Ludwig van Beethoven
* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827
Sonate Nr.5, D-Dur, op.102 Nr.2
Komponiert: | Wien, 1815 |
Widmung: | Anna Maria von Erdödy |
Uraufführung: | nicht dokumentiert, privat wahrscheinlich Sommer 1815, Wien, Jedlesee, Landgut Erdödy (21., Jeneweingasse 17) Ludwig van Beethoven, Klavier Joseph Linke (1783-1837), Violoncello |
Erstausgabe: | Simrock, Bonn, 1817 |
Während Beethoven in allen anderen bedeutenden Genres seines Werkes
geniale Vorgänger hatte, betritt er mit seinen fünf Sonaten für Klavier
und Violoncello wirkliches Neuland: diese Sonaten sind die ersten
ernstzunehmenden Beiträge zu dieser Kammermusikform. Als entfernten
Anknüpfungspunkt könnte man nur vielleicht die drei um 1720 entstandenen
Sonaten für Cembalo und Viola da Gamba von J. S. Bach (BWV 1027-1029)
nennen, die allerdings sowohl instrumental als auch stilistisch und
formal völlig anderen Prinzipien folgen. Somit kann man Beethoven mit
Fug und Recht als den Schöpfer dieser in der Folge von fast allen
bedeutenden Komponisten mit so gewichtigen Werken bedachten Musizierform
betrachten.
Dieser Umstand ist auch der Grund dafür, daß wir zumindest ein Werk dieser Gattung in unseren Zyklus aufnehmen wollten.
Für alle fünf Sonaten ist eine selbst bei Beethoven nicht alltägliche
Freiheit im Umgang mit dem überlieferten Formenkanon bezeichnend: in
dieser Hinsicht sind sie durchwegs wesentlich „revolutionärer“ als die
Schwesterwerke für Klavier und Violine. Gleich die ersten beiden Werke
der Serie, die Beethoven im Juni 1796 in Berlin für König Friedrich
Wilhelm II und dessen Cellisten Duport schrieb, sind ein Kompendium
genialischer „Sturm und Drang“-Ideen – und man täte Beethoven wohl
unrecht, wenn man diese Experimentierlust nur dem Wunsch zuschriebe, den
königlichen Widmungsträger recht nachhaltig zu beeindrucken.
Unangefochtener Gipfelpunkt dieser einzigartigen Werkreihe ist aber
trotz allem die letzte Sonate op.102 Nr.2. Es dürfte nicht leicht sein,
in der gesamten Kammermusikliteratur ein Werk zu finden, das diesen
Geniestreich an Kühnheit, Konzentration und Klarheit, an
Empfindungstiefe und Geistesschärfe überträfe.
Das eröffnende Allegro con brio (D-Dur) weckt gleich mit seinem
energisch-stolzen Inzipit, das en passant auch schon in den ersten
beiden Takten die heilige metrische Ordnung unbkümmert über den Haufen
wirft, die Erwartung nach einer fugierenden Antwort, die erst im letzten
Satz – aber wie! – erfüllt wird. Dieser kraftvolle Impuls zieht eine
Entwicklung nach sich, die auf ganz ungekünstelte und organische Weise
das paradoxe Kunststück zustande bringt, gleichzeitig kleingliedrig und
großräumig zu sein. Der Motor dieser Entwicklung ist eine atemberaubend
kunstvolle motivische Verflechtung über schroffe Charaktergegensätze
hinweg. Der ganze Satz ist zudem ein Exzeß an Verknappung, der sicher
auch einen Großmeister der Komprimierung wie etwa Anton von Webern mit
Bewunderung erfüllt hat – einen solchen Kosmos an Ideen und Stimmungen
auf gerade 147 Takten hat es wohl nicht oft in der Musikgeschichte
gegeben.
Das „Herzstück“ des Satzes – in der engeren Bedeutung des Wortes – ist
das folgende Adagio con molto sentimento d’affetto (d-moll). Gläubige
Hingabe und verhaltener Zweifel, schmerzliche Beklommenheit und
beseligende Gelöstheit sind hier innigst verwoben und in ein auf
unnennbare Weise berührendes Gleichgewicht gebracht. Mit kühnen, aber
nahezu absichtslos anmutenden Modulationen öffnet sich der Satz zur
unmittelbar anschließenden Schlußfuge (Allegro fugato, D-Dur), die man
in Analogie das „Kopfstück“ der Sonate nennen könnte. Über Generationen
hinweg hat dieser Satz gleichermaßen bewunderndes wie verständnisloses
kopfschütteln ausgelöst – Beethovens Zuversicht, daß die Zeit auch für
solch einen Satz einmal reif sein würde, hat sich nur sehr unvollkommen
bestätigt. Gewiß, das Ohr des modernen Hörers ist durch ein Stahlbad an
Härten gegangen, das es ihm ermöglicht, die Kühnheiten Beethovens
ungerührt zu überstehen. Aber Verständnis? Wieviele heutige Hörer würden
sich nicht der Meinung des Berliner Beethoven-Apostels Adolf Bernhard
Marx anschließen, der 1824 schrieb:
„Eine Fuge wie diese vorliegende aber wird schwerlich Jemandem gefallen
können. Sie klingt 1. nicht und 2. erweckt sie keine bestimmte
Empfindung. Das Thema ist für eine so ernste Durchführung zu lustig und
kontrastirt auch desshalb mit den beiden vorigen Sätzen zu grell. Wie
viel lieber hätten wir statt dieser Fuge einen andern Satz, ein
Beethovensches Finale gehört!…“
Eine Fuge hat also, wenn sie sich schon unter ein aufgeklärtes Publikum
wagt, in feierlicher Staatsrobe zu erscheinen. Die Messalliance zwischen
tänzerischem Übermut und kontrapunktischem Scharfsinn ist und bleibt
ein Ärgernis – man will doch schließlich wissen, woran man nun wirklich
ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Antike Berauschtheit und
Erleuchtung in Eines verschmelzen lassen konnte, hat unser kritischer
Geist gründlich wegrationalisiert: hie Dionysos, da Apoll. Sollten wir
Beethoven nicht dankbar sein dafür, daß er uns im polyphonen Höhenflug
dieser wenigen Minuten über die gutbewachten Grenzen unserer
wohlgordneten Ästhetik hinwegträgt?
© by Claus-Christian Schuster