Arnold Schönberg
* 13. September 1874
† 13. Juli 1951
Phantasy for Violin with Piano Accompaniment. Op.47
Komponiert: | Los Angeles, CA (Brentwood Park, 116 North Rockingham Avenue), 3. – 30. März 1949 |
Widmung: | Adolf Koldofsky (1905-1951) |
Uraufführung: | Los Angeles, CA, 13. September 1949 Adolph Koldofsky (1905-1951), Violine Leonard Stein (1916-), Klavier |
Erstausgabe: | Henmar, New York, 1952 |
In seinem 1963 erschienenen Buch Der getreue Korrepetitor.
Lehrschriften zur musikalischen Praxis hat Theodor W. Adorno, Schönbergs
Apologet und Intimfeind, diesem letzten Kammermusikwerk des Meisters
ein ausgedehntes Kapitel gewidmet, das zwar – getreu dem Werktitel – vor
allem um praktische Fragen der Interpretation kreist, aber en passant
auch diskussionswürdige Gedanken zur Stellung der Phantasie in
Schönbergs Gesamtwerk, ja im Verlauf der abendländischen Musikgeschichte
insgesamt enthält. Adorno schreibt unter anderem:
„In einem Gespräch über ein anderes Streichquartett, bei dem ich zugegen
war, sagte Arnold Rosé meiner Mutter: die können ja nicht einmal ein
Thema spielen. Gemeint war, daß jenes Quartett nicht des Charakters
unzweideutiger Setzung von Modellen mächtig sei, der die Voraussetzung
thematischer Arbeit bildet, weil die Modifikationen, in denen diese
bestehen [recte: besteht?], nur an der einmal geprägten Form als
sinnvoll sich ablesen lassen. Die Aufgabe, ein Thema zu spielen oder,
wie es vielleicht allgemeiner heißen dürfte, thematisch zu spielen,
umschrieb das Interpretationsprinzip der großen Musik von Haydn bis
Schönberg. Bewußtsein, das die adäquate Stellung zu jener Musik finden
will, muß das Thema als Thesis festhalten, um aus dieser selbst heraus
zur Antithesis fortschreiten zu können. Kraft dieses Prinzips war
Schönberg Glied der großen Tradition. In seinen letzten
Instrumentalwerken, dem Streichtrio und der Phantasie, wird sie
aufgekündigt und damit nicht weniger als die Forderung integralen
Komponierens. Insofern sind die letzten Werke, in denen der Griff der
glücklichen Hand nachzulassen scheint, die avanciertesten, die er
schrieb. Solchen Wechsel, die Selbstaufhebung thematischen Musizierens,
muß die Interpretation sich zueignen.“
Will man die Tragweite dieser Behauptung bedenken, so tut man gut daran,
sich nicht daran zu stoßen, daß sie sich sprachlicher Kothurne bedient
(was der Wichtigkeit des Gegenstandes vielleicht nicht unangemessen
ist). Adorno glaubt, in den beiden letzten Kammermusikwerken Schönbergs
eine Abwendung von jenen Gestaltungsprinzipien feststellen zu können,
die dessen Werk bis dahin bestimmten und es – unbeschadet der
Etablierung eines neuen Kompositionsverfahrens – in den übergreifenden
Kontext einer zumindest bis auf Haydn zurückgehenden Stiltradition
einbanden. Diese Sichtweise ist, wie das allermeiste, was Adorno zu
Wesen und Eigenart der Zweiten Wiener Schule zu sagen hatte, gut
fundiert; sie scheint aber nicht nur auf der Analyse des
kompositorischen Materials und des klanglichen Erscheinungsbildes,
sondern ebensosehr auf der Anwendung tradierter kunstgeschichtlicher
Topoi zu beruhen. Daß der im Zentrum einer Betrachtung stehende Meister
eine weit zurückreichende Entwicklungslinie vollendet und erfüllt,
gleichzeitig aber mit seinen letzten Werken als unerschrockener
Entdecker zu neuen und unbetretenen Ufern aufbricht; daß ihm dies gegen
den äußeren Anschein versiegender Vitalität gelingt; und daß er dadurch
eine als unumkehrbar und zielgerichtet gedachte Entwicklung vorantreibt –
wie anders wäre das Wort „avanciert“ in diesem Zusammenhang zu deuten? –
: all das sind geradezu archetypische Modelle, die tief im Mythos des
schöpferischen Menschen schlechthin wurzeln.
Tatsache ist, daß Schönberg – aus den schon im Zusammenhang mit der
Entstehung des Streichtrios besprochenen Gründen – in seinem letzten
Lebensjahrzehnt vergleichsweise wenig komponierte. Um so auffälliger ist
der kreative Ausbruch, dem die Violinphantasie ihr Dasein verdankt. Im
März 1949 begann der Meister nach vielmonatiger Schaffenspause gleich an
drei Werken simultan zu arbeiten: Neben der Phantasie, die zwischen dem
3. und 22. März entstand und deren Reinschrift am 30. März
abgeschlossen war, wurde am 20. März die Komposition „Drei mal tausend
Jahre“ op.50a (für gemischten Chor a cappella) beendet, nachdem
Schönberg zwischen dem 9. und 15. März die Skizzierung eines
Chor-Orchesterwerks auf einen eigenen Text („Israel exists again“) in
Angriff genommen hatte, das er allerdings im Juni unvollendet liegen
lassen sollte.
Dem erprobten Kampfgefährten und Schwager Rudolph Kolisch berichtet er:
„Ich habe vor einer Woche ein Stück für Violin-Solo mit Begleitung des
Klaviers fertiggestellt. Dein Vetter, Richard Hoffmann, der, wie Du
weißt, hier ist, hat es mit [Leonard] Stein schon gespielt. Es ist sehr
schwer, aber alles ist sehr gut ausführbar und soll sehr gut klingen.
Ich habe es noch nicht gehört. Willst Du es sehen? Dann lasse ich für
Dich eventuell auch eine Kopie machen.“
(12. April 1949)
Den hier schon auffällig betonten – und in der Kammermusik ansonsten
peinlich vermiedenen – Unterschied in der Wertigkeit der beiden
Instrumente erläuterte der Komponist später noch eindringlicher:
„Um dieses Stück ganz entschieden zu einem Solostück für Geige zu
gestalten, habe ich zuerst die ganze Geigenstimme komponiert und dann
die Klavierbegleitung hinzugefügt. Als etwas Hinzugefügtes, als eine
Begleitung, damit es nicht als ein Duett verstanden wird… Ich habe
geglaubt, ein Stück zu schreiben, dessen unbehinderter Fluß nicht auf
irgendwelche formale Theorien zurückzuführen ist.“
(an Josef Rufer, 5. Februar 1951)
Die Anwendung eines hinsichtlich der Wertigkeit der Instrumente so
„autoritären“, streng hierarchischen Konzeptes steht in einem gewissen
Spannungsverhältnis zur Natur der Zwölftontechnik an sich: da
ausschließlich alle auftretenden musikalischen Gestalten von der
zugrundegelegten Reihe abgeleitet sind, also unverleugbare thematische
Substanz besitzen, ist die angestrebte Rangordnung zwischen den
Instrumenten nur auf der Ebene der musikalischen Gestik und des
zeitlichen Ablaufes deutlich zu machen. Daher erschließt sich die
Subordination des Klaviers als Begleitinstrument dem Zuhörer auch bei
weitem nicht so unmißverständlich wie etwa bei einem Virtuosenstück des
XIX. Jahrhunderts.
Daß aber gerade diese virtuose Violinliteratur bei der Komposition der
Phantasie Pate gestanden ist, läßt sich nicht verleugnen: Vor allem
Paganini ist ein Vorbild, das in der geigerischen Textur des Werkes
immer wieder durchscheint. Diese traditionellen Modelle werden einer
höchst komplexen Zwölftonkomposition dienstbar gemacht – wobei die
Komplexität des Verfahrens so weit fortgeschritten ist, daß eine 1978
erschienene revidierte Neuausgabe dem Komponisten gleich in mehreren
Dutzend Fällen „Irrtümer“, d.h. „konstruktiv unlogische“ Noten (fast
sämtlich in der untergeordneten Klavierstimme) nachweist. Dieser Umstand
stellt den Interpreten vor eine nicht leicht zu beantwortende Frage:
Darf er sich über diese „Ungereimtheiten“ mit jenem lakonischen „Na und
wenn schon?“ hinwegsetzen, das Schönberg seinem Schwiegersohn Felix
Greissle als Antwort auf die Feststellung eines Reihenfehlers (zu Beginn
des Violinkonzertes op.36) gab, oder soll er wirklich jene kristalline
Logik walten lassen, die die kritischen Herausgeber fordern? Dabei gibt
es noch Unwägbarkeiten, welche die Beantwortung dieser Frage zusätzlich
erschweren, etwa Schönbergs reduziertes Sehvermögen, das für etliche der
Fehler verantwortlich sein mag. Doch bei längerer Bekanntschaft mit
dieser bemerkenswerten Partitur stellt sich allmählich heraus, daß diese
Fragestellung letztlich nur ein Scheingefecht ist: Diese Musik lebt so
ausschließlich von der Klarheit der rhetorischen Gestik, daß Textfragen
solcher Art völlig zweitrangig, ja geradezu beckmesserisch erscheinen
müssen.
Die von Schönberg gewählte Reihe weist als frappante Besonderheit eine
auffällige „Monotonie“ der Intervalle auf: von den elf Intervallen der
Reihe sind fünf Septimen, während ein weiteres, der übermäßige
Oktavschritt zwischen dem 7. und 8. Ton der Reihe, als Inversion des
Septimintervalls verstanden werden kann (und wohl auch ganz intuitiv so
gehört wird). Obwohl in der Ausgangsgestalt der Reihe die für die
diatonisch-tonale Thematik charakteristischen Intervalle fast völlig
fehlen – es begegnen nur eine Terz und zwei Sexten, aber keine Quarten
und Quinten –, ruft die Behandlung dieses scheinbar so spröden Materials
unwillkürlich tonale Assoziationen wach. So scheint etwa schon der
erste Takt der Komposition einer latenten Zentripetalkraft nach G-moll
hin zu unterliegen – und ein Blick auf den Baßgang des Schlusses macht
deutlich, daß diese Assoziation wohl alles andere als zufällig ist. Das
aphoristische, lakonische Element, das der dodekaphonen Komposition
zumeist anhaftet, wird hier ständig und mit größtem Einfallsreichtum
außer Kraft gesetzt. Konsequenterweise finden die „erlaubten“
verzögernden Techniken der Zwölftonkomposition – Tonwiederholungen und
Ostinati – großzügigste Anwendung, und die markante Wiederholung des
Anfangstones der Reihe wird gewissermaßen zum beherrschenden Leitmotiv
des ganzen Werkes, ein atomares Motiv, dessen Prägnanz und Zeugungskraft
eigentlich nur mit dem abgegriffenen Adjektiv „musikantisch“ bezeichnet
werden können.
Hinter den raffinierten dodekaphonen Kunstgriffen, die ein
Vierteljahrhundert handwerklichen Erfinderehrgeizes resümieren, wird so
immer wieder eine musikalische Textur von geradezu volkstümlicher
Schlichtheit sicht- und hörbar: So evoziert etwa ein Grazioso-Abschnitt
(Takte 52 bis 63) biedermeierlichen Charme, während in der Meno
mosso-Passage des Scherzando-Teiles, der nach der von rhapsodischen
Grave-Recitativen umrahmten ersten Hälfte der Phantasie die zweite
Hemisphäre des Stückes bildet, ein regelrechtes älplerisches
Schnaderhüpfl unbekümmert beweist, daß es auch in dodekaphonem Biotop
mühelos überleben kann, bevor die letzte Wiederkehr des Grave den
nötigen Ernst wiederherstellt und die Großform des Werkes abrundet.
Angesichts solch undogmatischer Vitalität (die der Fortschrittsgläubige
vielleicht auch „reaktionär“ nennen könnte) erscheint die These Adornos,
hier sei die Grenze integralen Komponierens erreicht und überschritten,
reichlich abstrakt; und es ist bezeichnend, daß etwa Claus Raab in
einer 1976 veröffentlichten Analyse der Phantasie, die er ebenso
pointiert wie provokant Fantasia quasi una Sonata nannte, von Adornos
Diagnose ausgehend zu diametral entgegengesetzten Schlüssen gelangte.
Viele Seiten ließen sich mit einander widersprechenden Urteilen und
Eindrücken füllen, die Schönbergs Phantasie hervorgerufen hat. Glenn
Gould, der das Werk 1964 mit Israel Baker und 1965 mit Yehudi Menuhin
aufnahm, etwa hat in der ihm eigenen Respektlosigkeit einer
Plattenveröffentlichung folgenden Kommentar beigefügt:
„…one feels that the intervening segments might be juggled ad libitum
without compromising any structural objectivity… over all, one has the
impression of an advocate willing to rest his case solely upon that most
tangential of motives – the twelve-tone row – and a row which, in this
case, is neither particularly interesting in itself nor manipulated with
an invention sufficient to link the revelation of its motivic secrets
with the spontaneous growth and unification of the structure.”
Demgegenüber hielt René Leibowitz im Sonderheft der Berliner „Stimmen“ zu Schönbergs 75. Geburtstag fest:
„Die Tatsache, daß jede Stimme aus völlig für sich abgeschlossenen
Reihensegmenten besteht, und daß sich gleichzeitig die andere Stimme der
ersten gegenüber komplementär verhält – das kommt mir als eine der
wichtigsten Errungenschaften der modernen Harmonik vor, deren weitere
Konsequenzen uns ganz neue Wege eröffnen.“
Trotz aller Kontroversen, die sich an seinem Werk entzündeten, konnte
Schönberg am Ende seines Lebens die Genugtuung erfahren, daß sich eine
ständig wachsende Anzahl berufener Interpreten leidenschaftlich für
seine Kompositionen einsetzten. Die Geiger Adolph Koldofsky und Tibor
Varga, die Taufpaten der Violinphantasie belegen das beispielhaft:
Koldofsky, an Schönbergs 31. Geburtstag in London zur Welt gekommen,
Schüler von Ysaye und Sevcik und viele Jahre hindurch Primarius des
Toronto String Quartet, war 1946 noch Los Angeles gekommen, wo er sehr
bald in engen Kontakt zu Schönberg trat. Er regte die Komposition der
Phantasie an und hob sie auch am 75. Geburtstag des Meisters, sekundiert
von Schönbergs Assistenten Leonard Stein, in einem vom Los Angeles
Chapter der IGNM veranstalteten Festkonzert aus der Taufe. Das Werk,
dessen Drucklegung er nicht mehr erlebte, ist seinem Andenken gewidmet.
Der aus Györ stammende Tibor Varga, als Wunderkind Schüler von Hubay und
Flesch, hatte in Budapest ein Philosophiestudium absolviert, bevor er
in London und ab 1949 in Detmold seine pädagogische Karriere begann; er
war es, der das europäische Konzertpublikum zuerst mit der Phantasie
bekannt machte – unter anderem spielte er die deutsche Erstaufführung
des Werkes im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse. Vargas Einspielung des
Schönbergschen Violinkonzertes, die der Komponist noch ein Jahr vor
seinem Tod hören konnte, riß Schönberg zu brieflichen Panegyriken hin;
leider ist unter den rund dreißig Plattenaufnahmen, die den Rang der
Violinphantasie als eines Klassikers des XX. Jahrhunderts bestätigen,
Vargas Interpretation nicht vertreten.
© by Claus-Christian Schuster