Johannes Brahms
* 7. Mai 1833
† 3. April 1897
Sonate Nr.1, G-Dur, op.78
Komponiert: | Pörtschach, Sommer 1878 u. 1879 |
Uraufführung: | Bonn, Goldener Stern, 8. September 1879 Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier Robert Heckmann (1848-1891), Violine |
Erstausgabe: | Simrock, Berlin, 1879 |
KOMPONIEREN NACH BEETHOVEN
DIE DREI SONATEN FÜR KLAVIER UND VIOLINE VON JOHANNES BRAHMS
Die drei Violinsonaten von Johannes Brahms (1833-1897) gehören so sehr
zum Allgemeingut der Kammermusikgemeinde der ganzen Welt, daß nichts
überflüssiger erscheint, als sie im üblichen Sinne „vorzustellen“. Sie
regen aber in besonderer Weise zum Nachdenken über den
musikgeschichtlichen Prozeß, in dem sie entstanden sind, an. Freilich
ist das Feld, das sich hier auftut, für den hier gebotenen Rahmen viel
zu weit. Daher bitte ich Sie, mit den folgenden Gedankenskizzen
vorliebzunehmen.
Wie in fast allen Genres der Musik läßt sich auch an der Gattung „Sonate
für Violine und Klavier“ (die bis an das Ende des XIX. Jahrhunderts
fast immer unter der Bezeichnung „Sonate für Klavier und Violine“
figurierte) über den Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg eine
stetige quantitative Abnahme der Produktion feststellen. So stehen den
insgesamt 38 Violinsonaten Mozarts (von denen immerhin 19 in den
gängigen Ausgaben berücksichtigt werden) und 10 Werken von Beethoven nur
mehr je drei Sonaten von Schumann und Brahms gegenüber, während die
meisten bedeutenden Komponisten unseres Jahrhunderts überhaupt nur ein
bis zwei Kompositionen dieser Art hinterlassen haben (Ravel, Bartòk,
Prokofiev, Shostakovitch usw.). Es ist bezeichnend, daß die Ausnahmen
(etwa Max Reger mit seinen 9 Violinsonaten) sofort in den Verdacht
geraten, „Vielschreiber“ zu sein, und im Konzertleben zu einem
Schattendasein verurteilt werden.
Natürlich spiegelt sich in diesem Phänomen nicht etwa ein Versiegen
menschlicher Kreativität wider – wenn auch zugestanden werden muß, daß
die technisch-industrielle Revolution einen nicht unbedeutenden Teil des
schöpferischen Potentials der Menschheit in anderen Schaffensgebieten
gebunden hat. Doch die indirekten Folgen dieser Revolution erwiesen sich
für die musikalische Produktion als viel folgenschwerer: Einerseits
entwuchs die Musik ihrem sozialen Selbstverständnis als
„Gebrauchsmusik“, deren gedachter Wirkungshorizont kaum mehr als einige
Jahre betrug, und emanzipierte sich als eine autonome Kunstleistung,
deren Anspruch das hic et nunc weit hinter sich ließ; daraus ergibt sich
wiederum die Forderung nach der „Einmaligkeit“ des einzelnen Werkes,
durch die sich die früher übliche „Serienproduktion“ sozusagen von
selbst verbot. (Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist etwa, daß
Beethovens op.12 und op.30 noch je drei Sonaten umfaßt und op.23-24
immerhin noch als Diptychon konzipiert ist, während die letzten beiden
Sonaten einzeln erschienen – eine Erscheinung, die sich im wesentlichen
bei allen vergleichbaren Werkkategorien Beethovens wiederfindet.)
Andererseits führte die – ebenfalls technisch und wirtschaftlich
bedingte – Entwicklung des Musiklebens (Konzertorganisation,
Verlagswesen usw.) zu einer allmählichen „Historisierung“ oder
„Musealisierung“ der Rezeption, so daß der Komponist der zweiten Hälfte
des XIX. Jahrhunderts viel fühlbarer sup specie aeternitatis komponierte
als seine Kollegen der vorangegangenen Generationen: Der Bezugspunkt
war nicht mehr das rezente Musikangebot einer überschaubaren Region,
sondern das gesamte Musikschaffen innerhalb eines sich kontinuierlich
erweiternden historischen und geographischen Horizontes. Analog dem
Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ nahm so – eigentlich
unausgesprochen – die Idee einer „Weltmusik“ allmählich Gestalt an. Es
liegt auf der Hand, daß (parallel der Entwicklung in den anderen
Künsten) angesichts der sich so anbahnenden Omnipräsenz alles schon
Dagewesenen – eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit noch um ein
Vielfaches beschleunigt hat – Originalität und Neuheit auch in der Musik
zu selbständigen und schließlich alle anderen Beurteilungskategorien in
den Schatten stellenden Werten wurden. Daß diese Perspektive vieles
objektiv Große klein und unbedeutend erschienen ließ, während manche
Belanglosigkeit im Schlagschatten dieser Beleuchtung epochale
Dimensionen zu besitzen schien, war unvermeidlich. Ohne allen
Kulturpessimismus darf man aber darüber hinaus feststellen, daß ganz
allgemein die Situation des künstlerisch schöpferischen Menschen im
Laufe des XIX. Jahrhunderts zunehmend schwieriger wurde. Das in dieser
Form eigentlich neue Phänomen des „Spätbrufenen“ (Theodor Fontane,
Conrad Ferdinand Meyer, Anton Bruckner u.v.a.) ist nur eines der vielen
Symptome, an denen sich diese Komplikation ablesen läßt. Das Neue und
Problematische der Situation haben nur wenige unter den Großen so klar
und so schmerzlich erkannt und empfunden wie Johannes Brahms.
Immer wieder wird an die Hypothek erinnert, die Schumanns Artikel „Neue
Bahnen“ für den jungen Brahms bedeutet haben muß. Und in der Tat muß
man zugeben, daß es für den zwanzigjährigen Komponisten sicher nicht
leicht war, sich gewissermaßen als Erben Beethovens proklamiert zu
sehen. Doch eigentlich drückt sich in diesem individuellen
biographischen „Zufall“ die neue Qualität der allgemeinen
Schaffensbedingungen nur in besonders symbolischer Sinnfälligkeit aus.
Mit einem Seitenblick auf die weniger problematischen Naturen unter
seinen Kollegen schreibt Brahms seinem Verleger einmal: „Für gewöhnlich
wundere ich mich stets weniger, daß ich so faul, als daß die anderen so
fleißig sein können.“ (an Fritz Simrock, April 1870). Im Schatten des
„Riesen“ Beethoven wird er mehr als zwei Jahrzehnte um seine Erste
Symphonie ringen müssen, die dann schon die Zeitgenossen als die
„Zehnte“ empfanden. Obwohl das Schaffen Brahms´ nur einem sehr
oberflächlichen Betrachter konservativ im Sinne von „rückwärtsgewandt“
erscheinen wird, ist doch die verinnerlichte Gegenwart des großen
Vorgängers immer wieder deutlich zu spüren.
In ähnlicher Wiese wie in seinen Symphonien bezieht sich Brahms auch in
seiner Kammermusik auf dieses Erbe. Wie er in seiner ersten Sonate für
Klavier und Violoncello (e-moll, op.38) das in Beethovens letzter
Cellosonate (op.102 Nr.2) entwickelte Modell zum Ausgangspunkt nimmt, so
knüpft seine erste Violinsonate (G-Dur, op.78) unmittelbar an
Beethovens letztes Werk dieser Gattung (G-Dur, op.96) an. Der Bezug ist
hier noch um einiges offensichtlicher: Brahms verwendet die selbe
Tonartenfolge wie Beethoven (G-Dur – Es-Dur – g-moll – G-Dur), und auch
in Aufbau und Textur finden sich einige unüberhörbare Parallelen. Noch
auffälliger sind aber die prononcierten Unterschiede zu Beethovens
Partitur: das Wegfallen des Scherzos, die konsequente Weiterentwicklung
der motivischen Ökonomie und die noch weiter gehende „Poetisierung“ des
Textes – der letzte Satz ist sogar ganz explizit eine Meditation über
zwei, schon 1873 komponierte Lieder („Regenlied“ op.59 Nr.3, und
„Nachklang“ op.59 Nr.4, beide auf Texte von Brahms´ Freund und Landsmann
Klaus Groth [1819-1899]), worauf sich der manchmal für das Werk
verwendete Name „Regenliedsonate“ bezieht. Das Werk, das übrigens –
zusätzliches Indiz für die oben skizzierte Problematik – wahrscheinlich
schon den vierten Versuch des Komponisten in diesem Genre darstellt,
entstand in den Sommern der Jahre 1878 und 1879 in Pörtschach am
Wörthersee und wurde schon am 8. November 1879 in Bonn von dem Ehepaar
Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier, und Robert Heckmann
(1848-1891), Violine, uraufgeführt.
Die anderen beiden Sonaten sind Zwillingsschwestern: Brahms schuf beide
Werke in dem so überaus ertragreichen Sommer 1886, den er am Thuner See
in der Schweiz verbrachte und der ganz der Instrumententrias
Klavier-Violine-Violoncello gehörte. Neben den beiden Violinsonaten
entstanden zur gleichen Zeit das 3. Klaviertrio (c-moll, op.101), die
zweite Cellosonate (F-Dur, op.99) und das Doppelkonzert für Violine,
Cello und Orchester (a-moll, op.102). Die eine der beiden Sonaten,
nämlich die zweite Violinsonate (A-Dur, op.100), wurde noch im selben
Jahr aus der Taufe gehoben: Der Komponist selbst spielte sie mit Joseph
Hellmesberger sen. (1828-1893) am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal
(jetzt Brahms-Saal) des Wiener Musikvereins. (Eben dieser Hellmesberger
hatte ja schon im November 1862, wenige Wochen nach Brahms´ Ankunft in
Wien, die Schumannsche Prophezeiung von 1853 erst auf die griffige
Formel „Das ist der Erbe Beethovens!“ gebracht, ein Urteil, das er in
späteren Jahren, als er darum bemüht war, im Streit zwischen
„Brahmsianern“ und „Wagnerianern“ neutral zu erscheinen, damit zu
entschuldigen pflegte, daß er vorher „zu viel kroatischen Wein“
getrunken habe.) Die „Wagnerianer“ bemächtigten sich der neuen Sonate
sofort, indem sie ihr den Namen „Meistersinger-Sonate“ anhefteten – mit
keiner besseren Begründung als der wirklich läppischen Übereinstimmung
der ersten beiden Intervalle mit dem Beginn der Stolzing-Arie
„Morgenlich leuchtend“. Brahms selbst hat bei anderer Gelegenheit einem
Reminiszenzen-Jäger geantwortet, noch viel merkwürdiger als das „Zitat“
selbst sei doch wohl der Umstand, daß es jedem Esel auffalle. Wer
ernsthaftere und erhellendere Bezüge in dem Werk sucht, wird sie in
zahlreichen Selbstzitaten des Meisters finden: Da er die Sonate nach dem
Zeugnis seines Biographen Max Kalbeck „in Erwartung der Ankunft einer
geliebten Freundin“, nämlich der Altistin Hermine Spies (1857-1893)
schrieb, könnte man aus den zitierten Liedern so etwas wie einen „Brief
in Tönen“ herauslesen; und es ist sicher kein Zufall, daß der Dichter,
der Brahms dazu seine Worte leiht, wieder Klaus Groth ist („Wie Melodien
zieht es…“ op.105 Nr.1 und „Komm bald!“ op.97 Nr.5).
Mit dem Schwesterwerk, der dritten Violinsonate (d-moll, op.108) ließ
der Meister sich mehr Zeit. Erst im Oktober 1888 schickte Brahms das
Manuskript den Herzogenbergs nach Berlin. Elisabet von Herzogenberg
(1847-1892), deren Briefwechsel mit Brahms zu den berührendsten
Dokumenten der deutschen Musikgeschichte zählt, regte den Komponisten
dann noch zu einigen Änderungen an. In dieser definitiven Fassung wurde
das Werk am 21. Dezember 1888 in Budapest von Brahms mit dem ungarischen
Geiger und Joachim-Schüler Jenö Hubay (1858-1937) uraufgeführt. Wie oft
bei unmittelbar benachbarten Werken der gleichen Gattung fällt
zuallererst die antithetische Stimmung des Sonatenpaares auf: der
sonnig-träumerischen Welt der A-Dur-Sonate steht hier eine
wildzerklüftete, wetterdurchleuchtete Landschaft gegenüber. Daß die
Dramatik dieses Werkes auch einen bestimmten Interpretentyp verlangt,
deutete Brahms in der Widmung an – übrigens der einzigen „offiziellen“
Dedikation, die er einer Violinsonate angedeihen ließ: die Sonate ist
Hans von Bülow (1830-1894) zugeeignet, der 1854 (nach dem Komponisten)
der erste Pianist gewesen war, der ein Brahms-Werk öffentlich aufgeführt
hatte.
Auch in dieser Geste manifestiert sich, daß Brahms keine prinzipielle
Berührungsscheu gegenüber dem Wagner-Kreis hatte – der „Krieg“ wurde von
den Aposteln sehr viel heftiger geführt als von den Meistern selbst.
Dennoch sollte man die historische Bedeutung dieses Konfliktes nicht
unterschätzen: zum ersten Mal in der Musikgeschichte stehen wir hier
zwei fundamental unterschiedlichen Idiomen und Ideologien gegenüber, die
sich beide explizit auf das klassische Erbe und im besonderen auf
Beethoven berufen. Im Unterschied zu den national, sozial oder
persönlich bedingten Konflikten, die bis dahin die ästhetische
Diskussion über die Musik weitgehend bestimmt hatten, haben wir es nun
mit einem tieferreichenden und folgenschwereren Streit zu tun, von dem
man den Ausgang jenes Phänomens herleiten kann, das vielen Menschen
unseres Jahrhunderts dann als die „babylonische Sprachenverwirrung“ der
Musik erscheinen mußte.
© by Claus-Christian Schuster