergänzendes Trabantenmotiv zwingt, führt auf kühner Route über Ges-Dur, B-moll/B-Dur, Ces-Dur, E-moll und F-moll durch eine dramatische Hochgebirgsszenerie. Sogar das heroische Hauptthema muß sich den Notwendigkeiten dieser abenteuerlichen Taktik fügen: Schon im ersten Takt ersetzt ein rätselhaftes H (=Ces), dessen programmatische Bedeutung sich erst nach und nach enthüllen wird, den Dominantton B. Das schließlich triumphal in seiner „wahren“ Gestalt präsentierte Thema kann sich dann nur ganze vier Takte lang im Licht des endlich erreichten Es-Dur sonnen; schon die erste Abspaltung entführt uns wieder über Es-moll nach Ges/Fis-Dur, das sich aber diesmal nur als eine Zwischenstation auf dem Weg zum Seitensatz erweist. Hier wird in effektvoller Erweiterung des bisher abgesteckten tonalen Rahmens die Mediante G-Dur etabliert, in der sich das entwaffnend schlichte Seitenthema entfaltet. Dieses entbehrt genauso wie das erste Hauptthema markanter rhythmischer Merkmale – sein Kontrast zu jenem manifestiert sich in Melodie und Metrik: Melodisch ist es eine Art (sehr freier) Umkehrung des ersten Themas, und metrisch ersetzt es dessen männliche Verse durch trochäische, wie sie als Folge der tschechischen Prosodie auch im Volkslied häufig vorkommen. Während das kämpferische Hauptthema in seinem harmonisch zerklüfteten Ambiente ständig von Zersetzung und Aufsplitterung bedroht war, darf sich das unschuldige Seitenthema in dieser G-Dur-Enklave nach Lust aussingen, was es auch in immer üppiger werdender Verzierung tut, bis sich über den Schlußtrochäen plötzlich das Hauptthema wieder energisch zu Wort meldet. Dieser unvorhergesehene Konflikt führt zu einer beklemmenden (und sehr opernhaft anmutenden) Unterbrechung, aus der sich die entschlossene Wiederkehr des Satzanfangs mit siegessicherer Geste erhebt.
Doch diesmal ist gar keine Kraftanwendung nötig, um das selbstbewußte Hauptthema vom Weg abzudrängen: Die fragende Wiederholung seiner Schlußwendung führt – mit einer einprägsamen Rückung – über Es-moll nach H-Dur. An diesem Punkt, der den eigentlichen Beginn der Durchführung markiert, ist die angriffslustige Rastlosigkeit des Trabantenmotivs zu kleinlauter Ratlosigkeit geworden, und das von den vier Instrumenten nacheinander durch vier Oktaven getragene Eingeständnis der Ohnmacht zeigt eindrucksvoll die Handschrift des Musikdramatikers Dvorák. Damit ist der Nadir des Satzes erreicht. Von hier drängt die Wiederaufnahme der Schlußwendung des Hauptthemas über einen knappen chromatischen Modulationszug zu einer alle „kammermusikalische“ Rücksicht hinter sich lassenden Entwicklung: In viermaligem Anlauf verbinden sich das pathetisch deklamierte (und deformierte) Hauptthema und sein kämpferischer Trabant über schrill dissonanten Akkordflächen zu einer Steigerung von unerhörter dramatischer Intensität. Die scheinbare Stabilität, die von den großräumigen Orgelpunkten in dieser sechzehntaktigen Kulmination ausgeht, verstärkt nur die Wucht der hier gebannten Spannung. Die angestaute Energie entlädt sich schließlich in einer den Themenkopf abwechselnd verkleinernden und vergrößernden Passage, an deren Ende eine rhapsodisch erweiterte und veränderte Rekapitulation des Hauptthemas steht. Erst die Fortsetzung macht klar, daß wir uns damit schon auf dem Boden der Reprise befinden – die Molldominante (B-moll), mit der wir diesen wichtigen Punkt erreichen, läßt aber keinen Zweifel darüber, daß hier keine „regelmäßige“ Wiederholung des Expositionsgeschehens folgen kann. Die kadenzierende Bekräftigung dieser problematischen und destabilisierenden Tonart wird auch sogleich mit einer abrupten Terzrückung (B-moll – Fis-Dur) umgangen, die übrigens ein genaues Abbild des die Durchführung einleitenden Modulationsschrittes (Es-moll – H-Dur) ist. Die bewußte Disposition solcher stark wirkenden Details ist ein formales Ordnungsprinzip, auf das Dvorák vor allem dann zurückgreift, wenn die Komplexität eines Ablaufs seine Durchhörbarkeit zu beinträchtigen droht. (Diesen Kunstgriff hatte Dvorák, nicht so prononciert und wohl mit weniger bewußtem Kalkül, schon an ganz analoger Stelle im Klavierquartett op.23 angewendet.) Vollends genial ist aber die Konsequenz, die der Komponist hier aus diesem Detail ableitet: Wir erinnern uns, daß in der „Parallelstelle“ zu Beginn der Durchführung der charakteristischen Rückung als retardierendes Element ein ratloses Innehalten folgte. Ganz analog wird jetzt der letzte Halbtonschritt des Trabantenmotivs gedehnt wiederholt – doch diesmal folgt hier die Reprise des Seitenthemas, und Dvorák läßt, anders als zu Beginn der Durchführung, das Halbtonmotiv nicht verstummen: Er gibt ihm nicht nur eine sublime instrumentale Gestalt (das ostinate Seufzermotiv, mit dem das Violoncello die Wiederkehr des unschuldigen Seitenthemas kommentiert, gehört sicher zu den Eingebungen, die im Englischen treffend haunting genannt werden), sondern er verwendet diesen unbeirrbar wiederholten Tonschritt G-Fis gleichzeitig auch dazu, eine subtile Verbindung zwischen Exposition (G-Dur/Mediante) und Reprise (H-Dur/Submediante) des Seitenthemas herzustellen. Rückblickend erscheint somit die in der Exposition überraschend gewählte Mediante als das Spiegelbild der in der tonalen Gesamtarchitektur des Werkes tragende Funktion erfüllenden Submediante – und damit wird auch schon der Blick auf die „Spiegelachse“, die bisher nahezu aufgesparte Tonika frei. Das Resultat dieser herrlichen Eingebung läßt nicht lange auf sich warten: Schon nach acht Takten wendet sich der Seitensatz, der bei seinem ersten Erscheinen unbeirrbar und naiv in G-Dur verankert war, von H- nach Es-Dur und leitet so endlich (wir stehen immerhin schon an der Schwelle zum letzten Drittel des Satzes!) die für das tonale Gleichgewicht des ganzen Werkes entscheidende Bestätigung der Tonika ein. Und jetzt wird auch klar, warum Haupt- und Seitensatz in der Reprise Platz tauschen mußten: Erst die nachgereihte Wiederkehr des Hauptthemas, das sich jetzt großflächig ausbreiten kann, schafft und nützt den für diese monumentale Bekräftigung der Tonika erforderlichen Raum. (Die emphatische Konzentration auf den Hauptthemenkomplex und die damit Hand in Hand gehende völlige Aussparung des Seitensatzmaterials in der Durchführung, mag man nach Belieben als Grund oder Folge dieses Plans betrachten; daß die Reprisenumreihung sich aber auch aus diesem Blickwinkel rechtfertigt, ist jedenfalls unbestritten.)
Es fügt sich wie von selbst in das bewundernswerte Kalkül dieser Dramaturgie, daß die Tonika nach so großzügiger Stärkung mit den abschließenden Kadenzen wieder weit in den freien Tonraum ausschwingen kann und so den Weg für die folgenden Sätze eröffnet. Und natürlich hat Dvorák für diesen vielversprechenden Ausblick auch wieder eine kongeniale instrumentale Formulierung gefunden: Nachdem das Terrain für die erste erweiterte Kadenz gleichsam im Sturm erobert ist, wird sie verhalten und schattenhaft (Poco sostenuto e tranquillo) mit erschaudernden Streichertremoli und weitgespannten Klavierakkorden wiederholt, bevor die entschlossene Wiederaufnahme des Tempos den Satz beschließt. Wer staunt nach all den Wundern dieses Satzes noch darüber, daß sogar in dieser allerletzten herrischen Abschlußgeste die mächtigen Protagonisten Ces und Ges (als einzige leiterfremde Töne) ihre Stellung behaupten?

Wie hoch auch immer die Erwartungen nach einem so eindrucksvollen Kopfsatz gespannt sein mögen – mit dem folgenden Lento (Ges-Dur) erfüllt und übertrifft Dvorák sie alle. Die selbstverständliche Schlichtheit, mit der er ihm das gelingt, erinnert an Schubert, der vielleicht auch bei der formalen Gestaltung des Satzes Vorbild war. Die dramatische Stringenz und der evolutive Reichtum des ersten Satzes waren so groß, daß Dvorák, um dem Lento eigenes Gewicht und Gesicht zu geben, hier radikal auf diese Gestaltungsmittel verzichtet – fast nichts an diesem Satz hat etwas mit dialektischer Entwicklung zu tun. Die gewählte, linear additive Form spiegelt diesen Umstand ganz deutlich wider: Eine Folge von fünf thematischen Gedanken wird zweimal präsentiert und mit einer den letzten Gedanken kadenzierend weiterführenden Coda beschlossen (ABCDE ½ABCDE). Der Umstand, daß die Abschnitte C-E im zweiten Teil des Satzes um eine Quint transponiert erscheinen, läßt es zu, in ihnen eine Art Seitensatz zu sehen, und die Gesamtform als eine durchführungslose „Sonatenform“ zu interpretieren. Diese Sichtweise wird auch durch die zwischen A-B einerseits und C-D-E andererseits bestehenden deutlichen motivischen Zusammenhänge unterstützt. Einzig der Übergang zu Abschnitt D, der ein pathetisch erregtes Element in den ansonsten rein kontemplativen Satz einbringt, greift auf das Entwicklungsprinzip der Abspaltung zurück – alle anderen Gedanken werden einfach wie Perlen aneinander gereiht. Dieser bewußten „Kunstlosigkeit“ des formalen Aufbaus entspricht im tonalen Plan eine großräumige Stabilität, die in denkbar größtem Kontrast zur Komplexität der tonalen Beziehungen innerhalb des ersten Satzes steht: als Grundtonarten der einzelnen Formglieder werden nur Tonika und Dominante sowie (für den Abschnitt D) deren Mollvarianten verwendet.
Eine so kühle Aufzählung der konstruktiven Mittel, mit denen Dvorák die Individualität dieses Satzes gegen seinen übermächtigen Vorgänger verteidigt, sagt freilich über seine beiden wesentlichsten Wirkungsebenen noch gar nichts aus. Wie jeder Einzelsatz eines zyklischen Werkes muß ja auch dieses Lento sowohl eigenwertige Individuation einer nur ihm spezifischen Idee als auch untergeordneter Teil einer übergreifenden Gesamtarchitektur und -dramaturgie sein. Auf der ersten Ebene geht die Wirkung des Satzes von seiner träumerischen Innigkeit und schlichten Unmittelbarkeit aus – also von seinen narrativ-emotionalen, im engsten Sinne „musikalischen“ Qualitäten, die sich verbaler Umschreibung und Bewertung ohnedies entziehen. Was aber die Einordnung in das Gesamtgefüge betrifft, so hat Dvorák hier eindrucksvoll demonstriert, mit welch geringen Mitteln ein Meister große Wirkungen erzielen kann: Die Einbindung des Satzes in den größeren Kontext des ganzen Werkes beruht nämlich im wesentlichen auf nichts anderem als der wohlbedachten Placierung eines Es-Dur-Akkordes in den Mittelpunkt des Abschnittes A. Die tiefere Bedeutung dieser (isoliert betrachtet gar nicht außergewöhnlichen) Wendung wird dadurch unterstrichen, daß, während alle anderen Formteile eingliedrig konzipiert sind, nur dieser Abschnitt aus drei distinkten Phrasen besteht, und sich die Modulation durch das dem zweiten Takt aller drei Phrasen gemeinsame Es-moll nachdrücklich ankündigt. Vor allem vor dem Hintergrund der schon erwähnten großflächigen tonalen Stabilität des Satzes entfaltet dieses eigentlich winzige Detail eine (von seiner analytischen Begründung natürlich völlig unabhängige) Wirkung von elementarer Kraft – sicher nicht der geringste Reiz dieses Stückes, das zu Recht als einer der tiefsten und schönsten Dvorák-Sätze gerühmt wird.

Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises bedurft hätte, wie sehr Dvorák in diesem Werk an der Schaffung eines engmaschigen und tragfähigen tonalen Beziehungsgeflechtes gelegen war, so wäre er mit den Eröffnungstakten des dritten Satzes (Allegro moderato, grazioso, Es-Dur) erbracht: Der entschlossene Mut dieses Anfangs zielt nicht etwa darauf ab, ein die verträumte Stimmung des zweiten Satzes konterkarierendes, angriffslustiges Scherzo anzukündigen, er will nur die Wichtigkeit des in diesen Takten vollzogenen, die beiden Sätze aneinander bindenden Modulationsschrittes (Ges-Dur – Es-moll – Es-Dur) betonen. In der Tat folgt auch kein energiegeladenes Scherzo, sondern ein fragiles, „altmodisches“ Menuett, in dem Anmut und Wehmut einander die Waage halten. In Umkehrung der „traditionellen“ Verhältnisse zwischen Hauptteil und Trio bringt erst dieses (Un pochettino più mosso, H-Dur) ein die Stimmung vom Tänzerischen ins Dramatische belebendes, kräftigendes Element ins Spiel, während jener zwischen rokokohafter Grazie, unschuldigem Fernweh und bukolischer Naivität irisiert. Der Nuancenreichtum des Hauptteils bedingt auch seine gegenüber dem knapp formulierten Trio ausgedehntere fünfteilige Form (ABAB´A-Coda). Der „orientalische“ Zauber, der von der übermäßigen Sekund des zweiten Themas (B) ausgeht, läßt einen unwillkürlich an Borodin denken, könnte aber ebensogut – und in vielleicht größerer Übereinstimmung mit der Rokokogestik des Menuetts – auch mit den naiven Exotismen (Chinoiserie, Alla-Turca-Mode etc.) des XVIII. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht werden. Das „exotische“ Detail ist übrigens aus einer ganz heimatlichen Tanzwendung des ersten Themas (A) abgeleitet und erscheint auch danach (B´) noch einmal in einer – gewissermaßen das räumliche durch ein zeitliches Fernweh ersetzenden – modalen Variante (ohne die übermäßige Sekund).
Dem Grundcharakter des Satzes entsprechend ist hier die Es-Dur-Herrschaft weniger umstritten als in den anderen Sätzen. Die Konstruktionslinien des tonalen Gesamtplanes werden aber nicht nur in den erwähnten Anfangstakten, sondern auch im H-Dur des Trios hörbar, während die beiden Episoden des Hauptteiles (B und B´) in G-moll und Es-Dur/As-Dur stehen.

Am unmittelbarsten kommt die Fernwirkung des im Kopfsatz angelegten Tonartenplanes im Finale (Allegro, ma non troppo, Es-moll/Dur) zur Geltung. Dabei treten auch die direkten Beziehungen zwischen den beiden Ecksätzen besonders deutlich zutage: Ganz wie im ersten Satz kann sich die Durtonika erst im letzten Drittel des Satzes – dann aber umso machtvoller – behaupten; und genau wie in dem analog gebauten Schwesternsatz kommt auch im Finale die Durchführung ohne das Seitenthema aus. In der Großform der beiden Sonatensätze ist der relevanteste Unterschied, daß Dvorák diesmal, dem geradlinig-unbekümmerten Charakter des Schlußsatzes entsprechend, auf die Umreihung von Haupt- und Seitensatz in der Reprise verzichtet. Ganz volkstümlich, im Brahms´schen Sinne „zigeunerisch“ ist die Präsentation des Hauptthemas, das zunächst als siebentaktiges Motto erscheint, um dann zweimal in seiner sechstaktigen „Normalgestalt“ wiederholt zu werden, wobei alle drei, nahezu identen Phrasen unbeirrbar auf der Dominante als Zieltonart beharren. Aber die so zur Schau gestellte monolithische Unveränderlichkeit des auch in Melodik und Rhythmik ganz elementaren Themas kann es doch nicht vor dem übermütig-respektlosen Zugriff der gleich darauf entfesselten Durchführungsprozesse schützen: Eine das Thema in spöttischer Verkleinerung paraphrasierende Variante und eine den trotzigen Themenkopf ins Sehnsüchtige wendende lyrische Nebengestalt führen unseren stolzen Helden, einander ablösend und unter ausgiebigem Einsatz imitatorischer Beredtheit, nach Ges/Fis-Dur, aus dem sich das beseelt schwärmerische H-Dur-Seitenthema löst. Dieser neue Gedanke hat die mit seinem Charakter in tiefem Einklang stehende Form einer asymmetrisch verschränkten, fünfzehntaktigen Periode mit der für solche Themen typischen Umkehr der Harmoniefolge (das in die Ferne schweifende I-V anstelle des domestizierten V-I): Kein Wunder also, daß seine liebevolle Begeisterung auf der erreichten Dominante (Fis-Dur) in einem innigen Epilog ausschwingen muß, wobei aber jetzt ein symmetrischer Sechzehntakter geordnete Verhältnisse schafft – im übrigen ganz ohne der Innigkeit der Empfindung, die sich auch in der exquisiten Süße der Harmonik niederschlägt, Abbruch zu tun. Die Schlußgruppe setzt das durch den Seitensatz unterbrochene Spiel mit erneuter Energie fort. Ein Vergleich mit der Exposition des Kopfsatzes lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die ungleich größere tonale Stabilität im Finale – die Durparallele (Ges/Fis-Dur) tritt hier nahezu als Alleinherrscherin auf, was dem tänzerisch gelösten und befreiten Charakter des Satzes trefflich entspricht. Wie aber die schon vorweg konstatierten Parallelen zwischen den beiden Sätzen vermuten lassen, können die Erschütterungen und Kämpfe des ersten Satzes nicht ohne Nachhall bleiben, und naturgemäß ist die (der Wiederholung der Exposition folgende) Durchführung der Ort, an dem solche Erinnerungen am ehesten beschworen werden können. Sie beginnt mit einer Kette von kühnen harmonischen Rückungen, die das (aus dem Incipit abgeleitete) lyrische Nebenthema aus seiner Sanftmut wecken und es zu kämpferischer Entschlossenheit reizen. Doch – wieder eine der von Dvorák so effektvoll gehandhabten Verzögerungen – der Elan erlahmt jäh, und die energischen Staacatoachteln des Anfangs zerstäuben zu einem beklommenen Ostinato, das den Hintergrund zu einer choralartigen Vergrößerung des Nebenthemas bildet. Mit den Terzmodulationen dieses Chorals (f-As-Ces) kehren auch die Lebensgeister wieder, und schließlich führt eine verkürzte Variante des Hauptthemas den begonnenen Modulationszug in vollem Harnisch zu Ende (h-D). Schließlich muß auch die spöttische Verkleinerung aus der Exposition den Ernst der Lage erkennen: In halsbrecherischen Modulationen wird sie, zuletzt nur noch auf in ungeordneter Flucht dahinhastende chaotische Skalenfragmente reduziert, in die Enge getrieben. Am Fluchtpunkt dieser Passage erscheint das chromatisch verfremdete und drohend vergrößerte Incipit als steinerner Gast – eine dramaturgischer Geniestreich, der nur den kleinen Schönheitsfehler hat, daß er banale irdische Gegebenheiten einfach ignoriert (das für die Wirkung der Stelle entscheidende klangliche Gleichgewicht des Kanons zwischen Klavier und Violoncello ist in der notierten Lage vielleicht einem willigen Zuhörer zu suggerieren, nicht aber wirklich herzustellen). Diese Kulmination vertritt gleichzeitig auch das siebentaktige Anfangsmotto, so daß die unmittelbar anschließende Reprise direkt mit den beiden Sechstaktern beginnen kann. An die Stelle der Modulation nach Ges-Dur tritt jetzt endlich der lang erwartete Durchbruch der Durtonika, auf der die Reprise in genauer Analogie zur Exposition beendet und mit einer knappen, aber kraftstrotzenden Coda bekrönt wird. Und was in der erweiterten Codakadenz des ersten Satzes eine verhaltene, schattenhafte Andeutung war, ist hier in gleißendes Licht getaucht – auch in den strahlenden Es-Dur-Schlußjubel klingt noch einmal die stolze Submediante Ces-Dur: „Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!“

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Klavierquartett Nr.3, c-moll, op.60

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Klavierquartett Nr.3, c-moll, op.60

Komponiert:Düsseldorf, 1855/56; Wien 1869, 1873/74;, Rüschlikon, Sommer 1874; Ziegelhausen, Sommer 1875
Uraufführung:Wien, Musikverein, 18. November 1875
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Sigismund Bachrich (1841-1913), Viola
Friedrich Hilpert (1841-1896), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Berlin, November 1875

Obwohl im Oeuvre von Johannes Brahms langwierige und komplizierte Entstehungsgeschichten durchaus keine Seltenheit sind, stellt die sich über zwanzig Jahre hinziehende Gestaltwerdung des dritten Klavierquartetts einen Sonderfall dar. Die Urfassung des Werkes entstand gleichzeitig mit den ersten Entwürfen zu den ersten beiden Klavierquartetten (op.25 und op.26), nach dem übereinstimmenden Zeugnis der Jugendfreunde Albert Dietrich und Joseph Joachim schon im Jahre 1855. Das Quartett stand damals in cis-moll. Offenbar wurden in dieser ersten Entstehungsphase nur die Ecksätze komponiert, denn am 18. Oktober 1856 vermerkt Clara Schumann in ihrem Tagebuch:

„Johannes hat seinen Concertsatz beendet – wir haben ihn mehrmals auf zwei Clavieren gespielt. Zu seinem Cis-moll-Quartett hat er ein wunderschönes Adagio componirt – tiefinnig.“

Bei dem „Concertsatz“ handelt es sich um die Urfassung des ersten Klavierkonzertes; diese Nachbarschaft ist im Hinblick auf den Bekenntnischarakter beider Werke nicht ohne Bedeutung. (Ob der langsame Satz des Quartetts wirklich jemals ein „Adagio“ war, oder ob es sich, was wahrscheinlicher ist, einfach um einen Irrtum Claras handelt, muß ungeklärt bleiben.)
Wenige Tage später reiste Brahms nach Hamburg, wo er am 22. November zusammen mit Joseph Joachim an einem Gedenkkonzert für Robert Schumann mitwirkte. Bei dieser Gelegenheit probierte man das (jetzt dreisätzige) Werk, offenbar in Eile und unter schlechten Bedingungen: Joachim nennt dieses Durchspiel schlicht „eine Schweinerei“, und Brahms verteidigt eine von seinem Freunde beanstandete Note mit den Worten:

„…vom eis… kann ich gar nicht lassen; wie mir´s im Ohr klingt, klang es am Montag freilich nicht, sie griffen je e und fis mit…“
(An Joachim, November 1856)

Joachim mußte also, um sich ein klareres Bild des neuen Werkes machen zu können, das Manuskript zum Studium mit nach Hannover nehmen, von wo aus er es einige Tage später (29. November) dem Komponisten mit einem schwärmerisch begeisterten, aber durchaus auch konstruktiv kritischen und recht detaillierten Kommentar zurücksendet. Aus diesem Brief wissen wir, daß das Werk damals aus einem „Allegro“, einem „Andante“ und einem „konzisen Finale“ bestand.
Während die beiden Schwesterwerke aber zwischen 1859 und 1861 ihre endgültige Gestalt erhielten (und Brahms im Herbst 1862 ein fulminantes Entrée in Wien verschafften), verschwindet das dritte Quartett auf viele Jahre aus unserem Gesichtskreis. Erst 1869 scheint Brahms das Werk wieder vorgenommen zu haben; um diese Zeit dachte er auch schon an eine Veröffentlichung (als „op.54“). Seine endgültige Gestalt erhielt das Werk aber dann doch erst im Winter 1873/74 in Wien. Wahrscheinlich wurde es während des darauffolgenden Sommers, den Brahms in Rüschlikon am Züricher See verbrachte, noch einmal überarbeitet, denn erst am 23. Oktober 1874, einige Wochen nach seiner Rückkehr aus der Schweiz schickt Brahms das Manuskript an Theodor Billroth mit den lakonischen Zeilen:

„Das Quartett wird bloß als Kuriosum mitgeteilt! Etwa eine Illustration zum letzten Kapitel vom Mann im blauen Frack und gelber Weste.“

Dieser Hinweis auf den Goetheschen Werther ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: erstens gibt Brahms uns so gut wie nie außermusikalische Schlüssel zum Verständnis seiner Werke in die Hand; die musikalischen Charakterisierungen aber, die in seiner Korrespondenz häufig die Ankündigung neuer Werke begleiten, erweisen sich in der Regel als humor- und absichtsvolle Irreführung. Hier jedoch haben wir es offensichtlich mit einer recht wörtlich zu nehmenden Assoziation zu tun, die noch dadurch an Gewicht erhält, daß Brahms über mehrere Jahre hinweg immer wieder zu diesem selben Bilde greift, wenn die Rede auf das Quartett kommt: Hermann Deiters zitiert Brahms mit den Worten: „Nun stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich eben totschießen will, und dem nichts anderes mehr übrig bleibt.“ (1868). Seinem Verleger Fritz Simrock schreibt Brahms am 12. August 1875:

„Sie dürfen auf dem Titelblatt ein Bild anbringen, nämlich einen Kopf mit der Pistole davor. Nun können Sie sich einen Begriff von der Musik machen! Ich werde Ihnen zu dem Zweck meine Photographie schicken! Blauen Frack, gelbe Hose und Stulpstiefeln können Sie auch anwenden…“

Der burleske Unterton vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, wie bitter ernst diese Werthersche Parallele zu nehmen ist. Und es bedarf weder übertriebener Phantasie noch journalistischer Indiskretion, um sich mit Blick auf die Düsseldorfer Jahre 1855/56 einen Reim auf diesen Bezug machen zu können.

Letzte Korrekturen und Änderungen nahm Brahms dann im Sommer 1875 während seines Sommeraufenthaltes in Ziegelhausen bei Heidelberg vor. Clara, die ihn dort am 17. Juli auf der Durchreise in die Schweiz besuchte, konnte eine Probe des Quartetts mitanhören, die bei ihr einen zwiespältigen Eindruck hinterließ:

„Über das Quartett habe ich noch viel gedacht, die drei letzten Sätze sind mir tief in´s Gemüth gedrungen, aber, dürfte ich mir erlauben es zu sagen, ich finde den ersten nicht auf gleicher Höhe stehend, es fehlt mir darin der frische Zug…“
(an Brahms, 23. Juli 1875)

Für die nach wie vor ungeklärten Fragen der Entstehungsgeschichte interessant ist ein am selben Tage an Albert Dietrich gerichtetes Schreiben Claras:

„Wir waren auf der Herreise einen Tag in Heidelberg, wo ich wahre Seelenstärkung atmete in Brahms´ neuen Liedern, Duetten und einem wundervollen Quartett in c-moll für Klavier und Streichinstrumente. Die ersten zwei Sätze hatte er schon früher gemacht (der erste ist mir weniger lieb, aber das Scherzo!) , und nun die beiden letzten Sätze, die sind wieder ganz genial, eine Steigerung bis zum Schlusse, daß man ganz hingerissen wird. Merkwürdig ist mir dabei auch die Einheit der Stimmung, obgleich die Sätze zu so verschiedenen Zeiten entstanden sind.“

Hält man zu dieser Aussage einen Satz, den Brahms in seinem oben zitierten Brief an Fritz Simrock (12. August 1875) schrieb – „dies Quartett ist zur Hälfte alt, zur Hälfte neu – es taugt also der ganze Kerl nichts!“ -, so ergibt sich, daß die letzten beiden Sätze des Werkes in der uns bekannten Gestalt wirklich „neu“ waren, daß also das veröffentlichte E-Dur-Andante nicht mit jenem Adagio/Andante identisch sein kann, von dem in den Tagebüchern und Briefen des Jahres 1856 die Rede ist. Die uns durch Max Kalbeck überlieferte Erinnerung Joachims, daß nämlich das Scherzo des Quartetts eine Metamorphose des Scherzos der im Oktober 1853 komponierten F.A.E.-Sonate (WoO 2) sei, ließe eine frühe Entstehung dieses Satzes vermuten, was sich mit den zuletzt angeführten Bemerkungen sehr gut in Einklang bringen ließe. Daß aber das „konzise Finale“, von dem Joachim schreibt, nichts anderes als eben dieses Scherzo gewesen sein sollte, muß (vor allem bei näherer Betrachtung der Joachimschen Detailkritik des Satzes) als äußerst unwahrscheinlich gelten. Man könnte also etwa folgende Satz- und Entstehungsfolge (ohne Berücksichtigung der unterschiedlichen Entwicklungsstadien) annehmen:

1855/56 1856/61 1869/75
Allegro (non troppo)
Scherzo. Allegro
Andante/Adagio Andante
Finale Finale. Allegro comodo

Zweiter und dritter Satz der cis-moll-Urfassung wären demnach gänzlich verworfen worden. Die traditionelle Begründung des „irrationalen“ E-Dur im Andante mit der Grundtonart dieser Frühfassung, wäre damit jedenfalls nicht in der zumeist vorgebrachten Weise stichhaltig.

Daß Clara im ersten Satz des Quartetts (Allegro non troppo) den „frischen Zug“ nicht fand, ist viel weniger verwunderlich, als daß sie ihn dort suchen konnte und wollte. Beklemmendere und düsterere Musik ist selten geschrieben worden. Der Kopfsatz des Herzogenbergschen Op.75, das in Metrum und Motivik deutliche (und sicher nicht zufällige) Bezüge zu diesem Satze aufweist, mutet – trotz seines Epitaphcharakters – im Vergleich geradezu gelöst und heiter an. Auch das tröstlich-innige Es-Dur-Seitenthema mit seiner sehnsüchtig pulsierenden Fortsetzung vermag nicht, sich gegen diese Stimmung ausweglos brütender Verzweiflung durchzusetzen, und erscheint in der Reprise fahl und ermattet.

Ganz analog dazu sind im Scherzo (Allegro, c-moll) die schüchternen Einwürfe in den mitleidlos dahinpeitschenden Sturm viel zu schwach, um sich Gehör zu verschaffen – das Trio, das im Scherzo der F.A.E.-Sonate immerhin noch eine, wenn auch sturmumtoste Insel im Aufruhr der Elemente war, ist hier völlig im Ozean der Unrast untergegangen.

In die Zeit der Endausarbeitung des Quartetts fällt Brahms´ Bekanntschaft mit Heinrich von Herzogenberg (29. Jänner 1874 in Leipzig). Vielleicht findet sich das „schlanke Frauenbild in blauem Samt und goldenem Haar“, das er bei dieser Gelegenheit wiedersah, in dem „neuen“ Andante (E-Dur) wieder? Das (heute verschollene) Autograph des Satzes hat Brahms jedenfalls wirklich Elisabet von Herzogenberg zugedacht:

„Zur Versöhnung wollte ich das Andante aus meinem dritten Klavierquartett beilegen, das sich noch vorfand, und das Ihnen ja gefiel. Ob ich es aus Eitelkeit oder aus Zärtlichkeit aufbewahrt habe, weiß ich nicht. Ich bringe es mit.“
(12. Dezember 1877)

Die wahrhaft überirdische Schönheit dieses Satzes ist schon für sich allein genommen berückend: vor dem Hintergrund der ihn umgebenden drei c-moll-Tragödien gewinnt diese Schönheit aber eine schmerzliche Intensität, die an die Grenzen des Menschen Erträglichen reicht.

Der Schlußsatz (Finale. Allegro comodo), von dem Max Kalbeck mit hochachtungsvollem Bedauern feststellt, hier trete die Individualität des Schöpfers doch allzusehr zurück, gehört zu den erschütterndsten und eindrucksvollsten „Verweigerungen“ der Musikgeschichte. Man stelle sich nur den Bruchteil eines Augenblickes lang einen kräftigen, gesunden oder auch nur schlicht normalen Finalsatz an seiner Stelle vor, um zu begreifen, wie unausweichlich das Werk auf diesen „nachkomponierten“ Schluß hin angelegt ist. Beethoven, der (in einer völlig anderen dramaturgischen Situation und mit wesentlich anderen Mitteln) das Finale eines seiner Klaviertrios (c-moll, op.1 Nr.3) ähnlich „scheitern“ läßt, hatte noch die Wahl – ein artistisch freies und spielerisches Element ist jenem Satz über alle Kompromißlosigkeit hinweg noch anzuhören. Hier aber ist die Freiheit einem inneren Zwang geopfert, der dem oberflächlich ironischen Bezug zu Werther einen erschreckend weitreichenden Sinn gibt. Nur der gedankenlosen Dur-Moll-Routine des Musikführer-Unwesens ist es zuzuschreiben, daß irgend jemand im C-Dur- Schluß des Werkes den erlösenden Frieden einer wirklichen Befreiung zu spüren und zu hören vermeinte. Und wer meint, den „hymnischen“ Ton des dritten Themas mit dem Finale der (zeitlich benachbarten) ersten Symphonie in Zusammenhang bringen zu können, wofür sich durchaus gestische und tonartliche Argumente finden ließen, möge auch bedenken, daß nicht überall, wo Hymnen angestimmt werden, eine Auferstehung zu feiern ist.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Klavierquartett Nr.2, A-Dur, op.26

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Klavierquartett Nr.2, A-Dur, op.26

Komponiert:Düsseldorf, 1855 (?)
Widmung:Elisabeth Rösing, geb. Reiffenberg (1797-1871)
Uraufführung:Wien, Musikverein (Tuchlauben), 29. November 1862
Johannes Brahms, Klavier
Josef Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Franz Dobyhal (1817-1894), Viola
Heinrich Röver (1827-1875), Violoncello
Erstausgabe:Simrock, Bonn, Juni 1863

Wenn es auch keine eindeutigen Belege dafür gibt, so darf es doch als wahrscheinlich gelten, daß Brahms den Plan zu seinem A-Dur-Quartett etwa gleichzeitig mit den ersten Skizzen zu den beiden Schwesterwerken in G-Moll (op.25) und C-Moll (op.60) entworfen hat. In jenen allzu oft und meistens mit überbordender poetischer Freiheit beschworenen Düsseldorfer Tagen der Jahre 1854 bis 1856 liegt jedenfalls der Keim für die einzigartige Triade dieser Klavierquartette, die wohl den Scheitelpunkt der gesamten Gattungsgeschichte markieren.
Die überaus komplizierte Entstehungsgeschichte der drei Werke läßt sich in vielen Details nicht mehr rekonstruieren; fraglos bleibt aber, daß die drei Quartette eine gedankliche Einheit bilden: So grundverschieden Schicksal und Aussage dieser höchst individuellen Schöpfungen auch ist, so ergänzen sie einander doch zu einem Organismus von bezwingender Kohärenz. Neben den zwei Schwesterwerken, dem schon allein wegen des mitreißenden Rondo alla zingarese populären G-moll-Quartett und dem wertherisch-bekenntnishaften C-moll-Quartett, das in seiner unerhörten Radikalität und Konsequenz einen Sonderfall nicht nur innerhalb der Brahmsschen Kammermusik darstellt, hatte unser A-Dur-Quartett schon immer einen recht schweren Stand – ein Factum, das sich in Aufführungsstatistik und Rezeptionsgeschichte recht deutlich widerspiegelt.

Max Kalbeck mutmaßte, die Anfänge des Opus 26 reichten in die Tage des 33. Niederrheinischen Musikfestes (Düsseldorf, Mai 1855) zurück: „Jenes träumerische, süße Adagio, welches den zweiten Satz des Quartetts bildet, scheint einer ganz bestimmten rheinischen Mainacht seine Entstehung zu verdanken.“ Kalbecks ebenso rührende wie bilderreiche Deutung des Satzes hätte den Komponisten wohl peinlich
berührt – womit aber nicht gesagt ist, daß sie am Kern der Sache völlig vorbeiginge.

Mit dem Joachim-Schüler Carl Bargheer (1831-1902), dem Bratschisten Schulze und Julius Schmidt („Schlummer“-Schmidt) am Cello probierte Brahms im Herbst 1857 in Detmold Klavierquartette aus – ob aber darunter schon Teile unseres A-Dur-Quartettes waren, läßt sich nicht sagen. Erst nachdem Brahms Detmold endgültig den Rücken gekehrt hatte und vorübergehend in seiner Heimatstadt seßhaft geworden war, sollte das Opus 26 aus dem Nebel der Vorgeschichte treten.

Am 13. Juli 1861 bezog Brahms in dem Hamburger Vorort Hamm (Schwarze Straße 5) eine Wohnung im Hause von Elisabeth Rösing, der Witwe eines Privatgelehrten; Frau Dr. Rösings Nichten, Betty und Marie Völckers, die im Nachbarhaus wohnten, waren Stützen des von Brahms zwischen Juni 1859 und Mai 1861 geleiteten Hamburger Frauenchores gewesen. Zusammen mit ihren Freundinnen Laura Garbe und Marie Reuter bildeten sie noch immer jenes Vokalensemble, das Brahms zärtlich „mein Mädchenquartett“ nannte, und dessen ständige Verfügbarkeit wohl nicht den geringsten Reiz des neuen Domizils ausmachte. Bis zu Brahms´ Abreise nach Wien (September 1862) sollte Hamm seine Künstlerresidenz bleiben. Der damals noch ganz ländliche Ort am linken Alsterufer war von der Stadt aus bequem zu erreichen, und Brahms konnte den ihn besuchenden Freunden sein verwaistes Zimmer im Elternhaus anbieten. Zu den Gästen, die Brahms hier schon in den ersten Monaten seines Aufenthaltes besuchen sollten, gehörten natürlich allen voran Clara Schumann aus Berlin und Joseph Joachim aus Hannover – aber bald gesellten sich auch neue Bekanntschaften hinzu, wie Hermann Levi, der aus Rotterdam anreiste (und dessen innige Beziehung zu Brahms einen so unglücklichen Verlauf nehmen sollte), oder der umtriebige Selmar Bagge aus Wien, den wir weiter unten als Kritiker der Uraufführung des Opus 26 wiederfinden werden.

Unter den allerersten Arbeiten, die Brahms in seinem neuen Quartier zu einem vorläufigen Abschluß brachte, müssen die ersten beiden Sätze von Opus 25 und der 3. Satz unseres A-Dur-Quartetts gewesen sein – denn Clara, die in einem Brief vom 15. Juli um eine Notensendung gebeten hatte, konnte sich schon zwei Wochen später über diese Stücke auslassen:

„Ein Urteil kann ich natürlich nicht fällen, nur über den ersten Eindruck zu Dir sprechen – wird Dir daran etwas liegen? Und doch habe ich oft erfahren, daß der erste Eindruck mir blieb. […] Das Scherzo in A dur kenne ich noch zu wenig, habe aber doch mit großem Interesse die schönen Verwebungen des Themas verfolgt – das schlingt sich immer so schön ineinander und entwickelt sich ebenso eines aus dem andern. Das 2. Motiv erinnerte mich sehr an eine Stelle in Roberts Streichquartett

[op.41 Nr.3]

, nicht melodisch gerade, aber in der Anlage und Stimmung. Das Trio ist recht frisch, und eigentümlich im Rhythmus, die 6 und 7 Takte frappierten mich erst nicht angenehm, aber daran gewöhnt man sich. Ich glaube, mit diesem Stücke ist es wie mit manchem von Dir, das wird einem erst recht lieb, wenn man es genau kennt, erst oft gehört hat.“
(Clara Schumann an Johannes Brahms, [Bad] Kreuznach, 29. Juli 1861)

Gegen Ende des Sommers muß das Quartett schon sehr weit gediehen gewesen sein;
Brahms´ Jugendfreund Albert Dietrich berichtet in seinen „Erinnerungen an Johannes Brahms“ über den September 1861:

„Nun machte ich die projectirte kleine Tour nach Hamburg, um Brahms zu besuchen, und wohnte bei dessen Eltern in der Stadt, Fuhlentwiete, einer engen alten Straße. Brahms selbst wohnte, um ruhiger arbeiten zu können, äußerst freundlich in dem Vorort Hamm bei einer Frau Dr. Rösing. Ihr widmete er eins seiner schönsten Werke, sein A-dur-Clavierquartett. Er spielte mir gegen seine Gewohnheit aus den Skizzen vor, und ich gewann dabei schon die Überzeugung, daß es ein hervorragend herrliches Werk werden würde.“

In den letzten Septembertagen kann Brahms die Quartett-Zwillinge an seinen „liebsten Jussuf“ Joachim nach Hannover schicken. Joachims erste Reaktion (Brief vom 2. Oktober 1861) nimmt in mancher Hinsicht die seit anderthalb Jahrhunderten im wesentlichen gleichbleibende Rezeption der beiden Werke vorweg: Während er über das G-moll-Quartett sofort ins Schwärmen gerät, bedenkt er op.26 gerade mit einem einzigen mageren Satz. Doch es wäre nicht Joachim gewesen, wenn sich seine Perspektive nach näherem Studium nicht grundlegend gewandelt hätte:

„Mit dem A-Dur-Quartett habe ich mich immer mehr befreundet. Der Ton innigster Zartheit wechselt schön mit frischer Lebenslust. Manche harmonische Besonderheit würde mir, hätte ich sie im raschen Fortgang gleich gehört, statt sie mit dem Aug´ zu betrachten, nicht störend gewesen sein! […] Herrlich ist das Adagio! Erst meint ich, der Gegensatz zum E dur wäre nicht glücklich; aber als ich´s (selbst auf meine stockende Weise) auf dem Klavier durchspielte, wurde ich doch ganz warm dabei, und wenn dann der goldene Faden des Themas in die unbestimmte Leidenschaft beruhigend hineinschimmert, so ist das gerade ganz wunderschön. Einige schwere Griffe werden leicht in den Streichinstrumenten zu ändern sein. Auch das Nachschlagen im Scherzo, das sich bei der Ausführung unpraktisch erweisen dürfte. Schon im ersten Satz des Schumannschen A-Dur-Quartetts, das doch viel langsamer geht, klingt es unruhig. Aber wie rund und aus dem Ganzen ist sonst das Scherzo geraten. Es gemahnt manchmal an letzten Beethoven, so konzentriert ist der Bau, und eigentümlich die Wendung der Melodie. Mache nur, daß ich bald alle Sachen höre.“
(Joseph Joachim an Johannes Brahms, Hannover, 15. Oktober 1861)

Daß der Schreiber hier treffsicher genau dieselbe Parallele zu Schumanns op.41 Nr.3 zieht wie Clara in ihrem Brief zwei Monate zuvor, ist ein schönes Beispiel für die Dichte und Tragfähigkeit des Beziehungsgeflechtes, auf dem die Wahlverwandtschaft zwischen diesen musikalischen Geistern beruhte.

Als Joachim dann Gelegenheit bekam, die beiden Werke nicht nur zu hören, sondern auch zu spielen, entwickelte er – wie viele tiefer veranlagte Musiker – eine ganz besondere Vorliebe für das A-Dur-Quartett; von einer mit Brahms unternommenen Konzertreise wird er einige Jahre später schreiben:

„Die beiden Quartette von ihm haben mich in Zürich und Aarau wieder recht erwärmt; namentlich hat das A-dur soviel Zartheit und Verklärung an vielen Stellen, daß man nur daran zu denken braucht, will man über einzelne Rücksichtslosigkeiten des Freundes hinwegkommen. Wer so schreibt, ist edel und gut.“
(Joseph Joachim an Clara Schumann, Basel, 4. November 1866)

Obwohl das Opus 25 schon am 16. November 1861 in Hamburg von Clara Schumann (mit John Böie, F. Breyther und Louis Lee) aus der Taufe gehoben werden konnte, mußte es sich ebenso wie seine A-Dur-Schwester in den folgenden Monaten noch zahlreiche Änderungen und Verbesserungen gefallen lassen – von diesem langwierigen und vielschichtigen Prozeß geben die erhaltenen autographen Quellen einen ungefähren Begriff. Daß aber damit der Läuterungsweg der Werke noch lange nicht beendet war, erfährt man aus dem Schreiben, das die Übersendung der beiden vorläufig abgeschlossenen Partituren an den Musikkritiker Adolf Schubring (1817-1893) nach Dessau begleitete:

„Sehr geehrter Freund!
Ich weiß Sie nicht besser zu grüßen, was ich doch gerne wollte, als indem ich Ihnen einige Noten schicke.
Zwei Klavier-Quartette, denen ich die Stimmen beilege, obschon ich glaube, Sie werden dieselben lieber lesen als nach dem schlechten Manuskript spielen.
Ohne Egoismus geht´s freilich nicht, ich wünschte sehr zu hören, was die Quartette für Eindruck machen.
Und, bitte, grade heraus, denn es ist doch besser, wir zanken uns im Notfall einmal, als sagen kein rechtes Wort.
Leider muß ich auch wieder drängen um die Rücksendung, da ich die Quartette gern zur Herausgabe vornähme; durch Feuer und Wasser müssen sie noch gehörig, ehe sie eingehen können in dem Tempel Härtel oder sonst wo.
Ich denke, in acht Tagen haben Sie sie vollauf genossen, und spätestens lassen Sie Ihren rücksendenden, und wenn es Ihre Zeit und Lust erlaubt, besprechenden Brief mir eine Geburtstagsfreude sein.“
(Johannes Brahms an Adolf Schubring, Hamm, 27. April 1862)

Der erwartete „besprechende Brief“ blieb sicher nicht aus – leider ist er uns nicht erhalten geblieben. Daß aber Brahms, als er am 8. September 1862 von Hamburg nach Wien aufbrach, den Weg über Dessau nahm, wo er mehrere Tage bei Schubring zu Gast blieb, könnte durchaus mit den Quartetten zu tun haben. Jedenfalls bildeten die beiden Partituren einen gewichtigen Teil des musikalischen Gepäcks, mit dem der junge Komponist Mitte September in der Kaiserstadt eintraf. Wie dann Brahms Anfang Oktober bei Julius Epstein vorsprach und –spielte, wie der perplexe Pianist daraufhin einen Extrakt des jungen musikalischen Wiens – das Hellmesberger-Quartett, den Verleger Johann Peter Gotthard(-Pazdirek), Josef Gänsbacher und andere zu sich zu auf ein Brahms-Frühstück einlud, bei dem die beiden Quartette prima vista musiziert wurden, das alles ist schon längst unveräußerlicher Besitz der musikalischen Mythologie. Natürlich war es nicht das A-Dur-Quartett, sondern das Rondo alla zingarese, das den erhitzten Josef Hellmesberger die Geige aufs Bett werfen ließ, um den verblüfften Komponisten mit den Worten „Das ist der Erbe Beethovens!“ zu umarmen; aber schon der Zufall, daß diese legendäre Matinee in eben jenem Hause (Schulerstraße 8/Domgasse 5) stattfand, das als Mozarts „Figarohaus“ musikalisch vorbelastet war, tauchte diese Episode in symbolträchtiges Licht, dessen Zauber sich vielleicht auch die Protagonisten selbst nicht ganz zu entziehen vermochten. Jedenfalls konnte Leopold Alexander Zellner schon am 12. Oktober in seinen „Blättern für Theater, Musik und Kunst“ die bevorstehende Zusammenarbeit des Hellmesberger-Quartetts mit dem Neuankömmling ebenso avisieren wie die für den 7. Dezember anberaumte Erstaufführung der Brahmsschen Serenade op.11 in den philharmonischen Gesellschaftskonzerten. Am 16. November 1862, auf den Tag genau ein Jahr nach der Hamburger Uraufführung des Werkes, trat Brahms dann mit dem G-Moll-Quartett wirklich das erste Mal vor das Wiener Publikum. Knapp zwei Wochen später (am 29. November) bescherte er diesem Publikum mit der Präsentation des A-Dur-Quartetts das allererste Mal auch das Erlebnis einer Brahms-Uraufführung – ein Ereignis, dessen zahlreiche Wiederholungen den Mythos der „Musikstadt Wien“ über die folgenden fünfunddreißig Jahre hinweg fortschreiben sollten.

Und wie quittierten die Wiener Kritiker diese historische Begebenheit?

Was immer man der Musikkritik im allgemeinen und jener in Wien im besonderen vorgeworfen haben mag – daß sie diesen Moment unbeachtet vorübergehen habe lassen, kann man beim schlechtesten Willen nicht behaupten. Und weil es sich um einen ganz besonderen Augenblick im Leben des Komponisten wie in der Musikgeschichte seiner zukünftigen Heimatstadt handelt, mögen abschließend die (hier erstmals gesammelten) Rezensionen in chronologischer Reihe folgen, etwa so, wie sie dem erwartungsvollen Debutanten wohl vor Augen gekommen sein dürften.

Der anonyme Rezensent des „Fremdenblattes“, der in seiner Eigenschaft als Korrespondent der einflußreichen Leipziger „Signale“ eine ihm selbst offenbar durchaus bewußte Bedeutung hatte, reagierte am raschesten:

Herr Johannes Brahms, über dessen G-moll-Piano-Quartett wir uns letzthin ausgesprochen, veranstaltete vorgestern Abends ein Konzert im Musikvereinssaale, und hatte Gelegenheit, sich dem Publikum nach beiden Richtungen seiner künstlerischen Thätigkeit, nach Seite seiner Kompositionsweise und seines Klavierspiels zu zeigen. Sein Talent wurde bei Gelegenheit des oben erwähnten G-moll-Quartettes bereits anerkannt; wir können aber nicht verhehlen, daß uns das vorgestern gehörte Piano-Quartett in A-dur in keiner Weise befriedigte, und wir danken es dem Componisten, daß er die „Variationen und Fuge über ein Thema von Händel“ darauf folgen ließ, wodurch es ihm gelungen, den ungünstigen Eindruck des Quartetts wieder zu verwischen. Das Allegro (1. Satz) enthält nichts als musikalische Phrasen; zu einem eigentlichen Thema kommt es nicht. Das Adagio bringt zwar ein solches, allein es ist nicht bedeutend genug, um zu fesseln, und verläuft nach Art modern italienischer Canzonen in nichtssagenden Wendungen. Einen ursprünglich frischen herzlichen Ton schlägt der Komponist hingegen im Scherzo an, welcher Satz, sowohl was Erfindung, als was die Durchführung (diese beruht großentheils auf einer geistreichen Imitation) betrifft, wirklich hervorgehoben zu werden verdient. Auf das schöne Scherzo aber folgt zum Abschlusse ein polkaartiges Allegro, welches, wie schon gesagt, einen unangenehmen Eindruck hinterließ. Ganz anders verhält es sich mit den genannten Variationen. Hier zeigte Brahms eine Fülle von Phantasie und Erfindung. Als Klavierspieler besitzt Herr Brahms eine durchgebildete, ausgeglichene, wenn auch nicht immense Technik. Äußerer Glanz, bestechende Eigenschaften einer außerordentlichen Bravour fehlen ihm, aber sein Spiel ist durchaus der Ausdruck echter Empfindung. Er spielte den Clavierpart im A dur-Quartette, in welchem er von den Herren Hellmesberger, Dobyhal und Röver auf das Vortrefflichste unterstützt wurde. […]
Fremdenblatt, XVI. Jahrgang, Nr.329, Wien, 1.12.1862, unpag. S.5,
stark gekürzt in: Signale für die musikalische Welt, Zwanzigster Jahrgang, Nr.50, Leipzig, 4.12.1862, S.689

Zwei Tage später ließ sich Eduard Hanslick (1825-1904), der sich später gerne als Brahms-Apologet der allerersten Stunde fühlte und gerierte, ein erstes Mal zum Thema Brahms vernehmen; über unsere Uraufführung schreibt er:

Nicht so günstig wirkte das Clavierquartett in A-dur. Die Schattenseiten von Brahms´ Schaffen treten darin sprechender hervor. Fürs erste sind die Themen nicht bedeutend. Brahms liebt es bei der Wahl seiner Themen, deren contrapunktische Verwendbarkeit weit über ihren selbständigen, inneren Gehalt zu schätzen. Die Themen des Quartetts klingen trocken und nüchtern. Es werden ihnen im Verlaufe allerdings eine Fülle geistvoller Beziehungen abgewonnen; allein eine Wirkung im Großen ist ohne bedeutende Themen unmöglich. Sodann vermissen wir den großen, einheitlichen Zug der Entwicklung. Wir betrachten ein fortwährendes Anknüpfen und Abreißen, ein Vorbereiten ohne Endziel, ein Verheißen ohne Erfüllung. In jedem Satz finden wir feine Episoden-Motive, aber keines, das im Stande wäre, ein ganzes Stück zu tragen. Mit dem Quartett nur vom einmaligen Hören bekannt, vermögen wir natürlich nur den ersten Eindruck, nicht das Werk selbst zu schildern. Ohne Zweifel würde ein genaueres Studium hier wie bei Brahms überhaupt viele Vorzüge des Werkes ans Licht bringen. Für die lebendige Wirkung wäre damit kaum viel gewonnen. Diese verlangt plastisches Hervortreten der Melodien, große, nach einem Ziel treibende Steigerung und Entwicklung. Das Clavierquartett und andere neuere Sachen von Brahms mahnen uns bedenklich an Schumann´s letzte Periode, gerade wie uns Brahms´ Anfänge an Schumann´s erste Periode erinnern. Nur zu der goldklaren, reifen Mittelzeit des echten Schumann bietet uns sein Lieblingsschüler kein Seitenstück. […]
Ed[uard] H[anslick] in: Die Presse, 15. Jahrgang, Nr.331, Wien, 3.12.1862, 2. unpag. S.

Am Vortag von Brahms´ philharmonischem Début erschienen zwei weitere Kritiken der nun schon eine Woche zurückliegenden Premiere. Die erste stammt aus der Feder des Cellisten, Komponisten und Journalisten Selmar Bagge (1823-1896), den wir schon als Brahmspilger in Hamm getroffen haben; Bagge lebte von 1842 bis 1863 in Wien, wo er sich, nachdem er mehrere Jahre hindurch neben seinem eigenen Lehrer Simon Sechter als Kompositionslehrer am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde gewirkt hatte, in mehreren publizistischen Anläufen als Musikkritiker etablierte:

Das Concert, welches Herr Brahms heute vor acht Tagen gab, versammelte ein nicht ganz vollzähliges aber wie es schien, den besten Musikkreisen angehöriges Publikum, und die Stimmung desselben war eine immer animirtere. Man schien allmälig sich mit der neuen Erscheinung zu befreunden und sich an ihr zu erwärmen. Das Clavierquartett in A-dur, eine durchweg verständliche, fein und interessant gearbeitete, liebenswürdige Composition fand sehr vielen Beifall, namentlich die beiden mittleren Sätze. Ob es werthvoller sei, als das kürzlich gespielte in G-moll wollen wir vorläufig nicht entscheiden, – eingänglicher, ansprechender ist es unbedingt. Der Componist scheint auf jenes in G-moll mehr Werth zu legen, da er es zu seinem ersten Debut in Wien wählte, klüger hätte er gewiß gethan umgekehrt zu verfahren. Doch charakterisirt es gerade den wirklichen Künstler sich von solchen Erwägungen nicht leiten zu lassen, oder überhaupt über die äußere Wirksamkeit nicht nachzudenken. […]
Selmar Bagge in: Deutsche Musik-Zeitung, III. Jahrgang, Nr.49, Wien, 6.12.1862, S.389

Das erste öffentliche Auftreten Joh. Brahms´ in Wien war, nach dem Rufe, der ihm voranging, und nach den Proben, die man bereits von seinem Talente kennen gelernt hatte, für musikalische Kreise von besonderem Interesse. In dem ersten von ihm am 29. November d. J. im Musikvereinssaale veranstalteten Konzerte hat er sich durch den Vortrag der Hauptstimme eines Quartetts für Piano, Violin, Viola und Cello (A-dur) und einer Partie Variazionen nebst Fuge über ein Händel´sches Thema für das Klavier allein, (beide Werke von eigener Komposizion) in seiner Doppel-Eigenschaft als Tonsetzer und Pianist vorgestellt.
Bei dem Anhören des berührten Quartetts tritt uns gleich im Beginne des ersten Satzes eine Tonsprache entgegen, die uns in eine aus dem Alltäglichen emporhebende Stimmung versetzt und unsere Aufmerksamkeit fesselt; wir fühlen das, was man „Geist“ nennt, über uns ergehen. Dieser Geist trägt allerdings weniger das Gepräge einer schöpferischen Begeisterung als jenes einer feinen Bildung an sich und regt mehr an, als er hinreißt; allein da ihm auch eine beachtenswerthe musikalische Gestaltungskraft zur Seite steht, so verliert er sich nicht so leicht in unzusammenfaßbar verschwommene Elemente und ringt nicht auf Kosten jedes formellen Reizes nach einem Anscheine von Bedeutung, wie es bei Neuern so häufig der Fall ist.
Wohl folgt auch Brahms im Wesentlichen der modernen Richtung, und die pathologischen Eindrücke walten daher vor, so wie er auch von geistigen Ausschweifungen nicht frei ist; allein eben so unverkennbar ist es, daß es sich an klassischen Vorbildern, namentlich an Beethoven, herangebildet hat. Wenn er auch die Fäden nicht in ein vollkommen durchsichtiges, sich mit organischer Triebkraft entfaltendes Ganze zu verweben vermag, so verliert er doch nie ganz den leitenden Grundgedanken und weiß ihn wiederholt in anziehenden Wendungen und Umgestaltungen zum Vorschein zu bringen.
Nur dann, wenn die Stimmung in der Entwicklung der Seelenzustände sich zur Leidenschaft steigert, dann ist auch für ihn die Klippe da, an der schon so Viele gescheitert sind; denn nur den Höchstbegabten ist es gegeben, auch im Sturme der Leidenschaft stets dem Gesetze des Schönen treu zu bleiben, nie dem Ohre des Hörers mißfällig zu werden.
Im Adagio, welches die meiste Theilnahme erregte, ist die Behandlung der Streichinstrumente gegenüber der Hauptstimme eine äußerst wirksame. Der eindringenden Sprache dieser Stimme, die uns gewaltsame innere Bewegungen enthüllt, geht die schöne Harmonie der Streichinstrumente wie mit flehenden Trostesklängen versöhnend zur Seite, und nur Schade ist es, daß dann, als die Stimmung sich bis zum Gewitter steigert, dieser Höhepunkt der Schilderung mehr auf äußere Effekte angelegt ist und die versöhnenden Elemente selbst grollend mit hinabsinken in das Dunkel. Dem Scherzo, in welchem das der Weise des Komponisten eigenthümliche Pathos ebenfalls durchklingt, wäre um des Gegensatzes willen ein etwas frischerer Humor zu wünschen; doch ist es schön gearbeitet und hat einen gefälligen lebendigen Schritt, so wie auch der letzte Satz durch innere Lebendigkeit und manche überraschende Züge in der Behandlung sich auszeichnet. […]
H—l in: Recensionen und Mittheilungen über Theater, Musik und bildende Kunst, Achter Jahrgang, Nr.49, Wien, 6.12.1862, S.781-82

Die letzten beiden Rezensionen erschienen drei Tage nach der philharmonischen Erstaufführung der Serenade op.11, und dementsprechend fassen sie die Eindrücke aller drei Brahms-Konzerte dieser Wochen zusammen. Der wie der Brahms-„Entdecker“ Julius Epstein aus Zagreb stammende Leopold Alexander Zellner (1823-1894), der 1868 Generalsekretär der Gesellschaft der Musikfreunde werden sollte, macht aus seiner Skepsis gegenüber dem Komponisten Brahms (der eine ausgeprägte Wertschätzung des Pianisten gegenüberstand) kein Hehl:

Begonnen wurde das Concert mit einer Serenade für Orchester in sechs Sätzen [op.11]. Auch diese Composition, so wirksame Einzelheiten sie immer aufweist (sehr schön sind der erste und zweite Satz, dann der erste Menuett), wollte gleich den bisher gehörten dieses Tonsetzers dennoch keinen lebhaften Eindruck hervorbringen. Wir glauben dem wesentlichen Grunde dieser Erscheinung auf die Spur gekommen zu sein. Brahms componirt zu voll und zu breitspurig. Seine Sachen sind zu wenig durchsichtig und zu wenig concis in der Form. Man könnte ihm vielleicht mit mehr Recht, als es einst ein Potentat gegenüber Mozart that, bemerken: zu viel Noten, Freund. […]
Jene nur theilweise Befriedigung, welche die Serenade gewährte, empfing man auch von dem zweiten Quartette (A-dur) des Hrn. Brahms, welches er im Vereine mit Hrn. Hellmesberger und Genossen in seinem eigenen Concerte zur Aufführung brachte. Die beiden ersten Sätze sind frisch und – so weit dieß bei der Art dieses Componisten: jeden nur übrigen Fleck der Partitur möglichst dicht mit Notenköpfen zu besäen, sein kann – auch durchsichtig. Reminiscenzen dagegen, zumal an Schubert, lassen sich manche vernehmen.. Die beiden letzten Sätze sind – gemacht und die Längen werden empfindlich. Im Ganzen indessen war es nicht uninteressant, dieses Werk kennen zu lernen.
[Leopold Alexander Zellner in:] Blätter für Theater, Musik und Kunst, VIII. Jahrgang, Nr.99, Wien, 10.12.1862, S.398

Das letzt Wort soll aber der Wiener Schumann-Apostel Karl Debrois van Bruyck (1828-1902) haben. Der aus einer flämischen Adelsfamilie stammende, in Brünn geborene und in Wien aufgewachsene van Bruyck, der einige Jahre später (1867) mit einer sehr bemerkenswerten Analyse des Wohltemperierten Klaviers an die Öffentlichkeit trat, wurde wegen seines „trockenen“, „gelehrten“ Stils ebenso oft getadelt wie belächelt; es ist aber gar nicht schwer, hinter der predigerhaften Fassade dieser Besprechung eine wirklich empfindsame Seele und ein offenes Ohr auszumachen. Von den meisten der vorangegangenen „Beurteilungen“ unterscheidet sich dieser journalistische Segensspruch jedenfalls gar nicht unvorteilhaft:

Herr Johannes Brahms hat nun zu drei verschiedenen Malen Gelegenheit gehabt, sein Verhältnis zu dem Publikum Wiens zu prüfen und eine Erfahrung zu sammeln, welche für den Künstler immer einen gewissen Werth hat. Zwar darf für diesen weder Beifall noch Mißfall, weder Enthusiasmus noch Gleichgiltigkeit jemals absolute Bedeutung haben, aber es wird stets für ihn von einem gewissen Interesse sein, sich über sein Verhältniß zur Welt zu orientiren. Daß das Quartett [op.25], mit welchem Herr Brahms sich zuerst in einer Hellmesberger´schen Soirée einführte, im Ganzen nur mäßigen Anklang fand, hat uns nicht sehr überrascht, dagegen sind wir verwundert, daß dasselbe Schicksal einem Orchesterwerk zu Theil ward, einer Art Suite (der Komponist nennt es Serenade [op.11]), welche in dem zweiten Gesellschaftskonzert zur Aufführung kam und als eine durchaus schöne, interessante, geistvolle Arbeit wohl eine wärmere Aufnahme verdient hätte. Einigermaßen für solche Lauheit entschädigt wurde der junge Künstler in einem Konzert, welches er selbst veranstaltete. Zwar vermochte sich ein Pianoforte-Quartett [op.26], welches er in diesem produzirte, auch nur getheilte Gunst zu erobern, dagegen errang er sich mit einer Serie von ihm über ein Händel´sches Thema komponirter Variationen [op.24] einstimmigen, lebhaften Beifall; und mochte auch an diesem Beifall das eminente, brillante Spiel des Komponisten einigen Antheil haben (welches zu entfalten ihm sein Werk reichen Anlaß bot), so glauben wir doch die bessere Hälfte desselben auf Rechnung der Komposition selbst setzen zu dürfen. […]
Brahms ist unzweifelhaft – wir haben es vor Jahren schon ausgesprochen – eine genialische, d.h. aus sich selbst schöpfende Natur, eine wirklich künstlerische Individualität, und das will schon etwas heißen. Er besitzt Phantasie, Geist und Gemüth, für den Ausdruck des Pathetischen wie Humoristischen stehen ihm gleich treffende Töne zu Gebote, und seine neuesten Produktionen zeigen uns, zu einem wie hohen Grad von Feinheit er insbesondere auch sein formelles Talent auszubilden gelernt hat.Wir haben also für seine weitere Entwicklung keinen anderen Wunsch, als daß er nicht auf die Ausbildung gerade des letzteren die höchste Energie seines geistigen Vermögens wenden, sondern daß es ihm Gelingen möge, dieses mit einem immer höheren substanziellen Gehalt zu erfüllen und sich, möglichst fern vom Element des Phantastischen und Nebulosen, mit seinem Denken und Empfinden in die Region des rein Menschlichen zu versenken, da, was er sich so innerlich erarbeitet, uns gewiß auch voll und warm aus seinen Tönen entgegenklingen wird. Dem Adel seiner Natur könnte ein solcher Flug bei ausdauernder Kraft und Selbstverleugnung und einiger Gunst der Verhältnisse wohl gelingen. […]
[Karl Debrois] v[an] Br[uyck] in: Wiener Zeitung – Abendblatt, Nr.283, Wien, 10.12.1862, p.1130


Wenn man bei der Lektüre dieser gesammelten kritischen Ergüsse als Nachgeborener ein, je nach Temperament, belustigtes oder verärgertes Kopfschütteln kaum unterdrücken kann, so wird man doch auch neidlos anerkennen müssen, daß das Echo zumindest seinem Ausmaße nach in einem recht ausgewogenen Verhältnis zu seinem Anlaß stand; und von welcher medialen Äußerung der Gegenwart ließe sich das noch behaupten?

© by Claus-Christian Schuster

Beethoven: Grand Quintetto pour le Forte-Piano avec Oboë, Clarinette, Basson et Cor ou Violon, Alto et Violoncelle… Oeuvre 16.

Ludwig van Beethoven

* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827

Grand Quintetto pour le Forte-Piano avec Oboë, Clarinette, Basson et Cor ou Violon, Alto et Violoncelle… Oeuvre 16.

Komponiert:hauptsächlich Berlin, Mai/Juni 1796
Widmung:Fürst Joseph zu Schwarzenberg (1769-1833)
Uraufführung:der Bläserfassung: Wien, Traiteurie Jahn, 6. April 1797
Uraufführung der Streicherfassung nicht dokumentiert
Erstausgabe:Mollo & Co., Wien, März 1801

Die rein äußere Beziehung dieser Komposition zu Mozart läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Mozart hat zwei Es-Dur-Werke in den hier von Beethoven zur Auswahl gestellten Besetzungen geschrieben, 1784 das Quintett für Klavier und Bläser (KV 452), 1786 sein zweites Klavierquartett (KV 493), und beide Werke stehen ganz am Anfang der jeweiligen Gattungsgeschichte, waren also als Ausgangs- und Referenzpunkte gar nicht zu umgehen. Beethoven, der schon 1785 in Bonn drei Klavierquartette (WoO 36) geschrieben hatte (von denen das erste ebenfalls in Es-Dur steht), hätte schon bei seinem ersten Wienbesuch im April 1787, der ja bekanntlich in einer kurzen Begegnung mit Mozart gipfelte, diese Werke kennenlernen können. Sicher ist aber jedenfalls, daß er zum Zeitpunkt der Komposition des Opus 16 bestens mit ihnen vertraut war; und außer Zweifel steht auch, daß er sich mit dieser Komposition ganz bewußt in Beziehung zu Mozart setzt: Die äußere Analogie zwischen Beethovens op.16 und Mozarts KV 452 – in Tonartenfolge, Anzahl und Form der Sätze – ist in der Tat so groß, daß ihre Feststellung schon ein unvermeidlicher Gemeinplatz geworden ist.
Von dieser Feststellung zur vergleichenden Wertung ist aber nur mehr ein kleiner Schritt, und es bedürfte schon einer nicht alltäglichen Zurückhaltung, sich diese zu versagen. So schrieb etwa schon Otto Jahn in seiner Mozart-Biographie (Leipzig, 1856-1859):
„Bekanntlich hat Beethoven in seinem Quintett (Op.16) mit diesem Mozartschen (Es-dur oeuvr.XIV [i.e. KV 452]) gewetteifert; vielleicht tritt bei keinem seiner Werke in gleicher Weise heraus, daß er sich ein Muster gesetzt hatte, um es nachzubilden; übertroffen hat er es diesmal nicht.“
(Jahn: W. A. Mozart, 1. Auflage, Leipzig 1859, IV/51)

Diese Äußerung reizte noch ein halbes Jahrhundert nach ihrer Veröffentlichung Alfred Kalischer zu ungewöhnlich scharfem Widerspruch:
„Das sind ungereimte Dinge. Beethoven als Geist vom Geiste Haydns, als Geist vom Geiste Mozarts, läßt es oft unbewußt erkennen, daß er vieles von ihnen empfangen hat; Mozart-Anklänge begegnen einem sogar noch in seinen allerletzten Sonaten: allein ein bewußtes Nachbilden ist bei Beethoven ganz ausgeschlossen.“
(Kalischer: Beethoven und Wien, Berlin 1910, S.27)

Und Hermann Abert, der einige Jahre danach die Jahnsche Biographie in gründlich überarbeiteter und wesentlich erweiterter Form erscheinen ließ, ersetzte denn auch den inkriminierten Passus durch folgende salomonische Feststellung:
„Vergleichende Werturteile sind indessen wieder einmal müßig, denn beide Werke spiegeln die Eigentümlichkeiten ihrer Schöpfer getreu wieder und stehen künstlerisch durchaus auf derselben Stufe.“
(Jahn-Abert: W. A. Mozart, 6. Auflage, Leipzig 1919-1924, II/189)

Daß weise Einsichten dieser Art nicht geeignet sind, einem zünftigen Reminiszenzenjäger die Freude an seiner Lieblingsbeschäftigung zu verderben, ist bekannt: In den Mozart-Anklängen des zweiten Satzes (Zauberflöte, Don Giovanni) wollte man nach Jahns Zeugnis sogar eine explizite Huldigung an Mozart sehen, und die Nähe des Rondothemas zum analogen Thema aus Mozarts Es-Dur-Klavierkonzert KV 482 hätte, frei nach Brahms, auch nur einem Esel verborgen bleiben können.

Sogar in der Doppelgestalt des Werkes (als Quintett und Quartett) läßt sich eine Parallele zu Mozart erkennen: Dessen Quintett war, freilich ganz ohne Zutun des Komponisten, schon bald in (mehreren, unterschiedlich schlechten) Klavierquartett-Fassungen erschienen. Beethoven, aus dessen brieflichen Äußerungen wir wissen, wie geschärft seine Einsicht in die Problematik solcher populärer „Arrangements“ war, wollte wohl anmaßendem Dilettantismus zuvorkommen und ließ seine eigene Alternativfassung gleichzeitig mit dem Original erscheinen. Die Hierarchie der beiden Versionen steht allerdings außer Streit: Die Erstausgabe verzichtet sogar auf die Anpassung des Titels – erst beim Nachdruck von 1802 trägt die Streicherfassung die korrekte Bezeichnung „Quartetto“. Ohne Zweifel hat aber diese authentische Quartettbearbeitung ganz wesentlich zur Verbreitung des Werkes beigetragen.

Wie neuere Forschungen (Douglas Johnson, 1980) ergeben haben, dürfte das Werk zum Großteil auf der einzigen großen Konzertreise Beethovens, die ihn zwischen Februar und Juli 1796 nach Prag, Dresden, Leipzig und Berlin führte, entstanden sein. Teile des ersten Satzes wurden aber wohl schon früher (wahrscheinlich 1794) konzipiert, und sicher wurde das ganze Opus, wie fast alle Kompositionen des Meisters, vor der Uraufführung (1797) und der Drucklegung (1801) tiefgreifend revidiert – nähere Anhaltspunkte dazu fehlen freilich, da das Autograph verschollen ist.
Auch die erwähnte Reise selbst ist geeignet, die Erinnerung an Mozart zu beschwören: Denn Beethovens Reisebegeleiter war allem Anschein nach eben jener Fürst Carl von Lichnowsky (1756-1814), der Mozart sieben Jahre zuvor auf dessen Berlinreise begleitet hatte (und dessen besondere Nähe zu Beethoven durch die Widmung der Trios op.1, der Klaviersonaten op.13 und op.26 sowie der II. Symphonie eindrucksvoll dokumentiert ist); Beethoven war schon wenige Monate davor, im Spätherbst 1795, auf Schloß Graetz Gast des Fürsten gewesen, und die Beziehungen zwischen dem jungen Komponisten und seinem großzügigen Mäzen waren in dieser Zeit offensichtlich besonders eng.
Wie vor ihm Mozart knüpfte Beethoven an diese Berlinreise große Hoffnungen – die Regierung des musikliebenden Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II. (1786-1797), der zwar weder das politische Genie noch das kompositorische Talent seines Onkels geerbt hatte, aber von sicherem Geschmack und Urteil, vor allem aber von lebhaftestem Interesse in musikalischen Fragen war, schien Perspektiven zu eröffnen, die sich unter dem biederen Kaiser Franz nicht boten. Allem Anschein nach hat Friedrich Wilhelm II. Beethoven, der dem Amateurcellisten die eigens für diesen Anlaß komponierten Sonaten op.5 zueignete, auch tatsächlich eine Stellung angeboten. Warum sich Beethoven, wie auch bei allen späteren Gelegenheiten, nicht dazu durchringen mochte, Wien zu verlassen, kann man nur vermuten: Die dürftigen und trockenen Dokumente, die Beethovens zweimonatigen Berlinaufenthalt widerspiegeln, könnten aber immerhin ein Indiz dafür sein, daß das musikalische Umfeld nicht annähernd so anregend und aufnahmefähig wie das Wiener war. Außerdem durfte Beethoven damals glauben, am Beginn einer Virtuosenlaufbahn zu stehen, die ihm noch viele Möglichkeiten dieser Art eröffnen würde. Doch unmittelbar nach der Rückkehr aus Berlin erkrankte Beethoven schwer – und einiges spricht dafür, daß diese Krankheit der Ausgangspunkt für das sein ganzes weiteres Leben überschattende Gehörleiden gewesen sein könnte.

Daß Beethoven sein Opus 16 als Klaviervirtuose für den eigenen Gebrauch, gewissermaßen als „Kammerkonzert“, konzipiert hat, ist dieser Partitur auf jeder Seite anzusehen. Hierin legt auch ein ganz offensichtlicher und relevanter Unterschied zum Mozartschen Quintett: Während dort ein engmaschiges spielerisches Geflecht die Instrumente in ein ständiges Wechselspiel verstrickt, finden wir bei Beethoven über weite Strecken die konsequente Gegenüberstellung von Concertino und Ripieno, von konzertierendem Soloinstrument und Begleitstimmen. Daß trotz dieser grundlegenden Disposition die kammermusikalische Dimension des Werkes nicht zu kurz kommt, ist eine besondere Meisterleistung.

Zwei mit der Aufführungsgeschichte des Werkes verknüpfte Anekdoten zeigen übrigens beispielhaft sowohl den Antagonismus zwischen „konzertantem“ und „kammermusikalischen“ Denken als auch den Wandel in Beethovens Einstellung zur Interpretationspraxis – ein Wandel, dessen Konsequenzen in der oft kategorisch und dogmatisch geführten Diskussion zwischen den Verfechtern kompromißloser Notentreue und den Bewunderern improvisatorischer Kreativität gerne übersehen werden.

Die erste dieser Anekdoten wird uns von Beethovens Schüler Ferdinand Ries (1784-1838) überliefert und bezieht sich auf ein Konzert vom Dezember 1804. Die Verläßlichkeit und Genauigkeit dieser Quelle wurde zwar von verschiedener Seite in Zweifel gezogen; diese Zweifel beziehen sich aber nur auf untergeordnete Details – die Glaubwürdigkeit des geschilderten Vorfalls an sich wird durch sie nicht angetastet.

Ferdinand Ries berichtet:
„Am nämlichen Abend spielte Beethoven sein Clavier-Quintett mit Blasinstrumenten; der berühmte Oboist Ram [i.e. Friedrich Ramm (1744-1811)] von München spielte auch und begleitete Beethoven im Quintett. – Im letzten Allegro ist einigemal ein Halt, ehe das Thema wieder anfängt; bei einem derselben fing Beethoven auf einmal an zu phantasieren, nahm das Rondo als Thema und unterhielt sich und die andern eine geraume Zeit, was jedoch bei den Begleitenden nicht der Fall war. Diese waren ungehalten und Herr Ram sogar sehr aufgebracht. Wirklich sah es posirlich aus, wenn diese Herren, die jeden Augenblick warteten, daß wieder angefangen werde, die Instrumente unauffällig an den Mund setzten, und dann ganz ruhig wieder abnahmen. Endlich war Beethoven befriedigt und fiel wieder in´s Rondo ein. Die ganze Gesellschaft war entzückt.“

Während wir hier also Beethoven als einen Verfechter interpretatorischer Freiheit, ja solistischer Willkür in extremis erleben, so zeigt ihn uns eine nur zwölf Jahre später spielende Begebenheit schon als Anhänger einer „moderneren“, unseren Spiel- und Hörgewohnheiten viel näheren Auffassung.

Nach der Auflösung des Razumovskij-Quartetts beschlossen Ignaz Schuppanzigh und Joseph Linke, Wien zu verlassen. Beide gaben im Abstand einer Woche Abschiedskonzerte. Dasjenige von Schuppanzigh fand am 11. Februar 1816 im Palais Deym (1889 demoliert, Rotenturmstraße/Schwedenplatz) statt. Beethovens Schüler Carl Czerny wirkte, wenige Tage vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, bei dieser Gelegenheit als Pianist mit. Viele Jahre später erinnerte er sich an dieses Konzert:

„Als ich in Schuppanzigh´s Musik das Quintett mit Blasinstrumenten vortrug, erlaubte ich mir im jugendlichen Leichtsinn manche Aenderungen – Erschwerung der Passagen, Benützung der höheren Octave u.s.w. – Beethoven warf es mir mit Recht in Gegenwart des Schuppanzigh, Linke und der andern Begleitenden mit Strenge vor. Den andern Tag erhielt ich von ihm folgenden Brief, den ich hier genau nach dem mir vorliegenden Original abschreibe:

lieber Z Heute kann ich sie nicht sehn, morgen werde ich selbst zu ihnen kommen, um mit ihnen zu sprechen – ich plazte gestern so heraus, Es war mir sehr leid, als es geschehen war, allein dies müßen sie einem autor verzeihen, der sein werk lieber gehört hätte gerade, wie er´s geschrieben, so schön sie auch übrigens gespielt. –
ich werde das aber schon bey der violonschell Sonate laut wieder gut machen, seyn sie überzeugt, daß ich als Künstler das gröste wohlwollen für sie hege, u. mich bemühen werde, ihnen immer zu bezeigen. –
ihr wahrer Freund Beethowen.“

Schuppanzigh, dessen Bekanntschaft Beethoven im Jahr der Komposition des Opus 16 gemacht hatte, war auch für das Zustandekommen der Uraufführung des Werkes verantwortlich, die am 6. April 1797 im ersten Stock der Traiteurie Jahn (Himmelpfortgasse 6/Gedenktafel) stattfand. Ob er zusammen mit seinen Quartettkollegen auch die Streicherfassung aus der Taufe gehoben hat, ist nicht überliefert, darf aber als wahrscheinlich gelten.

© by Claus-Christian Schuster