Shostakovitch: Trio Nr.2, e-moll, op.67 (1944)

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Trio Nr.2, e-moll, op.67 (1944)

Komponiert:Moskva – Ivanovo, 12./15. Februar 1944 – 13. August 1944
Widmung:dem Andenken von Iwan Iwanowitsch Sollertinskij
Uraufführung:St. Petersburg („Leningrad“),
Großer Saal der Philharmonie, 14. November 1944
Dmitrij Schostakowitsch, Klavier
Dmitrij Cyganov(1903 – 1993), Violine
Sergej Schirinskij (1903 – 1974), Violoncello
Erstausgabe:Muzgiz (Staatlicher Musikverlag), Moskva, 1945

Am 5. Februar 1944 beendete Schostakowitsch eine traurige Arbeit: die Ausarbeitung und Instrumentierung der unvollendet gebliebenen Oper seines zu Beginn des Krieges gefallenen Schülers Benjamin Fleischmann (1907-1941). „Rothschilds Geige“, nach einer Erzählung von Anton Tschechow, kreist um Bilder, die Schostakowitsch in diesem Jahr nicht mehr loslassen sollten: da ist die Musik des Schtetl, der Totengräber Jakov, der für seine noch lebende Frau schon das Grab schaufelt, ein makabrer Tanz am Flußufer… : eine beklemmende Vision, ein von James Ensor übermalter Chagall.

Am selben Tag war in Novosibirsk Schostakowitschs wenige Monate vorher vollendete Achte Symphonie aufgeführt worden; sein Freund Iwan Sollertinskij hatte die einführenden Worte gesprochen. Kurz darauf, in der Nacht vom 10. auf den 11. Februar, starb der einundvierzigjährige Sollertinskij völlig unerwartet. Was er für den Komponisten bedeutet hatte, können wir beim Lesen der Zeilen erahnen, die der verbal meist nüchterne Schostakowitsch an Sollertinskijs Witwe richtete:

„Liebe Olga Pantelejmonovna!
Das Unglück, das mich traf, als ich vom Tode Iwan Iwanowitschs erfuhr, kann ich nicht in Worte fassen. Er war mein nächster und teuerster Freund. Meine ganze Entwicklung verdanke ich ihm. Ohne ihn zu leben wird mir unerträglich schwerfallen…“

(15. Februar 1944)

In den letzten Jahren vor Sollertinskijs Tod hatten die Freunde nicht oft Gelegenheit gehabt, einander zu treffen: Sollertinskij war 1941 zusammen mit der Leningrader Philharmonie, für die er als Lektor tätig war, nach Novosibirsk evakuiert worden. Die letzte Begegnung mit Schostakowitsch hatte in Moskau stattgefunden, wo Sollertinskij am 14. November 1943 einen über das Radio in die ganze Sowjetunion übertragenen Festvortrag zu Tschaikovskijs fünfzigstem Todestag gehalten hatte („Tschaikovskij und die russische Kultur“; das Manuskript dieser Festrede ist verschollen.). Zwar hatte er es nur drei Tage lang bei Schostakowitsch ausgehalten (- „zuviel Musik, ständig kamen Schüler und verschiedene Komponisten zu ihm, um ihm ihre Werke zu zeigen; außerdem hat man keine Ruhe vor den Kindern, die sehr ungezogen sind, ständig lärmen und einem Tag und Nacht keine Pause gönnen…“ -), aber auch in den verbleibenden Wochen hatten die Freunde einander oft und lange getroffen. Bei einem dieser Treffen, kurz vor Sollertinskijs Abreise am 6. Dezember, soll Schostakowitsch vom Plan eines Trios gesprochen haben, das er in diesen Tagen zu skizzieren begonnen hatte. Vielleicht war schon für diesen ersten Entwurf der Gedanke an Tschaikovskij und den im März verstorbenen Rachmaninov auslösend gewesen, die ja beide ihre innigsten Totenklagen in die Form von Klaviertrios gegossen hatten – Tschaikovskijs op. 50 ist dem Andenken Nikolaj Rubinsteins, Rachmaninovs op. 9 dem Andenken Tschaikovskijs gewidmet. Jedenfalls scheint Schostakowitsch, als ihn zwei Monate später die Todesnachricht aus Novosibirsk erreichte, keinen Augenblick geschwankt zu haben, in welcher Weise er das Andenken seines Freundes ehren würde: schon am Tag nach Sollertinskijs Begräbnis – am selben Tag, an dem er seinen Brief an die Witwe absendet – ist der erste Satz des Klaviertrios beendet.

Erst im Sommer kann Schostakowitsch die Arbeit an dem begonnenen Werk fortsetzen. Wieder hat er sich, wie schon im vorangegangenen Jahr für die Niederschrift der Achten Symphonie, für die Sommermonate nach Ivanovo zurückgezogen. Ivanovo, gegen Ende des XIX. Jahrhunderts gerne „das russische Manchester“ genannt, ist alles andere als ein ländliches Idyll. Etwa vierhundert Kilometer nordöstlich von Moskau im Hügelland zwischen Wolga und Kljasma gelegen, hatte dieses Zentrum der russischen Textilindustrie schon damals rund dreihunderttausend Einwohner. Aber in den Kriegsjahren konnte die Stadt als vergleichsweise ruhig und sicher gelten. Der sowjetische Komponistenbund besaß in der Stadt ein altes Herrenhaus, das jeden Sommer viele Gäste anzog: Aram Chatschaturjan, Reinhold Glière, Wano Muradeli und Nikolaj Pejko sind Schostakowitschs Nachbarn. Die Konzeption des Werkes muß schon sehr weit gediehen sein, denn Schostakowitsch benötigt zur Niederschrift von Scherzo, Passacaglia und Finale nur wenig mehr als zwei Wochen. Kaum hat er das Klaviertrio beendet, findet er sich schon an der Arbeit zu seinem Zweiten Streichquartett (A-Dur, op.68). Das Arbeitstempo scheint ihn selbst zu verblüffen, denn im September, nach Beendigung des Quartetts, schreibt er aus Ivanovo an seinen Freund Vissarion Schebalin, den Widmungsträger des neuen Werkes:

„Die Windeseile, in der ich komponiere, beunruhigt mich. Das ist sicher schlecht. Man sollte nicht so schnell komponieren wie ich. Schließlich ist das eine ernste Sache, und man sollte deshalb »nicht galoppieren« (wie eine bekannte Ballerina zu sagen pflegte). Ich schreibe höllisch schnell und kann mich einfach nicht bremsen…“

Die beiden neuen Kammermusikwerke wurden am 14. November 1944 – genau ein Jahr nach Sollertinskijs denkwürdiger Tschaikovskij-Rede – gemeinsam uraufgeführt; Schostakowitsch hatte dem Drängen von Lev Oborin, David Ojstrach und Svjatoslav Knuschevitzkij, ihnen die Uraufführung des neuen Trios zu überlassen, nicht nachgegeben und hob das Werk selbst mit seinen Freunden vom Beethoven-Quartett, denen er auch die Premieren aller seiner Streichquartette (mit Ausnahme des ersten und des letzten) anvertraute, aus der Taufe. (David Ojstrach entschädigte er später großzügig mit dem ihm gewidmeten Ersten Violinkonzert, a-moll, op.77, das übrigens auffällig viele Parallelen zu unserem Klaviertrio aufweist.) Die Jahrzehnte seither haben den einzigartigen Rang des Werkes und die außergewöhnliche Faszination, die von ihm ausgeht, tausendfach bestätigt.

Wo Musik Bekenntnis und Vermächtnis wird, wächst die Schwierigkeit, über sie zu sprechen, ins Unermeßliche. Dennoch erscheint es mir notwendig, hier einige musikalische Details dieser außergewöhnlichen Partitur zu erwähnen. Wie jedes Kunstwerk läßt sich natürlich auch dieses Klaviertrio auf sehr verschiedene Weise lesen. Wenn man es als Lösung einer Aufgabe – nämlich der Auseinandersetzung mit der Tradition eines gewachsenen Genres – betrachtet, wird man zuerst auf die Tatsache stoßen, daß Schostakowitschs Werk einige unübersehbare Parallelen zu jenem Trio aufweist, das zu Recht als das Schlüsselwerk dieser Gattung in unserem Jahrhundert gilt, nämlich zu Ravels Klaviertrio von 1914. Hier wie dort folgen auf einen überwiegend kontemplativen und verhaltenen Eröffnungssatz ein motorisches Scherzo und eine kryptische Passacaglia, bevor das Werk zu einem Finale mit tänzerischen Zügen findet. Diese äußerliche Parallelität ist aber nur deswegen bemerkenswert, weil dieser dramaturgische Umriß sich deutlich von den klassischen Leitbildern des Genres entfernt; denn jenseits dieser groben Übereinstimmung werden die zwischen den beiden Werken bestehenden eklatanten Unterschiede in Haltung, Aussage und Charakter nur umso deutlicher.

Die formale Physiognomie des Werkes ist zwar sehr eigenwillig, bewegt sich aber – mit einer einzigen, dafür aber umso bezeichnenderen Ausnahme – im Rahmen des traditionellen Formenkanons: Auf einen Sonatenhauptsatz mit langsamer Einleitung und stark verkürzter Reprise folgt ein Kettenrondo (ABACADA), in dessen Coda die ersten beiden Episoden (B und C) noch einmal wiederkehren, während die dritte (D, in G-Dur) dramaturgisch das Gewicht eines Trios hat; dieses „Trio“ ist übrigens in Charakter, Motivik und Tonart aus dem Seitenthema des vorangehenden Satzes entwickelt. Die anschließende Chaconne oder Passacaglia geht direkt in den Finalsatz über, der trotz deutlicher Rondozüge formal wohl eher als Sonatensatz zu deuten ist. Hier kommt es nun zu einer auffälligen Anomalie: die Durchführung mündet in die Reprise des Seitensatzes, an deren Ende aber nicht (wie in den meisten Präzedenzfällen solch spiegelbildlicher Reprisen) das Hauptthema wiederkehrt; diese „tektonische Bruchlinie“ ermöglicht die wörtliche Rückkehr von thematischem Material der vorangegangenen Sätze als eine Art werkübergreifender Reprise, in die die lokale Wiederaufnahme des ausständigen Hauptthemas nur gleichsam eingebettet erscheint.

Ähnlich wie bei Ravels Trio offenbart die motivische Analyse des Werkes ein dichtes Netz an Querverbindungen zwischen den Sätzen. Das zentrale metrische Motiv ist der Choriambus, der die Ecksätze regiert. In seiner Wiederkehr im Hauptthema (oder Ritornell) des letzten Satzes manifestiert sich schon lange vor dem eigentlichen thematischen Rückgriff auf die Einleitung des Kopfsatzes die zyklische Idee des Werkganzen. Melodische Konstanten wie die engräumige Umkreisung eines Zentraltones oder die Verwendung stereotyper Formeln der ostjüdischen Volksmusik verstärken den inneren Zusammenhalt und geben dem Werk sein unverwechselbares Kolorit. Doch all diese Feststellungen (und hunderte zusätzlicher Details, die man beim Studium dieser Partitur noch entdecken kann) lassen die wesentlichste Ebene, auf der dieses Trio gehört und begriffen werden muß, unberührt.

Von den ersten Takten des Werkes an ist klar, daß es an unnennbare Dinge rühren will und muß. Schostakowitsch hat das mit einem ebenso einfachen wie genialen Mittel verdeutlicht: Im ersten Teil der Eröffnungsepisode (Andante) erscheinen die Instrumente gleichsam ihrer Stimme beraubt – der dreistimmige Kanon (in der Untersext) vereinigt gedämpfte Celloflageoletts und eine ebenfalls sordinierte Geige mit dem dumpfen Klang eines tiefen Klavierunisonos. Nur zögernd und in kleinen Schritten löst sich diese Erstarrung: die Geige gewinnt ein wenig Farbe, das Klavier breitet sich in Akkordflächen aus, und zuletzt verläßt auch das Cello den fahlen Flageolettklang – das ernste Spiel kann beginnen.

Das folgende Hauptthema des Satzes (Moderato) ist zwar in Metrik und Gestik ganz aus dem vorangegangenen Kanon abgeleitet, es zitiert aber in verfremdeter Weise auch ein Lied, das Schostakowitsch 1942 für seinen Freund geschrieben hatte: das Sonett LXVI von Shakespeare (op. 62 Nr.5). Dort heißt es:

Tir’d with all these, for restful death I cry:
As, to behold desert a beggar born

And right perfection wrongfully disgrac’d

And art made tongue-tied by authority

Tir’d with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.


Boris Pasternak, dessen Übersetzung Schostakowitsch verwendete, hat (wie übrigens auch L. Schücking in seiner deutschen Übertragung) „my love“ mit „Freund“ wiedergegeben; so ergibt sich ein schwer zu mißdeutender Bezug auf den Anlaß des Zitats, und der Zuhörer, der diesen Hinweis versteht, weiß, daß von hier an die Sprachlosigkeit des Anfangs wortloser Beredtheit gewichen ist.

Der zweite Satz (Allegro con brio, Fis-Dur) hat zu den unterschiedlichsten Deutungen Anlaß gegeben. Während der hier ausbrechende barbarische Übermut viele Zuhörer an eine bitterböse Karikatur denken läßt, weckte das Stück bei Sollertinskijs Schwester Jekaterina ganz andere Erinnerungen:

„Dieser Satz ist ein verblüffend genaues Portrait Iwans, den Schostakowitsch so gut verstand wie sonst keiner. Das ist sein Übermut, seine Polemik, sein Tonfall, seine Art, immer wieder auf ein und denselben Gedanken zurückzukommen und ihn weiter zu entwickeln… Wenn ich diesen Satz des Trios höre, steht mein Bruder leibhaftig vor mir…“

(zitiert nach: Ludmila Micheeva, I. I. Sollertinskij, Leningrad 1988)

Wenn man nach dieser erstaunlichen Assoziation geneigt ist, Versuche in musikalischer Hermeneutik überhaupt zu unterlassen, so wird dieser fromme Vorsatz schon beim folgenden Satz ins Wanken gebracht: Dieses Stück ist in seiner Aussage so unmißverständlich, daß es unmöglich erscheint, an ihr vorbeizuhören. Es ist eine Passacaglia (Largo, b-moll), über deren archaisch akkordischem Thema sich in fünf Wiederholungen ein weiträumiger Klagegesang der Streichinstrumente mit unverkennbar chassidischem Tonfall entspinnt. Das Passacaglienthema selbst ist, kaum merklich, in zwei viertaktige Tetrachorde gegliedert, deren erster um b-moll kreist, während der zweite auf ein – nie erreichtes – e-moll hinzustreben scheint. Da B-Dur/b-moll als wichtigste Nebentonart auch in den andern Sätzen allgegenwärtig ist, kann man in dieser sphinxhaften Akkordfolge auch das „harmonische Leitmotiv“ des ganzen Werkes sehen. Die zwischen diesen tonartlichen Polen erzeugte Spannung entlädt sich aber nicht in dramatischen Gesten, sondern wird andächtig und innig durchlitten. Die religiöse Dimension dieses Satzes ist unentrinnbar, und es ist unerheblich, ob man ihn nun wirklich einen „Kaddisch“ nennen will oder nicht. Ob man in der hieratischen Strenge des Passacaglienthemas nur ein Abbild der Klagemauer oder ein Symbol für die Unerbittlichkeit, Taubheit oder Abwesenheit Gottes sehen will, hängt wohl von den außermusikalischen Erfahrungen und Überzeugungen des Hörers ab – der Komponist ist der Beantwortung solcher Fragen musikalisch und verbal aus dem Weg gegangen.

Die verinnerlichte Spannung dieser Totenklage ist so stark, daß die präsumptive „Dominante“, an der das Passacaglienthema immer wieder strandet, noch sechzehn Takte weit in das anschließende Allegretto (E-Dur) hineinreicht, bis das Violoncello sich endlich in die Tonika befreit. Doch hier von Befreiung zu sprechen, ist gewagt: Der Totentanz, der dieses Finale ohne Zweifel ist, umkreist in den für die ostjüdische Volksmusik charakteristischen kleinen Sekundschritten eben diese Tonika, die keine Erlösung verheißen kann. Da die Komposition der letzten beiden Sätze des Werkes zeitlich mit dem Erscheinen der ersten Berichte über die Befreiung der Konzentrationslager Belzec, Sobibor, Majdanek und Treblinka zusammenfällt, drängt sich der Gedanke an die apokalyptischen Szenen der Shoa auf. Auch wenn Schostakowitsch diesen Bezug nicht kommentiert hat, besteht wohl kaum ein Zweifel daran, daß es diese Bilder des Grauens waren, die hier musikalische Gestalt angenommen haben: die makabren Klangeffekte – allen voran die hohlen und knöchernen Pizzicati -, die die Grenzen der Erträglichkeit immer wieder verletzende Monotonie, die aus Motivzellen Irrenhauszellen macht, all das ist in einer Weise beredt, die jede „programmatische“ Erklärung überflüssig macht. Daß ein solcher Inhalt die Form angreifen muß, liegt auf der Hand. Aus dieser Perspektive wird auch die – vergleichsweise – formale „Normalität“ der vorangegangenen Sätze begreifbar, denn erst durch sie wird der Riß, der durch dieses Finale (wie durch den Vorhang des Tempels) geht, erhellt und vertieft. In die Bruchstelle ergießt sich das steinerne Passacaglienthema als Strom glühender Lava; und während es zu kalter Figuration erstarrt, durcheilt der Komponist noch einmal den Kanon, mit dem das Werk begonnen hatte, als geraffte und entstellte Todesvision. Doch auch hinter dieser Agonie gibt es keine Erlösung: der Tanz entläßt seine Opfer nicht und treibt sie mit dumpfen Schritten und grellen Gesten immer weiter, bis zu „dem Ausgang der grimmigen Einsicht“. Hier erwartet sie, kalt und stumm, noch einmal das numinose Passacaglienthema, das jetzt endlich die Schwelle zu der nie gewährten Auflösung überschreitet. Aber auch in das Nirwana dieses E-Dur-Akkords hallen die ermatteten und kleinen Schritte des Totentanzes noch nach: Für das, was unsere Augen gesehen und unsere Ohren vernommen haben, gibt es kein Vergessen.

© by Claus-Christian Schuster

Shostakovitch: Trio Nr.1, c-moll, op.8 (1923)

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Trio Nr.1, c-moll, op.8 (1923)

Komponiert:Sankt-Peterburg („Petrograd“), 1923
Widmung:Tatjana Ivanovna Glivenko (*1906)
Uraufführung:Sankt-Peterburg („Petrograd“), Dezember 1923 (nicht dokumentiert)
Moskau, Konservatorium, Kleiner Saal, 20. März 1925
Lev Nikolaevic Oborin (1907-1974), Klavier
N. Fëdorov, Violine
Aleksandr Aleksandrovic Egorov (1887-1959), Violoncello
Erstausgabe:Muzyka, Moskva, 1983 (Polnoe sobranie socinenij, t.37)

Am 24. Februar 1922 stirbt Schostakowitschs Vater an Lungenentzündung – eines von vielen Tausenden Opfern dieses mörderischen Winters, dem die durch Krieg und Revolution entkräftete und dezimierte Bevölkerung der darniederliegenden jungen Sowjetunion ebenso wehrlos ausgeliefert ist wie dem politischen und wirtschaftlichen Terror des neuen Regimes. Der Fünfzehnjährige muß neben seinem Studium versuchen, den Lebensunterhalt für die Familie – die Mutter und zwei Schwestern – bestreiten zu helfen. Während die Mutter eine Arbeit als Kassiererin annimmt und die neunzehnjährige Maria Nachhilfestunden gibt, macht Mitja, was sich gerade anbietet. Eine seiner zahlreichen und häufig wechselnden Arbeitsstellen ist das von Shklovskij erwähnte Kino „Selekt“, wo er die oft drastischen Erzeugnisse der Stummfilmära mit einstimmenden Klavierimprovisationen begleitet. Die Arbeitsüberlastung bekommt dem schwächlichen Jungen aber nicht gut: Anfang 1923 erkrankt er an Tuberkulose. Die Ärzte, die ihn operieren, empfehlen seiner Mutter dringend, den Sohn auf Kur in den Süden zu schicken. Das Klavier muß verkauft werden, neue Schulden werden gemacht, aber im Sommer kann Mitja, von seiner älteren Schwester begleitet, auf einen Monat nach Gaspra ans Schwarze Meer fahren. Zu den zahlreichen Bekanntschaften, die er dort unter den urlaubenden Moskauer und Petersburger Intellektuellen macht, gehören die Familien Kustodiev und Glivenko. Der Maler Boris Kustodiev (1878-1927), den Schostakowitsch sehr schätzt, wird noch posthum eine Rolle im Leben des Komponisten spielen: Es sind Kustodievs Illustrationen zu Nikolaj Leskovs „Lady Macbeth“, die 1930 Schostakowitschs Aufmerksamkeit auf das Sujet seiner zweiten Oper ziehen. Von den beiden Töchtern des Moskauer Literaturwissenschaftlers und Romanisten Ivan Glivenko (1868-1931) war Tanja genauso alt wie Mitja. Dmitrij Sollertinskij berichtet über die Begegnung der beiden:

„Tanja, ein kleines, schlankes, dunkelhaariges Mädchen mit einem runden, hübschen Gesicht, war fröhlich, gesellig und sehr beliebt. Sie war stets umgeben von einer Schar junger Leute. Schostakowitsch schloß sich dieser Gruppe an. Gemeinsam verbrachte man die Zeit mit Schwimmen, Ballspielen und Spaziergängen in der Umgebung. Abends traf man sich, um Schostakowitsch beim Musizieren zuzuhören. Dmitrij konnte sich, ähnlich wie die anderen Jungen, dem Charme Tanjas nicht entziehen. Er wagte es aber nicht einmal zu träumen, daß sie seine Gefühle erwidern könnte. Krankhaft schüchtern und in sich verschlossen, fürchtete er, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit dem einbandagierten Hals und der großen runden Brille fühlte er sich unter den selbstsicheren Gleichaltrigen wie ein häßliches Entlein. Nach einigen Tagen geschah jedoch ein Wunder – Mitja stellte fest, daß seine Gefühle Widerhall fanden. Tanja wandte sich ihm mit besonderem Interesse und mit Sympathie zu, und wenn sie sich trafen, erstrahlte ihr Gesicht vor Freude.“

Zuhause erwarten die Geschwister aber die alten Sorgen:

„Als ich von der Krim zurückkam, mußten wir mit unseren Schulden fertig werden. Ende 1923 mußte ich deshalb Arbeit in einem Kino annehmen. Aber um die zu bekommen, mußte ich eine Qualifikationsprüfung als Klavierillustrator bei der Gewerkschaft RABIS ablegen. Diese Prüfung ähnelte sehr meinem ersten Besuch bei Bruni. Zuerst sollte ich einen »Blauen Walzer« spielen und danach etwas Östliches. Bei Bruni hatte ich nichts Östliches zustande gebracht, doch 1923 hatte ich schon Rimskij-Korsakovs »Sheherazade« und César Cuis »Orientale« kennengelernt. Die Qualifikation hatte ein positives Resultat, und im November trat ich meine Arbeit im Kinotheater »Goldenes Band« an. Die Arbeit war sehr schwer, aber da wir zwei Pianisten waren, gelang es mir irgendwie, den Besuch von Theater- und Konzertveranstaltungen mit dem Dienst zu vereinbaren. Da das »Goldene Band« mir im Laufe meiner zweimonatigen Tätigkeit nur einmal Gehalt zahlte, mußte ich dort weggehen, das ausstehende Gehalt bei Gericht einklagen und mir einen anderen Lebensunterhalt suchen…“

Das ist der biographische Hintergrund, vor dem in eben diesem Herbst 1923 das einsätzige Klaviertrio Opus 8 entstand. Es ist das erste Kammermusikwerk Schostakowitschs. Er widmete es seiner neuen Freundin Tanja, die seine erste große Liebe war und die für Jahrzehnte eine seiner treuesten und wichtigsten Ratgeberinnen werden sollte. Fast gleichzeitig mit dem Klaviertrio entstand eine Zyklus von drei Stücken für Violoncello und Klavier (op.9), der als verschollen gilt. Auch unser Trio wurde Jahrzehnte hindurch verloren geglaubt, bis das Autograph nach dem Tode Schostakowitschs unverhofft wieder auftauchte; allerdings fehlte die vorletzte Seite der Partitur, so daß der Schostakowitsch-Schüler Boris Tišèenko (*1939) für die Erstveröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe 1982 die fehlenden 22 Takte der Klavierstimme ergänzen mußte.

Das überaus originelle Werk stellt in einer vielgliedrigen, von ferne an ein Rondo erinnernden Form zwei kontrastierende Themenkomplexe einander gegenüber: die Gegensatzpaare „Chromatisch – diatonisch“, „Fallend – steigend“ werden in ständig neuen Brechungen gegeneinander ausgespielt. Das formale Verfahren hat wohl nicht zufällig Ähnlichkeiten mit der Montagetechnik der Filme, die Schostakowitsch allabendlich musikalisch untermalen mußte. Dabei ist der Unterton ironischer Doppelbödigkeit immer präsent, ohne den Ernst dieses Spiels zu desavouieren. Die Sicherheit, mit der diese Gratwanderung zwischen Bekenntnis und Parodie absolviert wird, bleibt bewundernswert, auch wenn dieser erste kammermusikalische Versuch des jungen Meisters an Bedeutung hinter dem monumentalen zweiten Klaviertrio (op.67) weit zurücksteht.

© by Claus-Christian Schuster

Schwertsik: Bagatellen in stark wechselnder Laune op.36 (1979)

Kurt Schwertsik

* 25. Juni 1935

Bagatellen in stark wechselnder Laune op.36 (1979)

Komponiert:Wien, 1979
Widmung:„to Tricia and Tony“
Uraufführung:Wien, Konzerthaus/Schubertsaal, 17. Dezember 1979
Haydn-Trio Wien (II)
Heinz Medjimorec, Klavier
Michael Schnitzler, Violine
Walther Schulz, Violoncello
Erstausgabe:Boosey & Hawkes, London, 1983

Lebensläufe sind, nach Kurt Schwertsik, nichts anderes als „eine rein akademische Gewohnheit der Programm-Macher“. Weil wir uns nur ungern dem Vorwurf des Akademismus aussetzen, übergehen wir also sein Studium bei Marx und Schiske, Kagel und Stockhausen, ebenso wie die Gründung der „reihe“ (zusammen mit Cerha) und der Gruppe „MOB art & tone ART“, seine Affinität zu den Beatles und „keltischer“ Musik. Aus einer wirklich unakademischen Selbstdarstellung des Komponisten aus dem Jahre 1988 wissen wir: „Die musikalische Begabung zeigte sich bei meiner Geburt: ich hatte abstehende Ohren!“ Wir erinnern uns auch gehört zu haben, daß Stockhausen dem Komponisten anläßlich der Uraufführung der „Liebesträume“ in Darmstadt 1962 als Reaktion auf die in dem Werk vorkommenden Dreiklänge ein Stückchen Zucker mit der Aufschrift „Beehren Sie uns bald wieder!“ zugeworfen habe. Und aus Schwertsiks eigener Darstellung wissen wir, daß er in eben jenem Jahre 1962 – am 3. Februar um 17 Uhr 20 – entdeckt hat, daß die Musik der Avantgarde langweilig und selbstgefällig sei. Was immer man von Schwertsiks Musik sagen möge: langweilig und selbstgefällig ist sie jedenfalls bestimmt nicht.

Die Bagatellen haben uns durch ihre deklamatorische Klarheit und Natürlichkeit angezogen. Es sind Gesprächssituationen mit fließenden und zwingenden Stimmungsübergängen, die mit großer Unbekümmertheit und Frische inszeniert und instrumentiert sind. Da dem Komponisten das Zerreden und Zerschreiben der Musik ein Greuel ist, tun wir wohl gut daran, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen:

„Einem dermaßen im 19. Jahrhundert kulminierenden Genre wagte ich mich nur ehrfürchtig auf historischen Pfaden zu nähern.
Dem 19. Jahrhundert verdanken wir vor allem Verständnis für fremde und vergangene Schönheitsvorstellungen (Wiederbelebung historischer Instrumente und Spielweisen, Musikethnologie usw.) und die „romantische Ironie“, eines der wichtigsten Kunstmittel unserer Zeit. Diese beiden Überlieferungen habe ich auf die Musik des 19. Jahrhunderts angewandt; damit reiht sich das Stück an meine Arbeiten über mittelalterliche und keltische Musik.
Der auch aus dem vorigen Jahrhundert stammende Glaube an das Heil im technischen Fortschritt wirkt gottseidank neuerdings etwas altmodisch. Mein Stück könnte vor ihm wahrscheinlich nicht bestehen!
Dem Verlauf der vier kurzen Sätze vermag jeder Hörer zu folgen, was mich der undankbaren Aufgabe enthebt, mit Worten zu beschreiben, was ich in Tönen ausgedacht habe…“

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Studien. 6 Stücke in canonischer Form op.56 (arr. Th. Kirchner)

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Studien. 6 Stücke in canonischer Form op.56 (arr. Th. Kirchner)

Komponiert:Dresden, zwischen 27. April und 7. Juni 1845
Widmung:Johann Gottfried Kuntsch (1775-1855)
Erstausgabe:Whistling, Leipzig, 1845

Unter dem 23. Jänner 1845 vermerkt Clara in ihrem Tagebuch:

„Heute begannen wir kontrapunktische Studien, was mir trotz der Mühe viel Freude macht, denn ich sah, was ich nie möglich geglaubt, bald eine selbstgemachte Fuge und sah bald mehrere, da wir die Studien regelmäßig alle Tage fortsetzten. Ich kann Robert nicht genug danken für seine Geduld mit mir und freue mich doppelt, wenn mir etwas gelingt, das er dann doch als sein Werk ansehen muß. Er selbst geriet aber auch in eine Fugenpassion, und bei ihm sprudelt es von schönen Themen, deren ich bis jetzt noch nicht eines finden konnte.“

Roberts „Fugenpassion“ hielt das ganze Jahr hindurch an: den Carl Reinecke gewidmeten Vier Fugen für das Piano-Forte op.72 folgten zwischen Februar und November 1845 Sechs Fugen über den Namen BACH für Orgel oder Pianoforte mit Pedal op.60. „Pianoforte mit Pedal“ meint hierbei eine schon im XVIII. Jahrhundert ersonnene und zu Schumanns Zeiten vervollkommnete Konstruktion, die die Ausführung von Orgelwerken auf dem Klavier ermöglichte: ein Klavier mit einer zusätzlichen Pedalklaviatur. Meistens wurde diese Zusatzklaviatur einfach unter das vorhandene Klavier geschoben und mit ihm gekoppelt. Im Zuge der Komposition der Orgelfugen hatte Schumann sich ein solches Instrument von Otto Kade gemietet. Clara schreibt dazu:

„Am 24. April erhielten wir ein Pedal unter den Flügel zur Miete, was uns viel Vergnügen schaffte. Der Zweck war uns hauptsächlich, für das Orgelspiel zu üben. Robert fand aber bald ein höheres Interesse für dies Instrument und komponierte einige Skizzen und Studien für den Pedalflügel, die gewiß großen Anklang als etwas ganz Neues finden werden.“

Während die zuerst entstandenen vier Skizzen (als op. 58 mit einer Widmung an Pauline von Abegg erschienen) nur die erste Freude an der erweiterten Bewegungsfreiheit auf dem Pedalflügel widerspieglen, erkunden die sechs Studien spezifisch die kontrapunktischen Möglichkeiten des Instruments und sind somit eine weitere Frucht von Schumanns „Fugenpassion“ – auch wenn der Komponist sich diesmal mit „Canons“ begnügt. Als Mendelssohn am 25. und 26. August 1845 auf der Durchreise in Dresden Station machte, spielte Clara ihm aus Roberts neuen Kompositionen vor:

„Man konnte ihm wohl deutlich ansehen, welch große Befriedigung er empfand, unter den Kanons gefiel ihm am meisten der so sehr graziöse in H-moll (Nr. 5), was ich mir vorher schon gedacht, denn dieser entspricht am meisten seiner eigenen Individualität.“

Dieses Mendelssohnsche Lieblingsstück wurde in der Folge auch eine der bevorzugten Draufgaben Claras.

Wie leicht und natürlich Schumann die canonische Form von der Hand ging, läßt sich an den unzähligen Belegstellen seines Werkes nachprüfen. Daß die besonderen Juwelen, die ihm in diesen sechs Studien gelangen, keine größere Verbreitung gefunden haben, ist sicher nur auf das Schicksal des verwendeten Instrumentes zurückzuführen. Denn obwohl etwa Philippe Érard noch 1850 mit einem für den Konzertgebrauch bestimmten Pedalflügel Erfolg hatte, war das Schicksal dieser Erfindung doch schon besiegelt: in den Jahren nach der Jahrhundertmitte verschwand das Instrument völlig von der Bildfläche. Um zu verhindern, daß das Schumannsche Werk dieses Schicksal teile, entstanden in der Folgezeit eine Reihe von Bearbeitungen – allein für Klaviertrio gibt es mindestens drei verschiedene Transkriptionen. Unter all diesen Versuchen ragt aber Theodor Kirchners kongeniale Übertragung deutlich hervor: sie bringt durch ihre meisterliche und phantasievolle Instrumentation den ganzen kontrapunktischen Reichtum des Originals zur vollen Entfaltung, ohne irgendetwas von dessen Intimität zu opfern.

Für Schumann selbst hat vielleicht in diesen geschlossenen und bescheidenen, aber überreichen Stücken etwas Heimatliches mitgeschwungen. „Zwickau in Wolken – Ankunft in d[er] Tanne – heimathliche Gefühle“ notiert er, als er am 6. August 1845 wieder einmal in seine Geburtsstadt kommt. Und einige Seiten weiter finden wir unter „Zwickauer Bekannte“ an erster Stelle seinen alten Lehrer, Johann Gottfried Kuntsch, dem der dankbare Schüler die Studien zugeeignet hat

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Phantasiestücke op.88

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Phantasiestücke op.88

Komponiert:Leipzig, Skizze 6.-12., Ausarbeitung 15.-28. Dezember 1842
Widmung:Sophie Petersen, geb. Petit
Erstausgabe:Kistner, Leipzig, 1850

Schumanns legendäres erstes Kammermusikjahr – zwischen Juni 1842 und Februar 1843 entstanden die drei Streichquartette, das Klavierquintett, das Klavierquartett, die Fantasiestücke für Klaviertrio und zuletzt die Variationen für zwei Klaviere, zwei Celli und Horn – mutet fast wie der Beginn einer systematischen Erforschung des Reiches der Kammermusik an. Für einen Teil dieser Entdeckungsreise wählt Schumann den Weg der schrittweisen Reduktion, auf dem er vom Quintett op.44 (September) über das Quartett op.47 (Oktober) zu seinem ersten Trioversuch (Dezember) gelangt. Von der momumentalen Konzeption der beiden vorangegangenen Werke ist in den Fantasiestücken nichts zu finden: sie folgen einem Ansatz, den Schumann etwa in den Nachtstücken op.23 und den Vier Clavierstücken op.32 schon verwirklicht hatte: eine locker gefügte vierteilige Suite, die den Gedanken an eine großräumige zyklische Architektur erst gar nicht aufkommen läßt. Hier tragen die Sätze die Überschriften Romanze, Humoreske, Duett und Finale. Wie die Streichquartette kreisen auch die Fantasiestücke um Schumanns Lieblingstonartenpaar a-moll/F-Dur. Der schlichte dramaturgische Ablauf des Werkes ( – zweimal folgt auf ein liedhaftes Stück im Sechsachteltakt ein Marschsatz – ) sollte nicht über das Raffinement der Komposition hinwegtäuschen. Auch das über Jahre hinweg bewahrte Interesse des Meisters an seinem Werk, das er im April 1849, kurz vor der Uraufführung des D-moll-Trios, noch einmal überarbeitete, bevor er es 1850 im Druck erscheinen ließ, beweist, daß Schumanns erster Versuch im Genre des Klaviertrios keineswegs ein Gelegenheitswerk ist. Der lyrische Geist, der in dem ganzen Werk deutlich vorherrscht, läßt uns mehr als einmal an Eichendorff denken; und wenn Schumann uns in der A-Dur-Coda des letzten Stückes in eine zauberhaft beleuchtete Claude-Lorrain-Landschaft entführt, glauben wir uns vollends in diese poetische Traumwelt versetzt:

„…die Sonne ging eben unter und bedeckte das ganze Land mit Glanz und Schimmer, die Donau schlängelte sich prächtig wie von lauter Gold und Feuer in die weite Ferne, von allen Bergen bis tief ins Land hinein sangen und jauchzten die Winzer…“

(Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts)

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Trio Nr.3, g-moll, op.110

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Trio Nr.3, g-moll, op.110

Komponiert:Düsseldorf, 2.-9. Oktober 1851
Widmung:Niels Wilhelm Gade
Uraufführung:privat: Düsseldorf, 15. November 1851
Clara Schumann (1819-1896), Klavier
Joseph von Wasielewski (1822-1896), Violine
Christian Reimers (1823-?), Violoncello

öffentlich: Leipzig, Gewandhaus, 21. März 1852, Musicalische Morgen-Unterhaltung
Clara Schumann, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Andreas Grabau (1808-1884), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1852

Am 2. September 1850 treffen Robert und Clara Schumann mit ihren fünf Kindern aus Dresden kommend in Düsseldorf ein. Der neue Musikdirektor wird ehrerbietig und herzlich empfangen, und er ist bereit, im Gegenzug die provinzielle Enge seiner neuen Wirkungsstätte, deren Musikleben sich mit demjenigen Dresdens oder gar Leipzigs in keiner Weise messen kann, geflissentlich zu übersehen. Doch auch Düsseldorf, die letzte Station von Schumanns schöpferischem Leben, soll ihm nicht zur Heimat werden.
Die dreieinhalb Jahre bis zu jenem 4. März 1854, an dem er mit seinem Arzt und zwei Wärtern den Wagen nach Endenich besteigt, werden traditionell als wehmütiger Epilog der Schumannschen Biographie gesehen. Eine willkürliche Auswahl der diesbezüglichen Kapitelüberschriften aus der reichen Schumannliteratur mag das illustrieren: „Herbstfäden“ (Berthold Litzmann, 1905), „Die Sonne sinkt“ (Walter Dahms, 1914), „Es wehet ein Schatten“ (Karl Laux, 1971)…
Die Geschichte von Schumanns Scheitern als Dirigent in Düsseldorf ist oft genug beschrieben worden – und sie ist auch hinlänglich minutiös dokumentiert. Wenn man sich aber der kompositorischen Ernte dieser dreieinhalb Jahre zuwendet, bietet sich ein ganz anderes Bild. Nur wenigen konkreten Untersuchungen steht eine überwältigende Fülle an Pauschalbewertungen gegenüber – und fast immer herrscht der Ton verständnisvollen Bedauerns und entschuldigenden Mitgefühls vor. Ich fürchte, daß trotz dieses wortreichen Bemühens das Verständnis für Eigenart und Eigenwert der Schumannschen Spätstils noch nicht sehr weit gediehen ist.
Dem allzuoft ungeprüft weitergegebenen Vorurteil, Schumanns schöpferische Kräfte seien in diesen Jahren allmählich versiegt, ist zunächst eine simple und unleugbare Tatsache entgegenzuhalten: von den knapp 200 Werken die Schumann in den rund 25 Jahren seiner kompositorischen Tätigkeit geschrieben hat, ist fast ein Viertel – also überdurchscnhittlich viel – in der Düsseldorfer Zeit entstanden. Was nun die Qualität dieser Werke anlangt, so täte man wohl gut daran, die überkommenen Verdikte in jedem einzelnen Falle noch einmal nachzuprüfen. Das kann nur hörend geschehen – und vielleicht finden sich doch Hörer, die die Bekanntschaft mit Schumanns letztem Klaviertrio dazu anregt, auch die anderen Spätwerke einer solchen kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Wir stehen am Beginn von Schumanns zweiter Düsseldorfer Saison. Erst vor kurzem, Ende Juni 1851, hat die Familie endlich ein passendes und für den lärmempfindlichen Komponisten ausreichend ruhiges Quartier in der Königsallee bezogen, dessen geräumiger Musiksalon am 6. Juli mit einer Aufführung der Urfassung von „Der Rose Pilgerfahrt“ (op.112) eingeweiht worden ist. Wenig später brechen Clara und Robert zu einer Vergnügungsreise auf.
Die Parallelen zu dem neun Jahre zurückliegenden „Kammermusikjahr“ 1842 sind unübersehbar: Hatte damals eine Fahrt nach Böhmen – „die schönste u. heiterste, die ich je mit Klara gemacht“ – im August die Ouverture zur Komposition der Opera 44, 47 und 88 gebildet, so ist es diesmal eine Reise durch das Rheintal bis Basel und von da weiter nach Genf und zum Montblanc (19. Juli bis 5. August – „Es war die schönste Reise, die Robert mit mir gemacht.“), die der kammermusikalischen Saison vorangeht. Und noch mehr als damals verblüfft die Rasanz, mit der nach der Heimkehr die Werke aus Roberts Feder fließen: 12.-16. September – Erste Violinsonate, a-moll, op.105; 2.-9. Oktober – Drittes Klaviertrio, g-moll, op.110; 26. Oktober – 2. November – Zweite Violinsonate, d-moll, op.121. Freilich sind das immer nur die Daten der Skizzierung, vollständige Ausarbeitung und Reinschrift folgen diesem ersten Arbeitsgang aber jeweils auf dem Fuß.
Über das G-moll-Trio lesen wir zuerst im Haushaltbuch: Den ersten vagen „Compositionsgedanken“ (1. Oktober) folgen schon am nächsten Tag konkretere „Triogedanken“, und bereits am 3. Oktober ist die Skizze des Kopfsatzes beendet. Der folgende Tag meldet: „2ter Satz. – Nach Benrath mit Frl. Hartmann und Schloß.“ (Ist der Zwiegesang dieses Satzes vielleicht gar von den beiden Sängerinnen inspiriert?) Wie immer, wenn Schumann im Schaffensrausch ist, versinkt die Welt rings um ihn: „3ter Satz. Freude. – Kränzchen b. Fr. Conitz versäumt.“ (5. Oktober). Und schon am 9. Oktober verkündet das Haushaltbuch: „Zieml. fertig m. d. letzten Satz des Trio.“ Bei all diesem Arbeitsfieber scheint Schumann sich die berühmten Rückert-Verse „Blicke mir nicht in die Lieder!“ zum Motto genommen zu haben, denn in Claras Tagebuch lesen wir:

„Robert arbeitet sehr fleißig an einem Trio für Klavier, Violine und Violoncell, doch läßt er mich durchaus nichts davon hören, als bis er ganz fertig ist – ich weiß nur, daß es aus G-moll geht.“
(Tagebuch, 11. Oktober 1851)

Doch sofort nach Abschluß der Arbeit bekommt Clara das neue Werk zu Gesicht – und gleich auch unter die Finger. Am 27. Oktober vormittags findet schon die erste Probe mit Joseph von Wasielewski und Christian Reimers statt; Clara gerät in Schwärmerei:

„Es ist originell, durch und durch voller Leidenschaft, besonders das Scherzo, das einen bis in die wildesten Tiefen mit fortreißt. Was ist es doch Herrliches um einen so rastlos schaffenden gewaltigen Geist, wie preise ich mich glücklich, daß mir der Himmel Verstand und Herz genug gegeben hat, diesen Geist und dies Gemüt so ganz zu erfassen. Oft befällt mich eine heiße Angst, wenn ich daran denke, welch glückliches Weib ich bin vor Millionen andern, und dann frage ich oft den Himmel, ob es auch nicht zuviel des Glückes ist. Was sind alle Schattenseiten, die das materielle Leben mit sich bringt, gegen die Freuden und die Wonnestunden, die ich durch die Liebe und die Werke meines Robert genieße!“
(Tagebuch, 27. Oktober 1851)

Schon einen Tag davor hat Robert die Komposition einer zweiten Violinsonate (d-moll, op.121) begonnen, die er innerhalb weniger Tage fertigstellt: Die beiden Zwillingswerke werden von Clara mit Wasielewski und Reimers schon am 15. November im Schumannschen Musiksalon einer Handvoll Freunde (Rosalie Leser, Mathilde Hartmann, Julius Tausch, Albert Dietrich und Theodor Hildebrandt) vorgestellt. Daß Clara diese beiden schwierigen und anspruchsvollen Werke in so kurzer Zeit konzertreif einstudieren konnte, wird noch bewundernswerter, wenn man bedenkt, daß sie nur zwei Wochen später (am 1. Dezember) ihr siebentes Kind (Eugenie) gebären sollte.
Zwei Tage nach dieser privaten Uraufführung bietet ein Besuch des Geigers Otto von Königslöw noch einmal willkommenen Anlaß, die neuen Werke wieder vorzunehmen. (Vier Jahre später wird der Gast in Prag an der Uraufführung eines anderen G-moll-Trios beteiligt sein: desjenigen von Bedrich Smetana…)

Claras Enthusiasmus für die neuen Kammermusikwerke ihres Mannes hat gute Gründe. Die drei Werke des Herbstes 1851 bezeugen auf faszinierende Weise, wie unbeirrt und zielstrebig Schumann seine kammermusikalischen Konzepte weiterentwickelt. Op.105 und op.110 erscheinen dabei wie schrittweise Annäherungen an eine Aufgabe, die in op.121 monumental und beispielhaft gelöst wird. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die beiden erstgenannten Werke in der Dominant- bzw. Subdominant-Tonart des Opus 121 stehen, dessen Trabanten sie gewissermaßen sind. Das Opus 105 – mit Abstand das meistgespielte der drei Werke – wirkt in diesem Kontext wie ein Präludium: viele der für die beiden nachfolgenden Opera bestimmenden Züge sind schon hier präsent, aber in bedeutend kleinerem Maßstab. Der Mittelsatz des dreisätzigen Werkes vereinigt auf engstem Raum liedhafte und tänzerische Elemente, ist also langsamer Satz und Scherzo zugleich. Damit wird hier eine auch für die Folgewerke bedeutsame Aufgabe in Angriff genommen: die Entwicklung dramaturgisch tragfähiger Modelle für die Beziehung der Mittelsätze innerhalb des Werkganzen, eines der schwierigsten Probleme der nachklassischen Mehrsätzigkeit, das Schumann in nicht geringerem Maße beschäftigte als Beethoven vor und Brahms nach ihm.

Unser Opus 110 nähert sich dieser Aufgabe auf ganz andere Weise: An die Stelle eines vieldeutigen, miniaturhaften Mittelsatzes treten hier zwei Sätze von epischer Breite und Fülle, die – jeder auf seine unverwechselbare Art – der angestrebten Mehrdeutigkeit und Beziehungsvielfalt der Mittelsätze genügen. Die Wiederherstellung der Viersätzigkeit ist keine bedingungslose Rückkehr zur traditionellen Satzfolge (langsamer Satz – Scherzo), sondern ein subtiler und origineller Versuch, die Binnensätze inniger mit den Ecksätzen zu verbinden: Die dramatische Mittelepisode des dreiteiligen zweiten Satzes nimmt Elemente und Charaktere aus Durchführung und Coda des Kopfsatzes auf, während das lyrische erste Trio des dritten Satzes in extenso im Finale wiederkehren wird. Schumann schafft auf diese Weise eine motivische und inhaltliche Permeabilität zwischen jeweils zwei benachbarten Sätzen, ohne freilich die Grunddramaturgie der Viersätzigkeit in Frage zu stellen. (In der unmittelbar folgenden zweiten Violinsonate wird Schumann in genialer Weise mit den Möglichkeiten der Verschwisterung der beiden Mittelsätze experimentieren.)

Der erste Satz des Werkes (Bewegt, doch nicht zu rasch) ist von ungewöhnlich großer Geschlossenheit, die zu nicht geringem Teil durch die Dominanz eines ambivalenten rhythmischen Motivs erreicht wird (punktierte Achtel gefolgt von drei Sechzehnteln – eine Formulierung, die sich wahlweise als Dreiachtel- oder als Sechssechzehntelgruppe verstehen läßt). Es ist die für Schumanns Spätwerk typische Omnipräsenz solcher rhythmischer Gestalten, die vielen Kritikern „peinlich“ erscheint, in Wahrheit aber nur die organische Kohärenz eines überaus vielschichtigen Satzgebildes ausdrückt. Auch die innige Verwandtschaft der einzelnen thematischen Zellen (so etwa der emblematische steigende Halbtonschritt zu Beginn von Haupt- und Seitenthema) ist durch die gleichsam vegetative Vielfalt der motivischen Verästelungen bedingt und begründet: Es bedarf durchaus solcher vereinheitlichenden Elemente, um die Fülle des Materials zusammenzuhalten, ohne den assoziativen Fluß der Phantasie zu behindern.
Die Anwendung solcher Strategien ist auch für einen Meister nicht gefahrlos. Doch Schumann gelingt es nicht nur, der hinter der Vereinheitlichung lauernden Gefahr der Monotonie mit spielerischer Sicherheit zu entgehen, er versteht es auch, diesem riskanten Spiel neue Gestaltungsmöglichkeiten abzugewinnen. So erzielt er die stärkste Wirkung, wenn er im Zentralteil der Durchführung die zusammenfassenden Hintergrundelemente jäh zum Verstummen bringt und den Zuhörer in einer phantastisch bizarren Klanglandschaft alleine läßt: Das irritierende und faszinierende Gespinst von Pizzicato-, Arco-, Legato- und Staccato-Effekten, das uns hier umfängt, gehört ohne Zweifel zu den großartigsten Trouvaillen der gesamten Klaviertrioliteratur.
Das den ganzen Satz übrigen Satz durchpulsende Wogen steigert sich in der Coda (Bewegter) zu leidenschaftlichster Intensität, bevor es unvermittelt abbricht und verebbt – auch das ein Moment von unerhörter Eigenart und Meisterschaft, der ferne und flüchtige Erinnerungen an die Verfremdungen der Durchführung wachruft.

Der erste der beiden Mittelsätze (Ziemlich langsam, Es-Dur) ist in seinem ruhigen Hauptteil ein inniger Zwiegesang zwischen den Streichinstrumenten, der den schönsten Vokalduetten Schumanns an die Seite gestellt werden darf ( – das in der gleichen Tonart stehende „Ich bin dein Baum“ op.101 Nr.3 ist auch zeitlich nicht allzuweit entfernt – ) und in den ganz zuletzt auch das Klavier nachträumend einstimmt. Der unruhig drängende, gleichsam mit den Hufen scharrende Mittelteil, unter dessen Ansturm sich der Puls des Satzes fiebrig beschleunigt, steht zu seiner Umgebung in größtmöglicher dramatischer Spannung. Obwohl sich hier in Textur und Motivik unschwer Beziehungen zu dem vorangegangenen Satz ausmachen lassen, ist doch auch der thematische Zusammenhalt innerhalb des Satzes souverän gewahrt.

Im folgenden Scherzo (Rasch, c-moll) könnte man, andeutungsweise und in kühner Verzerrung, ferne motivische Anklänge an den zweiten Satz der ein Jahr früher entstandenen Rheinischen Symphonie (Es-Dur, op.97) ausnehmen. Daß dieser Satz in Schumanns Imagination zur fraglichen Zeit lebendig war, läßt sich am Finale der Violinsonate op.105 beweisen. Doch wie hat sich das Bild gewandelt! Wo die Symphonie sich in gemütlich-sonnigem Dreivierteltakt wiegt, hastet das dreimal wiederkehrende Ritornell dieses Satzes in einem immer wieder über synkopierte Akzente stolpernden Zweivierteltakt dahin; ein schon in der Durchführung des ersten Satzes drohend aufleuchtendes Blitzmotiv kommt hier zu voller gewittriger Geltung – ein unwirtlicher Herbstregen peitscht uns ins Gesicht. Um so willkommener sind die beiden Episoden, die das stürmische Geschehen unterbrechen: Die erste (C-Dur) wandelt in verlangsamtem Tempo ein in allen drei Klaviertrios vorkommendes Motiv ab, und zwar in jenem wundervoll lyrischen Parlando, das Schumann wohl für seine Opernprojekte vorgeschwebt ist, und das wir an den innigsten Stellen seiner Vokalsymphonik wiederfinden. Die das Grundtempo beibehaltende zweite Episode (As-Dur) entführt uns mit einem punktierten Reitermotiv in die altvertraute Märchenwelt einer königlichen Jagd (– die Analytiker werden in dem hier verwendeten Material aber unschwer das Incipit des langsamen Satzes wiedererkennen).

Schon die Überschrift des Finales (Kräftig, mit Humor, G-Dur) steht in unüberbrückbarem, wirklich „peinlichem“ Widerspruch zu der sorgsam gehüteten Ikone des verdüsterten und grüblerischen Düsseldorfer Meisters, der nur noch den geeigneten Augenblick abwarten muß, um Lenaus Schicksal teilen zu dürfen. Kein Wunder also, daß die hellsichtige Musikwissenschaft den fadenscheinigen Täuschungsversuch dieser Schumannschen Satzbezeichnung mühelos durchschauen konnte: der Satz ist „gequält“ und leidet an „Geschwätzigkeit“ (P. und W. Rehberg, 1954), sein Humor bestenfalls „ledern“ (ibidem), „schwarz“ (B. Smallman, 1990) oder gar „gewaltsam“ (A. Beaujean, 1997). Etwas anders freilich hört sich der Satz an, wenn er nicht mit dem Hörrohr aus Endenich verfolgt wird.
Der urwüchsige, aber durchaus nicht brachiale Übermut der vier Sextintervalle des Incipits animiert alle drei Instrumente zu waghalsigen Capriolen. Die pittoreske und rasch wechselnde Szenerie scheint uns in die weit zurückliegende Welt der Hottentottiana des Studenten Robert Schumann zu entführen: finden sich hier nicht alle Fidelitäten, Knillitäten und Studentenextremitäten, die die Seiten dieses ganz im Geiste Jean Pauls skizzierten Tagebuches füllten? Und wenn schon dort die Form eines „ordentlichen“ Lebensberichtes gesprengt werden mußte, so müssen auch hier die biederen Konventionen von Sonatensatz und Rondo achselzuckend abdanken: Mit herrlicher Unbekümmertheit wirft der Satz auf engstem Raum alle möglichen Formelemente durch- und übereinander – und schließlich allesamt über den Haufen. Hier haben wir es aber nicht etwa mit einem ausgeklügelten „Formexperiment“ zu tun; die unmittelbarste und drängendste Lebensfülle schafft sich ihr eigenes Flußbett, an dessen Ufern der ordnungsliebende Analytiker nur kopfschüttelnd verweilen kann. Die krause Formel, die er in dem unbändigen Dahinströmen erkennen mag, kann seine Ratlosigkeit nur noch erhöhen: ABACA | DED FGF | Durchführung | ABACA (= Reprise) | Coda.
Die Episoden B (Klavier, C-Dur) und C (Streicher, e-moll) sind eng verwandt und bilden zusammen mit dem Ritornell (A) den rondoartigen Kern des Satzes, der um zwei ausgedehnte dreiteilige Episoden erweitert wird: In der ersten dieser Episoden begegnen wir im Hauptteil (D, D-Dur) einem lieben, alten Bekannten (dem lyrischen, ersten Trio aus dem Scherzo), während ihr Mittelteil (E) die ritterlichen Punktierungen des zweiten Trios von ebendort launig paraphrasiert. Mit diesem Element ist ein Ton angeschlagen, der die darauffolgende Episode zu fabulierender Fortspinnung anregt: Der hier anklingende Militärmarsch (F, g-moll) führt uns geradenwegs in die humoristische Soldatenpoesie von Mörikes „Tambour“ („Wenn meine Mutter hexen könnt´…“) – oder ist es nur die Nähe der Hugo Wolfschen Vertonung dieses Gedichtes, die uns das glauben macht? Jedenfalls stimmt auch der Mittelteil dieser Episode (G) erstaunlich gut zu diesen Versen (Mörike-Wolf: „Ach weh! Jetzt hat der Spaß ein End´…“). Und eine Ende hat der Spaß ja gewissermaßen auch hier, weil Schumann nämlich an dieser Stelle das ungebärdige erste Thema mit unverhohlener Schadenfreude in die strenge Schule des Kontrapunktes schickt. Freilich ist das spöttische Fugato, das sich daraus ergibt, von nur sehr kurzer Dauer – ganz offensichtlich ist das Thema nicht reif für die Schule. Wenn uns dann, am Ende der „Reprise“, die Coda in einen schwindelerregenden und immer toller werdenden Tanz entführt, in dem das bedrohliche „Blitzmotiv“ aus dem ersten und dritten Satz in neckischem Übermut zerstäubt wird, muß auch die letzte Hoffnung auf eine schulmeisterliche Bändigung dieses schwererziehbaren Satzes schwinden: In den befreienden Jubel, der uns zum Schluß das Leitmotiv der Schumannschen Trios (D) noch einmal in unfaßbaren Synkopierungen vorführt, können wir nur bewundernd einstimmen.

Mit der gleich im Anschluß an das Trio komponierten zweiten Violinsonate vollendet Schumann die kammermusikalische Triade dieses Herbstes. Wenige Wochen später stellt er in einem Brief an Richard Pohl illusionslos fest:
„Ich bin daran gewöhnt, meine Compositionen, die besseren und tieferen zumal, auf das erste Hören vom größten Teil des Publikums nicht verstanden zu sehen.“
(Brief vom 7. Dezember 1851)

Doch – entgegen der Überzeugung vieler Schumannbiographen – lähmt diese Erkenntnis seine Schaffenskraft nicht. Schumanns Wille und Fähigkeit, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, werden auch durch die schweren Belastungen, denen sein Körper und Geist durch die fortschreitende Krankheit zweifellos ausgesetzt sind, nicht gebrochen. Nach einer nur kurzen, durch Krankheit erzwungenen Pause entstehen schon zwischen Ende Dezember und Anfang März als symphonisches Pendant zu der kammermusikalischen Trilogie drei Werke mit Orchester: die Ouverture zu Goethes „Hermann und Dorothea“ (op.136), die später Johannes Brahms gewidmete Ballade „Des Sängers Fluch“ nach Uhland (op.139) und die lateinische Messe (op.147) – aber die Nachwelt wird unbeirrt von einem „Nachlassen der Schaffenskraft“ und vom „Versiegen des Borns“ faseln.
Am 5. März 1852, dem Tag, an dem die Messe beendet wird, reisen Clara und Robert zu Konzerten nach Leipzig. Es ist der erste „Heimaturlaub“ seit der Übersiedlung nach Düsseldorf. Im Quartier ihrer Leipziger Gastgeber, des Ehepaars Preußer, wird fast jeden Vormittag im Freundeskreis musiziert, wobei die neuen Kammermusikwerke (die beiden Violinsonaten und unser Trio) oft im Mittelpunkt stehen. Claras Partner sind dabei Ferdinand David und Andreas Grabau. In dieser Besetzung wird das Trio zunächst an Hausmusikabenden dem Verleger Hermann Härtel (10. März) und dem Mitglied des Gewandhaus-Direktoriums Hermann Petschke (12. März) vorgeführt. Und der Komponist ist diesmal mit den Leistungen seiner Frau mehr als zufrieden: „Herrliches Spiel von Klara“ und „ganz vortrefflich“ vermerkt Schumann an diesen beiden Abenden – alles andere als eine Selbstverständlichkeit: gerade in jüngster Vergangenheit hat Roberts herbe, ja zerstörerische Kritik Clara sehr zu schaffen gemacht.
Bei den Morgenmusiken im Preußerschen Hause kommt es am 15. März übrigens zu einer der pittoresken Begegnungen zwischen Franz Liszt und dem Ehepaar Schumann:
„Ich spielte Liszt Roberts G-moll-Trio vor, und dann spielten wir Mendelssohns vierhändiges Allegro [op.92]… Das Allegro war furchtbar anzuhören; die jungen Leute aber, deren viele da waren, waren ganz entzückt! Liszt am Klavier, wenn er animiert ist, ist wohl ein genialer Anblick, aber eben nur ein Anblick war´s. Musik nicht mehr, sondern wie dämonisches Sausen und Brausen.“

Die Leipziger Öffentlichkeit kann das Opus 110 wenige Tage danach, am 21. März, in einer sonntäglichen Benefiz-Matinée des Gewandhauses kennenlernen, wo es den Abschluß des Programms bildet, das mit der ersten Violinsonate (op.105) eröffnet wird. Am Morgen das nächsten Tages reisen Robert und Clara ab. Robert Schumann wird Leipzig, die Stadt, in der er den größten Teil seines schöpferischen Lebens verbracht hat, nie mehr wieder sehen.

Bald nach Schumanns Abreise erscheint das Trio mit einer Widmung an Niels Wilhelm Gade im Druck. Wie sehr Schumann den dänischen Komponisten, der 1844 unschuldiger Anlaß für seinen Weggang aus Leipzig war, geschätzt hat, und wie wenig die Bevorzugung Gades als Dirigent des Gewandhausorchesters ihre Freundschaft berührt hat, ist an manchen Einzelheiten ablesbar. Im Abschiedskonzert der Schumanns im Leipziger Gewandhaus (8. Dezember 1844) ist Gade der Bratschist in der Uraufführung von Schumanns Klavierquartett op.47; im Nordischen Lied des Albums für die Jugend (op.68) setzt Schumann seinem Freunde mit der Verwendung der Tonchiffre GADE ein diskretes Denkmal; und gleich im ersten Konzert, das Schumann als Musikdirektor in Düsseldorfer leitet (24. Oktober 1850), führt er Gades Kantate „Comala“ (nach Ossian) auf, die ihn gerade zur Zeit der Entstehung seiner eigenen vokalsymphonischen Werke besonders interessieren muß. Im selben Jahr widmet Gade, der in der Zwischenzeit aus Leipzig nach Kopenhagen zurückgekehrt ist, Schumann seine zweite Violinsonate (d-moll, op.21). Die Zueignung des Opus 110 kann als eine Antwort darauf verstanden werden. Noch während der Eskalation des Streites um seine Orchesterleitung konnte Schumann am 30. Dezember 1852 Gades „Frühlingsphantasie“ op.23 mit Clara als Solistin aufführen.

Am Nachmittag des 4. Oktober 1853 findet in der Bilker Straße ein Hauskonzert statt. Wichtigster Gast ist der neueste Freund des Ehepaars Schumann: Johannes Brahms. Die Phantasie in d-moll (Largo und Allegro) für Klaviertrio, die Brahms hier aufführt, beeindruckt den Gastgeber so sehr, daß er ihre Veröffentlichung als Opus 1 vorschlägt. Auch Schumanns op.110 wird an diesem Nachmittag gespielt. Vielleicht ist es die Begegnung mit diesem Meisterwerk, die Brahms an seinem eigenen Opus zweifeln läßt. Jedenfalls verschwindet schon bald danach die Phantasie aus unserem Gesichtsfeld – und Brahms beginnt die Arbeit an seinem H-Dur-Trio.

Der in Brünn geborene amerikanische Musikwissenschaftler und Cellist Robert Schauffler (1879-1964) hat – vielleicht als einziger – bemerkt, daß Robert Schumann mit seinem letzten Klaviertrio in der Freiheit und Unabhängigkeit der instrumentalen Behandlung dem ihm vorschwebenden kammermusikalischen Ideal am nächsten gekommen sei. Diese Erkenntnis wird (und soll) das eindeutige Verdikt des Publikums, das sich schon immer das D-moll-Trio (op.63) zum Liebling erkoren hat, nicht beeinflussen; wenn sie nur dazu beiträgt, den Weg Schumanns in seinen letzten Lebensjahren nicht als Irrrweg zu betrachten, ist schon viel gewonnen.

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Trio Nr.2, F-Dur, op.80

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Trio Nr.2, F-Dur, op.80

Komponiert:Dresden, 2. August bis 1. November 1847
Uraufführung:privat:
Dresden, Harmonie, 29. April 1849
Clara Schumann, Klavier
Franz Schubert (1808-1878), Violine
Friedrich Schubert (?-1853), Violoncello
öffentlich:
Leipzig, Gewandhaus, 22. Februar 1850
Clara Schumann, Klavier
Ferdinand David (1810-1873), Violine
Julius Rietz (1812-1877), Violoncello

Erstausgabe:Schuberth, Hamburg, Dezember 1849

Schon bald nach der Vollendung des D-moll-Trios op.63 (Juni 1847) muß Schumann seinen ursprünglichen Plan, dieses Werk zusammen mit den 1842 entstandenen Phantasiestücken (op.88) zu veröffentlichen, fallen gelassen haben. An der Idee eines Trio-Diptychons hielt er aber nach wie vor fest: Ähnlich wie Beethoven bei der Komposition des Sonatenpaares op.23/op.24 (Violinsonaten a-moll und A-Dur) oder Brahms in seinen beiden Thuner Geigensonaten (op.100/op.108), um nur zwei besonders berühmte Beispiele dieses Schaffensprinzipes zu nennen, schwebte ihm wohl die Schaffung eines idealen und gegensätzlichen Geschwisterpaares vor Augen.

Nach der Rückkehr aus Zwickau, wo am 10. und 11. Juli ein (wegen des Todes von Schumanns jüngstem Sohn Emil am 22. Juni verschobenes) Schumannfest stattgefunden hatte, beschäftigt sich Robert aber zunächst wieder mit seiner Lieblingsidee, der Oper Genoveva. Am 27. Juli empfängt er in diesem Zusammenhang den Besuch Friedrich Hebbels, der schon im Mai brieflich seine Mitarbeit am Libretto zugesagt hatte. (Es sollte ihre einzige Begegnung bleiben.) Während Hebbel dem introvertierten Komponisten nichts abgewinnen kann, ist Schumann von dem Treffen tief beeindruckt („Das ist wohl die genialste Natur unsrer Tage…“) und setzt mit erneuerter Zuversicht seine musikdramatischen Arbeiten fort. Am darauffolgenden Tag beendet er die Umarbeitung des Schlußchores der Scenen aus Goethe’s Faust. In F-Dur klingt dieses Werk aus, und die Neufassung läßt mit den Worten „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“ jetzt statt einer Steigerung eine Beruhigung des Tempos eintreten. Ist es ein Zufall, daß sich unmittelbar danach das Feuer, das hier der Kontemplation weichen mußte, im begeisterten Beginn des F-Dur-Trios entlädt?

Nach einem Sonntagsausflug in die Weingärten der Lößnitz („Wunderschöner Tag“ vermerkt das Haushaltbuch für diesen 1. August 1847) beginnt Schumann mit der Komposition des Trios. Die Arbeit scheint ihn in Hochstimmung zu versetzen: „- sehr fröhlich – Triogedanken“ lesen wir etwa unter der Ausgabenaufstellung für den 11. August. Auch von täglichen Bädern, wiederholten Partien in die Dresdener Umgebung und geselligen Treffen, vor allem mit den Komponistenfreunden Ferdinand Hiller und Niels Wilhelm Gade, berichtet das Haushaltbuch. Zwei Wochen nach Beginn der Arbeit scheint das Werk fertig skizziert gewesen zu sein. Anfang September finden wir Schumann dann noch mit der Reinschrift des D-moll-Trios beschäftigt, das zu Claras 28. Geburtstag (13. September) aus der Taufe gehoben wird. Erst nachdem er die sich daran anschließenden Korrekturen beendet hat, geht er an die Ausarbeitung der Skizze des F-Dur-Trios, die ihn vom 26. September bis zum 1. November 1847 beschäftigt.

Am Abend nach der Beendigung der Komposition hört Schumann zum ersten Mal Mendelssohns Elias, mit dem er sich schon seit August beschäftigt; Gade hat ihm am Vortag von der schweren Erkrankung des Freundes berichtet. Am 5. November erreicht Schumann die Nachricht von Mendelssohns Tod.

An den Trionachmittagen, die die Schumanns mit den Brüdern Schubert in diesem Herbst eingerichtet haben, wird des großen und bewunderten Freundes mit zwei Aufführungen des C-moll-Trios gedacht; vielleicht wird bei einer dieser Gelegenheit auch das neue Opus des Gastgebers ausprobiert – die erste sicher dokumentierte Aufführung des Werkes findet allerdings erst eineinhalb Jahre später statt, die öffentliche Uraufführung gar erst am 22. Februar 1850. Wie enttäuscht Clara war, als Ferdinand David und Julius Rietz, mit denen sie diese Aufführung im Leipziger Gewandhaus bestritt, kein einziges Wort über seine Schönheiten verloren, kann man leicht ermessen. Sie selbst hatte sich Hals über Kopf in das Werk verliebt:

„Es gehört zu den Stücken Roberts, die mich von Anfang bis zum Ende in tiefster Seele erwärmen und entzücken. Ich liebe es leidenschaftlich und möchte es immer und immer wieder spielen!“

hatte sie schon im April 1849 ihrem Tagebuch anvertraut. Der Kritiker der Signale für die musikalische Welt befand nach der Uraufführung:

„Die musikalische Literatur ist wieder um ein außerordentlich wertvolles Kunstwerk, das bei seiner erfolgten Aufführung unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht, bereichert. Wir sprechen vom neuen Trio, welches als ein Zeuge ungeschwächter Schöpfungskraft aus der genialen Feder Robert Schumann’s, des Gatten der Concertgeberin, geflossen ist. Zwar haben wir es mit keinem so gewaltigen Producte wie es der Autor in seinem ersten Trio (D moll) bietet, zu thun, aber mit einem desto lieblicheren, anmuthsvolleren, viele kostbare Kleinodien in sich bergenden Stück, welches das empfängliche Gemüth auf die wohlthuendste Art berühren muß…“

Vor allem in den Ecksätzen fand der Rezensent allerdings „Manches, mit dem man sich nur nach öfterem Hören vertraut machen kann.“ Gerade an diesem öfteren Hören scheint es aber bis heute zu mangeln: zu sehr steht das Werk – das läßt auch diese erste Besprechung erkennen – im Schatten seines älteren Bruders, zu dem es genauso untrennbar gehört wie Eusebius zu Florestan. Der dunkel-leidenschaftlichen Dramatik des Opus 63 mit seinen balladesken und phantastischen Zügen steht das F-Dur-Trio als ein lichtdurchflutetes Bild voll wärmender Kraft und zuversichtlicher Innigkeit gegenüber, das nur im Intermezzo des dritten Satzes eine spielerische Trübung erfährt. Weil aber Eusebius und Florestan in Wahrheit nur Eines sind ( -„Kontraste sind inverse Ähnlichkeiten“, bemerkt Novalis einmal – ), so sind auch diese so gegensätzlichen Bilder nur unterschiedliche Ansichten einer Wesenheit. Daher überrascht es uns nicht, wenn wir die beiden Werke auf vielfältigste Weise miteinander verbunden sehen. Der innere Zusammenhang offenbart sich nicht nur in einer ganzen Reihe materieller und ideeller Details, von denen einige wenige im weiteren Verlauf angedeutet werden sollen, er äußert sich auch im Makrokosmos des Tonartenplans: Denn auch in diesem Punkt erweist sich op.80 (Tonartenfolge: F-Dur – Des-Dur – b-moll – F-Dur) als ein Spiegelbild von op.63 (Tonartenfolge: d-moll – F-Dur – a-moll – D-Dur).

„Spiegelbild“ – das ist vielleicht das Wort, in dem der Schlüssel zur Ideenwelt dieses Trios liegt. Da bekommt etwa das uns schon aus dem zweiten Satz des D-moll-Trios vertraute Motiv, das in allen Schumannschen Klaviertrios eine tragende Rolle spielt (ein charakteristisch punktiertes, chromatisch-diatonisch ansteigendes Skalenfragment), gleich im ersten Satz des F-Dur-Trios (Sehr lebhaft) sein Spiegelbild vorgehalten – und wen wundert es, daß uns dieses Bild wohlvertraut ist? Es ist jene melodische Wendung, die Schumann 1840 den Eichendorff-Versen „Dein Bildnis wunderselig / Hab‘ ich in Herzensgrund…“ (Intermezzo, op.39 Nr.2) unterlegt hatte. Gleich nachdem die stürmische, von federndem Rhythmus durchpulste und in freudiger Erwartung bebende Exposition im Eilschritt durchmessen ist – sie ist sicher eine der konzisesten und prägnantesten der deutschen Romantik -, erscheint dieses vielsagende Motiv als bedeutungsschwere Umrahmung der Durchführung. Zwischen seinen beiden Auftritten liegen zwei einander analoge Durchführungsabschnitte – und wieder stehen wir vor dem Phänomen spiegelbildlicher Verdopplung, das schon von den ersten Takten des Werkes an gegenwärtig zu sein scheint. Mit diesem Phänomen ist ein Leitmotiv des Schumannschen Schaffens berührt, das sich unter anderem ganz allgemein in seiner Vorliebe für kanonische und imitatorische Erfindung niederschlägt – das hier aber durch die absichstvoll gewählte Chiffre des im Herzen bewahrten Bildnisses als einer unantastbaren Widerspiegelung der verletzlichen Wirklichkeit einen besonderen Neben- und Hintersinn gewinnt.

Nach der ohne Komplikationen ablaufenden Reprise tritt am Beginn der Coda eine verfremdete Nebengestalt des Liedmotivs in Erscheinung, deren Beziehung zu einem bis dahin kryptisch erscheinenden Motiv der Durchführung man nun leicht errät. Den Abschluß des Satzes bildet eine knappe Stretta, in der das „Bildnis wunderselig“, wie zur Bekräftigung des hermeneutischen Programms, kanonisch verdoppelt erscheint.

Beide Elemente, das Liedmotiv und die kanonische Arbeit, beherrschen auch den folgenden Satz (Mit innigem Ausdruck, Des-Dur). Während das Geigenthema eine Metamorphose des Liedthemas darstellt (dessen Urgestalt das Cello gleich wieder in Erinnerung ruft), erscheint der Kontrapunkt in Cello und Klavierbaß als Kanon in der Unterquint. Unschwer erkennt man auch in diesem Kontrapunkt einen Abkömmling des oben zitierten Schumannschen Trio-Leitmotivs, das sich auch alsbald unverstellt zu erkennen gibt. Das traumverwobene Wechselspiel all dieser innig verwandten Elemente, dessen Zauber sich formalen, harmonischen und satztechnischen Kategorien entzieht, in dem er sie alle umfaßt und überschreitet, läßt diesen Satz als einen der kostbarsten Schätze der romantischen Kammermusik erscheinen. Ob nun Schumann in den ersten vier Takten des Satzes bewußt oder unbewußt den Mittelteil des Andante aus Mendelssohns op.49 anklingen läßt – die (mehr sicht- als hörbare) Übereinstimmung in Notenfolge und Textur ist jedenfalls ein zusätzliches Indiz für die geistige Nähe der beiden Meister.

Der dritte Satz (In mässiger Bewegung, b-moll) ist weder Menuett noch Scherzo, wenn er auch die diesen beiden Typen eigene äußere Form annimmt, sondern ein ungemein zartes Intermezzo. An der Distanz zwischen der oberflächlichen Regelmäßigkeit der Gestaltung und der innerhalb der Grenzen dieser scheinbaren Beschränkung verwirklichten inneren Freiheit gibt sich das Genie Schumanns zu erkennen. Der äußere Rahmen: drei mal acht Achttakter des Formschemas ABA und eine (fast ebenso regelmäßig gebaute) Coda. Der Inhalt: die Befreiung des Kanons, die Emanzipation des Spiegelbildes. Denn die kanonisch gestalteten Eckteile des Satzes treiben, ohne die klaren Regeln des Kanons zu verletzen, ein subtiles Verwirrspiel mit dem Zuhörer, indem Nachahmer und Nachgeahmtes unablässig Platz und Rollen tauschen, ja zuletzt sogar der nur die harmonische Folie bildende Baß „verrückt“ wird, und auch diese letzte Sicherheit verloren erscheint:

Allgemach beschlich es mich wie Grauen
Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins gespentische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?

(Conrad Ferdinand Meyer, Möwenflug)

Daß das Kanonthema selbst seine innige Beziehung zu den bisherigen Hauptmotiven gleichzeitig enthüllt und verleugnet, stimmt zum poetischen Programm dieses Satzes, der in manchen Einzelzügen die Stimmung der (übrigens tonartlich verwandten) Brahmsschen Intermezzi op.117 Nr.2 (b-moll) und op.118 Nr.6 (es-moll) vorwegzunehmen scheint.
Die kühne harmonische Idee, die dem Hauptthema des Kopfsatzes zugrunde lag, entfaltet erst im Finale (Nicht zu rasch) ihre treibende Kraft. Auch die schwungvolle Prägnanz, die den ganzen Satz charakterisiert, offenbart die innere Beziehung zwischen den beiden Stücken. Wie mitreißend Musik auch ohne die Hilfe eingängiger und kantabler Themen sein kann, ist selten so eindrucksvoll demonstriert worden wie in diesem Finale. Zwar ist als letzter Tribut an die Grundidee des Werkes auch hier die Durchführung janusköpfig angelegt, aber es besteht gar kein Zweifel, daß uns der Wind, der hier übermütig in die Segel fährt und uns kreuz und quer über den Ozean der Tonarten treibt, schließlich nicht mehr in das fiebrige Delirium des D-moll-Trios, sondern an eine ersehnte, sonnige Küste führen wird.

© by Claus-Christian Schuster

Schumann: Trio Nr.1, d-moll, op.63

Robert Schumann

* 08. Juni 1810
† 29. Juli 1856

Trio Nr.1, d-moll, op.63

Komponiert:Dresden, Juni 1847
Uraufführung:privat: Dresden, 13. September 1847
Clara Schumann, Klavier
Franz Schubert (1808-1878), Violine
Friedrich August Kummer (1797-1879), Violoncello
öffentlich: Leipzig, 13. November 1848
Heinrich Enke (1811-1859), Klavier
Wilhelm Joseph von Wasielewski (1822-1896), Violine
Johann Andreas Grabau (1803-1884), Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, Juli 1848

Robert Schumann hatte sich schon 1842 einmal der Form des Klaviertrios zugewandt, als er die Phantasiestücke schrieb, die er aber erst einige Jahre später als op.88 veröffentlichen ließ. Zu seinem 37. Geburtstag nimmt er nun, im Juni 1847 in Dresden, ein neues, ganz anders geartetes Werk dieser Gattung in Angriff. Von Anfang an schwebte ihm wohl die Schaffung eines Trio-Diptychons vor, vielleicht nach dem Vorbild des Beethovenschen op.70:

„Robert ist jetzt sehr fleißig, er schreibt an einem Klaviertrio, das ein Opus mit dem ersten werden soll; ich freue mich, daß er auch einmal wieder an das Klavier denkt. Er scheint selbst sehr zufrieden mit seiner Komposition.“

(Clara Schumann, Tagebuch, 13. Juni 1847)

Mit „dem ersten“ sind natürlich die Phantasiestücke gemeint, zu dem das neue Trio also ursprünglich ein Gegenstück werden hätte sollen. Claras besondere Freude über eine neue Klavierkomposition hat ihren Grund darin, daß Schumann in diesen Monaten vornehmlich mit musikdramatischen Arbeiten und Plänen beschäftigt war – mit seiner Oper Genoveva (op.81) und Scenen aus Goethes Faust (WoO 3). Dieser Umstand hat übrigens in den beiden Triowerken des Jahres 1847 unüberhörbare Spuren hinterlassen.

Schon am 16. Juni sind die Skizzen beendet. Schumanns Aufzeichnungen aus diesen Tagen enthalten immer wieder dieses eine Wort: „Triofreuden“. Die eruptive Dynamik dieses Schaffensrausches ließ ein Werk entstehen, das den von den Phantasiestücken vorgegebenen Rahmen sprengte. Daher machte sich Schumann bald nach seiner Rückkunft aus Zwickau, wo in der ersten Julihälfte ein veritables „Schumannfest“ stattgefunden hatte, an die Komposition eines neuen Trios (op.80, F-Dur), das in Tonfall und Gewicht ein ideales Gegenstück zu dem eben vollendeten wurde. Der innere Bezug dieser beiden Werke manifestiert sich auf vielerlei Weise. Unter anderem fällt ein thematischer Archetyp folgender Kontur auf: ein steigendes Skalenmotiv, das sich aus chromatischem Beginn in synkopiertem oder punktiertem Rhythmus zu diatonischer Gestalt streckt, um mit der abschließenden Geste eines Sext- (op.63) oder Septimenfalls (op.80) wieder an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren. Dieses „Leitmotiv“, das die zweiten Sätze unseres Triopaares dominiert, findet sich einige Jahre später in Schumanns letztem Triowerk (op.110) als erstes Trio des dritten Satzes noch einmal, wo es dann als Episode des Finales wiederkehrt und das Stück – und somit Schumanns ganzes Trioschaffen – in einer sieghaften Coda beschließt.

Wenn Clara sich ein Jahr zuvor selbst mit der Vollendung ihres eigenen Trios (g-moll, op.17) beschenkt hatte, so wurde diesmal am Ende eines glücklichen und schaffensreichen Sommers Claras 28.Geburtstag am 13.September mit der Uraufführung des d-moll-Trios begangen. Und welch ein Geschenk war nun erst dieses!

„Es klingt wie von einem, von dem noch vieles zu erwarten steht, so jugendfrisch und kräftig, dabei doch in der Ausführung so meisterhaft…. Der erste Satz ist für mich einer der schönsten, die ich kenne.“

(Clara Schumann, Tagebuch, 13.(?) September 1847)

(Was Clara sonst noch zu dem Werk zu bemerken hatte, ist zusammen mit ihren Tagebüchern, die wahrscheinlich von ihrer älteste Tochter Marie vernichtet wurden, verschollen.)

Als reifste Frucht einer Schaffensphase, deren Energien ganz dem Ringen um das erträumte Musikdrama zu gehören schienen und in der Schumanns Denken beständig um das dramatische Werk Hebbels (der Schumann am 27. Juli in Dresden besuchte), Goethes und Grillparzers kreist, trägt sein d-moll-Trio in jedem Takt Spuren dieser dramatischen Überhöhung des Lebens. Das Werk quillt förmlich über von Bildern, deren szenische Eindringlichkeit wohl niemals auf einer Opernbühne erreicht wurde. Vielleicht ist das unglückliche Schicksal von Schumanns Genoveva und das umso glänzendere Schicksal des d-moll-Trios ( – das Werk ist eines der meistgespielten der gesamten Trioliteratur – ) auch damit zu erklären, daß, wie Mendelssohn einmal sagte, die in der Musik ausgesprochenen Gedanken zu bestimmt sind, um sie in Worte zu fassen?

© by Claus-Christian Schuster

Schumann Clara: Trio g-moll op.17

Clara Schumann

* 13. September 1819
† 20. Mai 1896

Trio g-moll op.17

Komponiert:Dresden, Maxen und Norderney, Mai bis 12. September 1846
Uraufführung:privat: Leipzig, 18. November 1846
Clara Schumann, Klavier
?, Violine
?, Violoncello
Erstausgabe:Breitkopf & Härtel, Leipzig, September 1847

Ende 1844 hatten die Schumanns Leipzig verlassen, das ihnen nach dem Weggang Mendelssohns und nach Roberts vergeblicher Bewerbung um dessen Nachfolge als Chefdirigent des Gewandhausorchesters (der Däne Niels Wilhelm Gade, ein enger Freund Schumanns, hatte die Stelle erhalten) von Tag zu Tag unerträglicher geworden war. Allerdings erwies sich die Wahl Dresdens zum neuen Wohnort als nicht eben glücklich. Während nämlich Leipzig um die Mitte des XIX. Jahrhunderts in mancher Hinsicht als die europäische Musikmetropole gelten durfte, hatte Dresden musikalisch vergleichsweise wenig bis nichts zu bieten. Am zutiefst philiströsen und zopfigen Charakter des Dresdener Musiklebens vermochte auch ein Hofkapellmeister Richard Wagner kaum etwas zu ändern; zudem trug gerade Wagners Gegenwart nicht eben zum Wohlbefinden der Schumanns bei, die beide eine heftige Antipathie zumindest dem Menschen Wagner gegenüber empfanden. Das ständig gespannte Verhältnis zu Claras in Dresden lebendem Vater Friedrich Wieck und die daraus entstehenden andauernden Reibereien taten ein übriges, um dem jungen Ehepaar den Aufenthalt in der sächsischen Hauptstadt zu verleiden. Am meisten Sorgen bereitete Clara allerdings Roberts unverändert schlechter Gesundheitszustand. Das Nervenleiden, das sich in Schwindelanfällen, Übelkeit und Halluzinationen niederschlug, zwang ihn immer wieder zu quälenden Arbeitsunterbrechungen. Schumanns Umgang mit seiner manisch-depressiven Veranlagung konnte seiner jungen Frau auch keine Beruhigung sein: in den erhaltenen Haushaltsbüchern der Schumanns finden sich immer öfter die leitmotivisch wiederkehrenden Posten Cigarren, Kaffee, bairisch Bier, Portwein, Champagner, Punschessenz. Zu all dem ist Clara selbst durch die häufigen Schwangerschaften und die damit verbundene Behinderung ihrer Arbeit – sie ist ja doch zuerst und vor allem anderen eine in ganz Europa gefeierte und begehrte Pianistin – seelisch und körperlich überlastet.

Im Februar 1846 liegt Clara wieder einmal im Wochenbett; es ist ihr viertes in etwas mehr als fünf Ehejahren. Am 8. Februar mittags gebiert sie ihren ersten Sohn, Emil – nachdem sie den ganzen Vormittag noch übend am Klavier verbracht hat. Knapp zwei Wochen später erleidet Robert, der gerade fieberhaft an seiner zweiten Symphonie arbeitet, einen Zusammenbruch. Ein neuerlicher Anlauf zur Beendigung des Werkes endet Mitte Mai noch katastrophaler. Zur Erholung zieht man mit den beiden älteren Töchtern am 25. Mai für einige Wochen nach Maxen. Mit diesem knapp zwanzig Kilometer südlich von Dresden gelegenen Ort, dessen Schloß dem mit den Schumanns befreundeten Major Anton Serre gehört, verbinden sich für Clara und Robert viele schöne Erinnerungen an ihre Brautzeit: das geschichtsträchtige Herrenhaus mit der sorglos-geschwätzigen Majorin als Hausherrin, die lauschige Buschenschenke am Ende des Schlottwitzer Grundes, die romantische Ruine Weesenstein über dem Müglitztal, und schließlich die kleine Dorfkirche, in der sie eigentlich heiraten hatten wollen. Und wirklich scheint von dem Ort eine segensreiche Wirkung auszugehen: Robert scheint ruhiger, die Kinder blühen auf – bald läßt man auch die beiden Jüngsten nachkommen -, und Clara widmet sich mit neuer Kraft ihrem kompositorischen Schaffen. Seit sie, von Roberts „Fugenpassion“ angesteckt, Anfang 1845 mit ernsthaften kontrapunktischen Studien begonnen hat, die ab April unter Roberts Anleitung nach Luigi Cherubinis „Theorie des Contrapunctes und der Fuge“ regelmäßig fortgesetzt wurden, hatte sie einen ihre bisherige Kompositionen weit hinter sich lassenden kompositorischen Ehrgeiz entwickelt: zu Roberts fünfunddreißigsten Geburtstag hatte sie ihren Mann mit Drei Präludien und Fugen op. 16 überrascht, die als ein respektables Seitenstück zu Roberts im selben Jahr entstandenen Vier Fugen op.72 die Verbindung Bachscher Fugenkunst mit den Erfordernissen des romantischen Charkterstückes anstreben. Jetzt, da sie sich dem Ende ihres selbst auferlegten Studiums näherte, will sie mit einer großangelegten Kammermusikkomposition gleichsam ihr kompositorisches „Gesellenstück“ liefern.

Daß sie dafür die Form des Klaviertrios wählt – es soll neben den sieben Jahre später entstandenen Drei Romanzen für Pianoforte und Violine op.22 Claras einzige Auseinandersetzung mit dem Genre der Klavierkammermusik bleiben -, hat wohl viele Gründe: Einer davon mag die Tatsache sein, daß unter den für ein Werk dieser Bedeutung am ehesten in Frage kommenden Gattungen (Klaviersonate, Symphonie, Streichquartett und Klaviertrio) nur das „klassische“ Klaviertrio in Roberts Werkkatalog noch nicht vertreten war (von der Sonderstellung der zu diesem Zeitpunkt noch nicht in ihrer definitiven Form vorliegenden Fantasiestücke op.88 war ja schon weiter oben die Rede). Andererseits darf man in der Komposition gerade eines Klaviertrios durchaus auch die selbstbewußte Annahme einer Herausforderung sehen. Hatte nicht Robert in seinen Rezensionen immer wieder die besonderen Schwierigkeiten der Klaviertriokomposition betont? Da wird etwa „von einem, der sich an ein Trio heranmacht“ zuallererst verlangt „daß er Stimmen führen kann, daß er überhaupt weiß, wie herrliche Werke wir in dieser Gattung besitzen“. „Verwickelte Arbeit, Verbindung von Themen, Engführungen u. dgl.“ müssen in einer Triokomposition ebenso beherrscht werden wie die „Selbständigkeit und lebendige Fortbewegung der einzelnen Stimmen“, die „bedeutungsvollere Behandlung auch der Übergangsstellen“ und die Fähigkeit, „feinere Bezüge zwischen dem Hauptthema und der Verarbeitung der anderen Motive“ herzustellen. Allerdings räumt Schumann angesichts dieser gehäuften Schwierigkeiten und Erfordernisse gleichzeitig ein: „Wer wird von einem jungen Künstler verlangen, daß er gleich Beethovensche B-dur-Trios, Franz Schubertsche in Es schreibe […], glaube man nur, wir möchten dazu beitragen, daß unser Zeitalter nicht zu sehr abstäche gegen das eben vergangene.“

Durch solche und ähnliche Äußerungen ihres Mannes vielleicht in ihrem Ehrgeiz angespornt, hat Clara wahrscheinlich schon in den letzten Tagen vor ihrer Abreise aus Dresden mit der Komposition des G-moll-Trios begonnen. Jetzt, in der beschaulichen und erholsamen Ruhe der Maxener Sommerfrische, wächst das Werk mit jedem Tag. Doch schon bald wird das Idyll überschattet: Robert kann plötzlich den von den Fenstern ihrer Sommerwohnung aus in der Ferne sich bietenden Anblick der Irrenanstalt Sonnenstein nicht mehr ertragen. Von dunklen Vorahnungen gejagt, nehmen die beiden schweren Herzens schon am 28. Juni „Abschied von unseren Lieblingsplätzen“. Während die Kinder mit der Amme direkt nach Dresden zurückkehren, brechen Clara und Robert am darauffolgenden Tag zu einer dreitägigen Wanderung durch das Bielatal auf den Schneeberg und von dort in das Elbetal nach Tetschen (Decin), von wo aus man mit dem Schiff über Schandau heimreist. Als Entschädigung für den vorzeitig beendeten Urlaub beschließt das Paar aber schon am 2. Juli, einen Tag nach der Heimkehr, eine weitere Reise zu unternehmen. Kinder, Amme und unausgepackte Möbel in Dresden zurücklassend, brechen sie am 6. Juli von Dresden auf. In Hamburg, wo man Jenny Lind als Donna Anna bewundern kann, hält man sich eine gute Woche in der nach dem großen Brand von 1842 prächtig wiederaufgebauten Stadt auf . (Vielleicht ist Robert und Clara schon in diesen Tagen der dreizehnjährige Johannes, der die Schumannbegeisterung seiner älteren Freundin Louise Japha damals allerdings überhaupt noch nicht verstehen mochte, über den Weg gelaufen.) Am 15. Juli fahren die beiden mit dem Dampfschiff nach Norderney weiter, wo sie eine helle Wohnung mit Blick auf das Watt beziehen. Obwohl Robert sich hier ein wenig besser fühlt, ist er noch immer unfähig, die Arbeit an der unterbrochenen Symphonie fortzusetzen. Auch Claras Werk ist ins Stocken geraten: Wenige Tage nach ihrer Ankunft versetzt sie die Entdeckung, daß sie schon wieder schwanger ist, in Panik. Durch ausgiebiges Schwimmen im Meer und heiße „medizinische“ Bäder gelingt es ihr, am 26. Juli eine Fehlgeburt herbeizuführen; einen Arzt will sie nicht konsultieren. Schon am nächsten Tag tritt sie bei einem Kurkonzert öffentlich auf – der Rückfall läßt nicht auf sich warten, und Clara muß den Großteil der noch verbleibenden Urlaubswochen im Bett verbringen. Trotzdem setzt sie mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und Willenskraft das begonnene Werk fort, und als man am 21. August die Heimreise antritt, muß das Trio schon knapp vor der Vollendung stehen. In Dresden, wo sie am Abend des 25. August ankommen, finden sie die Kinder wohlauf – nur Emil ist nach wie vor schwach und hat noch kein einziges Mal gelächelt. Der einundzwanzigjährige Jusstudent Eduard Hanslick, der am 28. August aus Prag zu Besuch kommt, ist vor allem von der kleinen Julie entzückt. „Ich gebe sie Ihnen zur Braut“, scherzt Robert – auch in diesen unscheinbaren Durchgangsnoten erscheint schon ein Brahmsischer Vorausschatten.

Innerhalb weniger Tage schließt Clara jetzt ihr Werk ab: der Schluß trägt das Datum 12. September 1846 – ihr sechster Hochzeitstag und der Vorabend ihres siebenundzwanzigsten Geburtstages.

Wenige Tage später übersiedelt die Familie Schumann aus dem Interimsquartier in der Seegasse in die neue Wohnung, Große Reitbahngasse 20. Dort notiert Clara am 2. Oktober, unmittelbar nach der ersten Durchspielprobe ihres Trios, in ihr Tagebuch:

„Es geht doch nichts über das Vergnügen, etwas selbst komponiert zu haben und dann zu hören. Es sind einige hübsche Stellen in dem Trio, und wie ich glaube ist es auch in der Form ziemlich gelungen.“

Bescheidener lassen sich die Vorzüge dieses Werkes wohl nicht beschreiben. Wenn man die Geniewerke Robert Schumanns und Mendelssohns einmal ausklammert, gehört Claras Trio sicher zum Gediegensten, was in diesem Genre zwischen Schubert und Brahms gesagt worden ist. Daran vermögen auch die zunehmend selbstkritischen Äußerungen Claras nichts zu ändern, die das Werk, vor allem nachdem Robert – durch ihr Werk angeregt – sein Opus 63 komponiert hatte, nur noch mit der Elle ihres Mannes messen wollte. Schon die oben zitierte Tagebucheintragung mündet in den resignierenden Nachsatz:

„Natürlich bleibt es immer Frauenzimmerarbeit, bei denen es immer an der Kraft und hie und da an der Erfindung fehlt.“

War ihr das eigene Werk schon bei der privaten Uraufführung in der Gegenüberstellung mit Roberts Klavierquartett op.47 „je öfter ich es spiele, je unschuldiger“ erschienen, so urteilt sie im direkten Vergleich mit dem D-moll-Trio vollends ernüchtert: „Mein Trio erhielt ich heute auch fertig gedruckt; das wollte mir aber nicht sonderlich auf des Roberts munden, es klang gar weibisch sentimental.“ (Tagebuch, September 1847)

Die öffentliche Kritik war da wesentlich besserer Meinung. Die Neue Berliner Musikzeitung (1847, S. 384) stellt einleitend fest: „Auf diesem Gebiete begegnen wir selten einer Frau, und noch seltener haben wir so gegründete Ursach, uns dessen zu freuen“, um dann die „Sauberkeit“ der Arbeit, die „von so ruhiger Beherrschung der formellen Kunstmittel“ zeuge, zu rühmen. Der Rezensent empfindet das Werk dabei als „von einer wehmüthigen stillen Trauer umflossen“. Die Neue Zeitschrift für Musik (1848, S. 254), von deren Redaktion sich Robert Schumann schon 1844 zurückgezogen hat, befindet „die innere Arbeit wie die äußere Gestaltung von geschickter und fester Hand, frei von Sucht nach Originalität, von Effecthascherei, von allem Überflüssigen“, während die ebenfalls in Leipzig erscheinende Allgemeine Musikalische Zeitung (1848, Sp.232) sich vor allem über den „Fluß der Perioden“, der der „beste Probirstein des gereiften Talentes“ sei und „jetzt, wo uns soviel Zusammengestückeltes vorkommt, doppelt wohlthätig“ wirke, freut. Dabei wehe „über allem… ein zarter poetischer Duft, der das Ganze zum Kunstwerk weiht.“

Am 23. November 1846 schreibt Robert Schumann an seinen Wiener Freund Joseph Fischhof (1804-1857):

„Eine neue Symphonie bring‘ ich mit, meine Frau ein neues Trio; jene tritt etwas geharnischt auf, dieses ist schon milder. Sie werden beides verstehen.“

Am nächsten Tag brechen Robert und Clara nach Wien auf, wo sie am 28. November eintreffen. Die vier öffentlichen Konzerte, die Clara hier zwischen dem 10. Dezember 1846 und dem 10. Jänner 1847 gibt, sind – vor allem verglichen mit dem triumphalen Wien-Debut der Achtzehnjährigen – künstlerisch eine herbe Enttäuschung und finanziell ein Mißerfolg. Einzig das letzte Konzert, in dem die Freundin Jenny Lind mitwirkt, findet wirkliche Beachtung. Bei der Abschiedsmatinee, die die Schumanns am 15. Jänner 1847 in ihrer (für solche Zwecke eigentlich zu kleinen) Wohnung im Gundelhof (Bauernmarkt) steht neben Liedern und dem A-Dur-Streichquartett (op. 41 Nr.3) ihres Mannes auch Claras Trio auf dem Programm. Joseph Hellmesberger d. Ä. und der aus Prag stammende Cellist Egyd Borzaga sind die Partner der Komponistin bei dieser Wiener Erstaufführung, die durch die Gegenwart Eichendorffs und Grillparzers besondere Weihe erhält.

Hat vielleicht bei der Wahl der Tonart die Erinnerung an zwei ähnlich ambitionierte „Gesellenstücke“ Roberts, seine (unvollendet gebliebene) G-moll-Symphonie (1832/33) und die 1833 begonnene G-moll-Klaviersonate op.22, mitgespielt? Jedenfalls sollten auch in dem über Skizzen nicht hinaus gediehenen Finale der Symphonie, deren Scheitern die dreizehnjährige Clara miterlebt hatte, jene kontrapunktischen Künste demonstriert werden, über die Robert damals noch nicht zur Genüge geboten hatte, und deren Beherrschung Clara nun demonstrieren wollte. Schon zu ihrem ersten ehelichen Weihnachtsfest hatte Clara ihrem Mann einen G-moll-Sonatensatz zugeeignet, den sie im Jänner 1842 zu einer viersätzigen Sonate ergänzte (WoO 18). Es ist zumindest auffallend, daß der Kopfsatz dieser Sonate und die Ecksätze unseres Trios, die alle drei in g-moll stehen, die einzigen „echten“ Sonatensätze im Gesamtwerk Clara Schumanns geblieben sind.

Schon im eröffnenden Allegro moderato des Trios ist die oben zitierte Forderungen Roberts nach den „feineren Bezügen zwischen dem Hauptthema und der Verarbeitung der anderen Motive“ mustergültig erfüllt. In der Tat sind die Kunstkniffe der Motivassoziation und der kontinuierlichen Fortspinnung mit solcher Konsequenz angewandt, daß der in der Physiognomie eines Sonatenhauptsatzes üblicherweise dominierende dialektische Aspekt ganz in den Hintergrund zu treten scheint. Charakteristisch für diese Konzeption ist die Durchdringung aller Formteile mit assoziativ-durchführungsartigen Elementen.

Bescheidener geben sich die Mittelsätze. Vielleicht hat Clara Roberts Rat beherzigt, den man in der (sehr wohlmeindenden) Rezension des Klaviertrios op.2 von Jacob Rosenhain (1813-1894) nachlesen kann:

„…Im Andante ergeht er sich in der Weise, in der wir’s unsern berühmtesten Vorfahren, Mozart und den andern, nun einmal nicht gleich thun können; es scheint dies eine abgeschlossene Art von Musik und man wird auf neue Mittelsätze andern Charakters sinnen müssen.“

Clara hat für die Mittelsätze ihres Trios – Scherzo. Tempo di Menuetto (B-Dur) und Andante (G-Dur) – zwar die in Beethovens op.97 kanonisierte (und von der auch in der Mehrzahl der viersätzigen Kammermusikwerke aufgegriffenen symphonischen Tradition abweichende) Satzreihenfolge verwendet, dabei aber durchaus ihre Grenzen erkannt. Das Scherzo, das bei Beethoven ein besonderer Spielplatz subtiler Extravaganzen ist, gestaltet Clara betont schlicht: Menuett und Trio sind von einfacher Bauart und weisen je ein charakteristisches Detail auf – die „umgekehrte“ (lombardische) Punktierung im Menuett und die fast wienerisch-walzerselige Hemiole im Trio. Daß diese Bescheidung das Resultat schöpferischen Suchens (und nicht etwa Ausdruck naiven Biedersinns) ist, läßt sich an dem im Robert-Schumann-Haus in Zwickau aufbewahrten Autograph nachweisen: dort finden sich deutliche Spuren des schon im Planungsstadium fallengelassenen Versuches, die Form des Satzes substantiell zu erweitern. Ähnliches gilt für das Andante, in dem das Modell der dreiteiligen Liedform überaus triogerecht als schlichtes „Lied ohne Worte“ behandelt wird, und die tiefsinnigen und weiträumigen Andanti der Beethovenschen und Schubertschen Trios nicht einmal von ferne beschworen werden.

Dagegen ist das abschließende Allegretto – Claras letzter Sonatensatz – ein Komplikationen geradezu aufsuchendes und in diesem Sinne überaus selbstbewußtes Stück Musik. Dennoch zeigt auch hier das Autograph, daß die ursprünglich vorgesehenen Lösungen noch „kühner“ waren. Hervorstechendstes Detail sind die zwei aus dem Hauptthema abgeleiteten Fugato-Abschnitte der Durchführung, die Mendelssohn zu besonderem Lob hinrissen. Überhaupt ist in der melancholischen Noblesse und der kontrapunktischen Disziplin dieses Satzes mancher Zug zu finden, der uns noch öfter als die anderen Teile des Werkes an Mendelssohn denken läßt.

Die meisten Kenner von Clara Schumanns kompositorischem Werk, das erst in den letzten beiden Jahrzehnten eine angemessenere Würdigung erfahren hat, stimmen darin überein, daß das Klaviertrio op.17 Claras Meisterwerk sei. Clara selbst hat das Werk noch 1877 gespielt und damit dokumentiert, daß sie – trotz ihrer kritischen Einwände – zu Recht stolz auf ihr Kind war. Am meisten hat sie aber vielleicht gefreut, daß unter den ersten Interpreten des Trios auch der Eine war, an dem vorbei sie es im Sommer 1846 unter ihrem Herzen durch Hamburg getragen haben muß: Johannes Brahms.

© by Claus-Christian Schuster

Schubert: Trio Es-Dur op.100/D 929

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Trio Es-Dur op.100/D 929

Komponiert:Wien (I., Tuchlauben 14), November 1827
Uraufführung:26. Dezember 1827, Wien, Musikverein (I., Tuchlauben 12)
Carl Maria von Bocklet (1801-1881), Klavier
Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), Violine
Joseph Linke (1783-1837), Violoncello
Erstausgabe:Probst, Leipzig, Oktober/November 1828

Dieses Trio ist so sehr Allgemeingut aller Kammermusikliebhaber, daß es überflüssig erscheint, an dieser Stelle noch einmal Satz für Satz des Werkes zu besprechen. Aber eine „Detailfrage“, die dennoch prinzipielle Bedeutung hat, drängt sich bei der Aufführung dieses Werkes immer wieder auf: die nach der „gültigen“ Fassung des letzten Satzes. Wenn hier, abweichend vom Herkommen, der Raum einer „Werkeinführung“ zur Diskussion einer solchen Frage verwendet wird, ist das, wie ich hoffe, dadurch gerechtfertigt, daß bei dieser Gelegenheit allgemeine Probleme der komplexen Beziehung Autor/Werk/Interpret berührt werden, die weder dem Hörer noch dem Ausführenden gleichgültig sein dürften. Vor allem soll aber unsere einsame Entscheidung für den ungekürzten Text unter Respektierung aller ursprünglich von Schubert vorgesehenen Wiederholungen begründet werden. Daß wir uns damit gegen eine allgemein respektierte Tradition stellen, beunruhigt uns wenig. Denn Gustav Mahlers zorniger Ausruf: „Was ihr euere Tradition nennt, das ist nichts anderes als euere Bequemlichkeit und Schlamperei!“ hat, trotz aller „Urtextausgaben“, noch immer traurige Gültigkeit.

Schubert, gegen ihn selbst verteidigt

Schuberts Es-Dur-Trio ist wohl das monumentalste Werk der gesamten Klaviertrioliteratur – nicht nur in Hinblick auf seine Ausdehnung, die wahrhaft symphonische Maße erreicht, sondern auch in Bezug auf die Vielschichtigkeit und den Reichtum des darin ausgebreiteten thematischen und gedanklichen Materials. Doch es scheint das Schicksal solcher Monumente zu sein, von Zerstörung und Entstellung in höherem Maße bedroht zu sein als Werke bescheideneren Zuschnitts. Wenn aber in fast allen vergleichbaren Fällen die störenden Eingriffe und Veränderungen dem Unverständnis nachfolgender Generationen oder der Widrigkeit historischer Umstände zuzuschreiben sind, so finden wir hier, mit respektvollem Staunen, an der Wurzel des Übels den Autor selbst. Nun ist zwar der Schöpfer als Bedrohung für das von ihm geschaffene Werk keine Neuheit – wieviele geniale Entwürfe und Pläne wurden nicht von ihren Vätern zutode „verbessert“ ( – Balzacs Meister Frenhofer bleibt das wahrscheinlich einprägsamste Paradigma dieser Tragödie). Hier liegt jedoch der Fall etwas anders: Nicht in der Absicht, sein Werk zu verbessern, hat Schubert sich an ihm versündigt – sondern, ganz schlicht, aus Nachgiebigkeit und Gefälligkeit gegenüber seinen Freunden und Rücksicht auf „das Publikum“. Daß seine Freunde ihn wohl in der allerbesten Absicht so schlecht beraten haben mögen, macht das Unheil nicht kleiner; und auch daß Schubert durch die hier bewiesene joviale Umgänglichkeit uns als Mensch vielleicht noch sympathischer wird, entschädigt uns nur sehr unvollkommen. Um Schuberts Vorgangsweise zu verstehen, ist es hilfreich, sich den hürdenreichen Weg von der Komposition bis zur Drucklegung des Werkes vor Augen zu halten. Es handelt sich um das einzige zu Schuberts Lebzeiten außerhalb Österreichs gedruckte Werk.

November 1827: Komposition des Klaviertrios Es-Dur D 929. Im zweiten Satz verwendet Schubert charakteristische Wendungen aus dem schwedischen Volkslied „Se solen sjunker“ („Sieh‘ die Sonne untergehen…“), das er Anfang des Monats von Isaak Albert Berg bei den Schwestern Fröhlich vorgetragen gehört hat, als Grundlage des thematischen Materials.
26. Dezember 1827: Uraufführung des Werkes in einer Soiree des Schuppanzigh-Quartetts im damaligen Saal des Wiener Musikvereins (Tuchlauben 12)(Carl Maria von Bocklet, Klavier, Ignaz Schuppanzigh, Violine, Josef Linke, Violoncello)
9. Februar 1828: Die Verlage Schott/Mainz und Probst/Leipzig bitten (unabhängig voneinander) Schubert, ihnen Werke zur Veröffentlichung zu überlassen.
21. Februar 1828: Schuberts Antwort an Schott. Unter den 10 angebotenen Werken nimmt das Trio die erste Stelle ein.
29. Februar 1828: Schott fordert 8 der offerierten Werke, darunter das Trio an.
26. März 1828: In Schuberts „Privat-Konzert“ an Beethovens erstem Todestag wird das Trio wieder mit großem Erfolg im Wiener Musikverein gespielt (Carl Maria von Bocklet, Klavier, Josef Michael Böhm, Violine, Josef Linke, Violoncello)
10. April 1828: In Briefen an Schott und Probst berichtet Schubert vom Erfolg des Trios; er sagt Schott die Überlassung des Werkes zu.
15. April 1828: Probst bittet dringend um die Rechte für das Trio und übersendet gleich das Honorar.
28. April 1828: Schott erklärt sich außerstande, das „wahrscheinlich große“ Trio zu übernehmen.
10. Mai 1828: Schubert nimmt das Angebot von Probst an. In seinem Schreiben weist er ausdrücklich auf die inzwischen vorgenommenen Kürzungen hin (und fordert, sie „aufs genaueste zu beobachten“).
18. Juli 1828: Probst bestätigt den Empfang der Druckvorlage und bittet um Zuteilung einer Opus-Nummer und etwaigen Widmung.
1. August 1828: Schubert verfügt: „Das Opus des Trio ist 100. Ich ersuche, daß dieAuflage fehlerlos ist, und sehe derselben mit Sehnsucht entgegen. Dedicirt wird dieses Werk Niemandem außer jenen, die Gefallen daran finden.“
2. Oktober 1828: Schubert fragt Probst nach dem Erscheinen des Trios und bietet ihm gleichzeitig neue Werke (darunter die letzten drei Klaviersonaten und das Streichquintett) an.
6. Oktober 1828: Probst bestätigt, Stich und Korrektur des Trios seien abgeschlossen.
19. November 1828: Tod Schuberts.
11. Dezember 1828: Artaria meldet das Eintreffen des Erstdruckes von op.100 in Wien.



Das die Fakten, soweit sie sich aus den Quellen rekonstruieren lassen. Dahinter steht freilich eine Auseinandersetzung, die den bitteren Ernst des oftzitierten Bonmots von Schuberts „zu langen“ Werken und den „zu kurzen“ Zuhörern offenlegt. Es sieht ganz so aus, als habe Schubert den überraschenden Rückzieher Schotts (wohl nicht zu Unrecht) auf die ungewohnte Länge des Werkes zurückgeführt und nach dieser schmerzlichen Überraschung, dem Drängen der Freunde nachgebend, den letzten (und längsten) Satz in der bekannten Weise gekürzt: Die Wiederholung der Exposition wurde ebenso gestrichen wie zwei je 50 Takte lange Episoden der Durchführung; der Satz verlor auf diese Weise etwa ein Drittel seiner Ausdehnung.

Nun hätte Schubert wissen können, daß aus einer Kathedrale keine Dorfkirche wird, wenn man die Apsis abbricht. Doch eben dieser Umstand dient vielen Apologeten der Schubertschen Verstümmelung als Argument: wenn Plan und Entwurf des Ganzen auch noch in der gekürzten Fassung erkennbar bleiben, so habe der Eingriff keinen Schaden angerichtet, sondern eben nur „gestrafft“.

Wer sich allerdings auch nur etwas eingehender mit der Anlage des Werkes vertraut macht, wird bald einsehen, daß die Schubert aufgeschwatzten Kürzungen fatal sind: Erst durch sie entsteht der Eindruck von „Längen“, weil Proportion und Ablauf des krönenden und beschließenden Satzes empfindlich gestört sind. Man erinnere sich daran, wie sehr Aussage und Wirkung der berühmten Vatikanischen Laokoon-Gruppe durch die hypothetischen Ergänzungen von Michelangelo und Montorsoli verändert waren, bis man dann erst im 20. Jahrhundert das zugehörige Originalbruchstück wieder auffand. Während aber dort aus einer Notlage heraus beinahe unvermeidlich ein Irrtum unterlief, erwecken die von Schubert vorgenommenen, angeblich straffenden Retouchen schon fast den Eindruck planvoller Sinnverdunkelung.

Der erste Eingriff, die Streichung der Wiederholung, führt dazu, daß die Klarheit der Großform verloren geht: Fast jeder unbelastete Hörer der gekürzten Fassung vermutet, es handle sich bei diesem Satz um ein kompliziert strukturiertes Sonaten-Rondo – in Wirklichkeit ist es ein

„klassischer“ Sonatenhauptsatz par excellence. Der zweite Eingriff (Streichung der Takte 358 bis 407) macht das Bauprinzip der Durchführung und damit die sinnfälligste architektonische Perspektive des ganzen Werkes unkenntlich: Der schneidende verminderte Septakkord, der sich schon in der Exposition zweimal dem Eintritt der sieghaften Schlußgruppe in den Weg gestellt hat und im Ozean der Durchführung recht eigentlich zur Haupttreibkraft der Entwicklung wird, ist nur verständlich, wenn man miterleben kann, wie – in dramatischer Steigerung und Dehnung des an der entsprechenden Stelle des ersten Satzes angewandten Prinzips – die vier Töne des verminderten Septakkordes auf H der Reihe nach zu „autonomen“ Tonstufen (h-moll – d-moll – f-moll – As-Dur) umgedeutet werden. Durch die Kürzung fällt die zweite Hälfte dieses großen Bogens einfach weg, und sozusagen en passant wird auch jener Moment übergangen, wo der uns wahnhaft verfolgende schrille Aufschrei dieses Schlüsselakkordes endlich durch einen affirmativen Durakkord ersetzt wird: wenn nämlich am Schluß dieser Entwicklung As-Dur erreicht ist.

Aber der letzte Streich, in des Wortes bösester Bedeutung, ist bei weitem der schlimmste: Die Streichung der Takte 463 bis 514 (Schluß der Durchführung) unterminiert die Stellung des das ganze Werk dräuend umziehenden h-moll (als einer Gegenwelt zur „lichten“ Grundtonart Es-Dur). Durch das Wegfallen jener wahrhaft mystischen Stelle, wo alle thematischen Protagonisten im fahlen Licht von h-moll aufeinander treffen, wird aus einem bedeutungsschweren Grundzug des Werkes ein nicht recht verständliches Detail – und die schicksalshaft um „H“ kreisenden Knotenpunkte der ersten beiden Sätze werden durch nichts mehr aufgewogen; die ganze Entwicklungslinie zielt gleichsam ins Leere. Es ist, als habe man in einem Drama dem dunklen Drahtzieher, der an der Wurzel aller Verwicklungen steht, den entscheidenden Monolog weggenommen, in dem er seine Motive erklärt.

Zum Glück ist Schuberts Autograph mit dem vollständigen, ursprünglichen Notentext erhalten geblieben, so daß wir zumindest in diesem Punkt den Autor vor sich selbst schützen können – soviel unwillentliches Unrecht wir ihm auch an anderer Stelle antun mögen.

Während die Neue Schubert-Ausgabe, wie übrigens auch schon ihre Vorgängerin, akademisch korrekt beide Varianten nebeneinander anbietet, hat man sich in der (in fast allen anderen Punkten informativeren und zuverlässigeren) Urtext-Ausgabe des Henle-Verlages erstaunlicherweise nur für die Variante des Erstdrucks entschieden. Man begründet das im Vorwort in einem Absatz, dessen Flüchtigkeit sich auch in einer Reihe sachlicher Ungenauigkeiten niederschlägt, damit, daß die gestrichenen Abschnitte nur das „Material der vorhergehenden Takte“ sowie das Zitat aus dem 2.Satz enthalten, „das aber ohnehin im Finale zweimal erscheint“. Vor der Stichhaltigkeit so fundierter ästhetischer Argumentation muß freilich jeder Zweifel verstummen.

Zu fragen (und unbeantwortbar) bleibt allerdings, wie es kommt, daß das Genie, das all diese Herrlichkeiten erfinden konnte, gleichzeitig so blind für die Verletzlichkeit seines Werkes war. Hier stehen wir – wieder einmal – vor dem ewigen Mysterium des Schöpfertums, das zwar die Bezirke bewußten Formens natürlich einschließt, sie aber so weit überschreitet, daß auch für den Schöpfer das Geschaffene letztlich ein Rätsel bleiben muß.

Sehr viel leichter zu beantworten ist die Frage, warum in den mehr als hundert Jahren, in denen der Originaltext nun schon gedruckt zugänglich ist, sich die vollständige Fassung so gar nicht durchgesetzt hat. Neben der schwer zu bekämpfenden Kraft einer (wie immer auch falschen) „Tradition“ hat sicher die verständliche Vorliebe von Interpreten und Publikum für das Handliche und Überschaubare hier den Ausschlag zugunsten der kürzeren Version gegeben. Erst die Gegenüberstellung der beiden Fassungen zeigt, daß Kürze und Klarheit nicht notwendigerweise Hand in Hand gehen, und daß Herkommen und Brauch in diesem Fall einen unverständlichen Irrtum perpetuieren.

© by Claus-Christian Schuster