Ludwig van Beethoven
* 16. Dezember 1770
† 26. März 1827
Variationen Es-Dur op.44
Komponiert: | Wien, etwa 1793, beendet um 1800 |
Erstausgabe: | Hoffmeister & Kühnel, Leipzig, 1804 |
Über die Entstehungsgeschichte dieses Werkes wissen wir nahezu nichts; auf der Rückseite des Autographs der Lieder „Feuerfarb'“ (op.52 Nr.2) und „An Minna“ (WoO 115), die auf die Jahreswende 1792/93 datiert werden, scheint das Thema neben einigen Skizzen zum Klaviertrio op.1 Nr.1 das erste Mal auf. Dieses im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde aufbewahrte Blatt ist der einzige autographe Beleg für die Komposition. Das fertige Werk wurde erst im Jänner 1804 veröffentlicht; stilistische Merkmale legen eine Entstehungszeit nicht nach 1800 nahe. Das Thema der Variationen wurde bis vor kurzem Beethoven selbst zugeschrieben. Erst 1991 hat es Sieghard Brandenburg als das der Arie „Ja, ich muß mich von ihr scheiden“ aus der komischen Operette „Das rothe Käppchen“ von Carl Ditters von Dittersdorf identifizieren können. Dieses Werk war 1788 in Wien uraufgeführt und 1792 bei Schott in Mainz gedruckt worden.
Petra Weber-Bockholdt hat in einer dem Werk gewidmeten Studie darauf hingewiesen, daß von den zwölf originalen und vollendeten Werken Beethovens für Klavier, Violine und Violoncello gleich fünf in Es-Dur stehen, und also eine gewisse Affinität zwischen dieser Besetzung und dieser Tonart zu bestehen scheint: „In Opus 44 kulminiert diese Affinität gleichsam dergestalt, daß hier… der Es-Dur-Dreiklang selber den Gegenstand der Variationen bildet. Er tut dies in provokant nackter Beschaffenheit: auch bei Beethoven selbst sind einfache, bisweilen plakative thematische Gestalten ja keine Seltenheit, aber die ersten vier Takte von op.44 unterbieten an Kargheit alles, was wir an einfachen musikalischen Gestalten kennen: Alle drei Instrumente tragen den Es-Dur-Dreiklang gebrochen, unisono und oktaviert vor.“
Die nachfolgenden vierzehn Variationen sind ein Wunderwerk an subtiler Charakterisierung und raffiniertem Spiel mit vieldeutigen Details. Auch die Dramaturgie des Ablaufes ist überaus sorgfältig durchdacht. Die erste Variation hebt die metrische und harmonische Unbestimmtheit des Themas auf und etabliert den leichtfüßigen, aber im Tempo verhaltenen Alla-breve-Takt mit hingetupften Akkorden, über denen die rechte Hand des Klaviers das Thema zierlich zerstäubt; nach dieser charakterlichen Interpretation des Themas stellen die Variationen II bis IV einem traditionellen Ablaufmuster folgend die drei Instrumente der Reihe nach solistisch vor. Die folgenden beiden Variationen durchbrechen dann das dynamische und metrische Ebenmaß der bisherigen Entwicklung auf wirkungsvolle Weise mit ins Leere gehenden Crescendi und mutwilligen Akzentversetzungen. Mit den Variationen VII und VIII haben wir die formale und gedankliche Mitte des Werks erreicht: auf ein elegisches und inniges Zwiegespräch zwischen den Streichern (Largo, es-moll) folgt ein origineller Dialog zwischen den beiden Händen des Klaviers (Un poco adagio, Es-Dur), wobei der Baß das Thema in seiner nackten Urgestalt festhält; der hier erreichte Schwebezustand zwischen den eleganten Figurationen des Diskants und diesem naiv-plumpen Cantus firmus unter den pochenden Streichertriolen macht diese Variation schon für sich genommen zu einem Musterbeispiel der Beethovenschen Kunst vielschichtiger Charakterisierung mit sparsamsten Mitteln. Mit der folgenden Variationengruppe (IX – XII) kehren wir wieder ins Ausgangstempo und zu dem Nuancierungsspiel der Variationen V – VI zurück, denen sie spiegelbildlich entsprechen. Die vorletzte Variation (Adagio, es-moll) nimmt noch einmal die Stimmung der ersten Minore-Variation (VII) auf, wobei diesmal das Klavier Soloinstrument ist und in einer ergreifenden chromatische Umdeutung der Schlußtakte (mit einem wundervollen Trugschluß nach Ces-Dur) den Punkt der größten Entfernung von der Harmlosigkeit des Themas erreicht. Auch die anschließende Finalvariation (Allegro) bezieht sich, diesmal aber nicht intensivierend sondern antagonistisch, auf die erste Minore-Variation, indem sie deren Metrum (6/8) mit völlig verändertem Charakter wiederaufgreift. Diese gemeinsame Beziehung der letzten beiden Variationen auf die Werkmitte wird noch durch die Coda unterstrichen, in der auf den der vorletzten Variation entlehnten Trugschluß ein wörtliches Zitat derselben folgt. Den Schluß bildet wieder der schmucklose Es-Dur-Dreiklang des Themenkopfes, diesmal im Kanon zwischen den Instrumenten, der endlich in eine köstlichen Miniaturstretta mündet.
© by Claus-Christian Schuster