Shostakovitch: Sonate G-Dur op.134

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Sonate G-Dur op.134

Komponiert:Repino / Zukovka, 26. August – 23. Oktober 1968
Widmung:David Oistrach zum sechzigsten Geburtstag (30. September 1968)
Uraufführung:geschlossen: Moskau, Haus des Komponistenbundes, 8. Jänner 1969
David Oistrach (1908-1974), Violine
Moisej Vajnberg (1919-1996), Klavier
öffentlich: Moskau, Großer Saal des Konservatoriums, 3. Mai 1969
David Oistrach, Violine
Svjatoslav Richter (1915-1997), Klavier
Erstausgabe:Boosey & Hawkes (Anglo-Soviet Music Press), London, 1969

Im April 1935, wenige Monate nach der Uraufführung der Cellosonate, reiste Schostakowitsch mit einer großen Musikerdelegation im Auftrag Stalins in die Türkei. Bei dieser Gelegenheit kam es zur ersten näheren Begegnung mit dem um zwei Jahre jüngeren David Oistrach, der ebenso wie Schostakowitschs guter Freund Lev Oborin die Tournee mitmachte. Obwohl Schostakowitsch Oistrach bewunderte – und außerdem mit ihm die Leidenschaft für das Schachspiel teilte, kam es in den nächsten Jahren zu keiner engeren Zusammenarbeit. Als Oistrach mit seinen Triopartnern Oborin und Knuševickij das Trio op.67 uraufführen wollte, verweigerte der Komponist ihnen das mit Rücksicht auf seine Freunde vom Beethoven-Quartett. Gegen Ende seiner Herrschaft schickte Stalin die prestigeträchtige Troika – Schostakowitsch, Oistrach, Oborin – noch einmal auf eine wichtige Auslandsmission: Im März 1952 reisten die drei Musiker aus Anlaß des 125. Todestages von Ludwig van Beethoven in offizieller Mission nach Deutschland. In diesen Jahren, vor allem aber nach Stalins Tod, intensivierte sich der Kontakt zwischen Oistrach und Schostakowitsch. Nach außen hin sichtbares Zeichen dieser Annäherung war die Widmung des während des Terrorregimes in die Schublade verbannt gebliebenen ersten Violinkonzertes (op.77, 1947/48) an Oistrach, der das Werk zusammen mit Mravinskij und seinem Orchester am 29. Oktober 1955 in Petersburg aus der Taufe hob. Als einige Jahre später Oistrach auch zu dirigieren begann, nahm er Schostakowitschs IX. und X. Symphonie in sein Repertoire auf. Während im Falle des ersten Violinkonzertes der amerikanische Agent Oistrachs den mittelbaren Anstoß für das Zustandekommen der Uraufführung gegeben hatte, fand die künstlerische Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und seinem Interpreten schließlich in drei ganz ohne fremde Vermittlung zustandegekommenen Premieren ihre Krönung: Am 13. September 1967 führte Oistrach mit Kondrašin und den Moskauer Philharmonikern das ihm gewidmete zweite Violinkonzert (cis moll, op.129) auf, und schon wenige Wochen später, am 28. Oktober 1967, wirkte er an der Uraufführung der für Galina Višnevskaja geschriebenen Suite op.127 (für Sopran und Klaviertrio, nach Gedichten von Aleksandr Blok) mit; am 8. Jänner und am 3. Mai 1969 endlich hob Oistrach die Violinsonate aus der Taufe, die Schostakowitsch als Geschenk zu Oistrachs sechzigstem Geburtstag gedacht hatte: das erste dieser beiden Konzerte fand als geschlossene Veranstaltung im Moskauer Haus des Komponistenbundes statt, wobei der Komponist Moisej Vajnberg Oistrachs Partner war; die öffentliche Uraufführung, die zum Glück als Tonaufnahme verewigt wurde, bestritt Oistrach mit Svjatoslav Richter.

Über die Widmung des zweiten Violinkonzertes und der Violinsonate berichtet Oistrach in einem kurz vor seinem Tode verfaßten Aufsatz, der ein Jahr nach Schostakowitschs Tod in einem Erinnerungsband zum siebzigsten Geburtstag des Meisters erschien:

„Dmitrij Dmitrievic hatte beschlossen, mir ein Geschenk zu machen und für mich ein neues, zweites Violinkonzert zu schreiben, das er mir zu meinem Sechziger überreichen wollte. Aber er hatte sich um ein Jahr geirrt. Das Konzert war gerade rechtzeitig zu meinem neunundfünfzigsten Geburtstag fertig. […] Offenbar meinte Dmitrij Dmitrievic, daß er, da er sich nun einmal geirrt hatte, diesen Fehler unbedingt ausbessern müsse. So entstand die Sonate für Violine und Klavier… Ich hatte nichts dergleichen erwartet, obwohl ich schon seit langem davon träumte, daß Schostakowitsch einmal eine Geigensonate schreiben würde. Das war ein prächtiges Geschenk, nicht nur für mich, sondern natürlich für unsere ganze Musikwelt. […] Überall wurde die Sonate warm aufgenommen… Der dritte Satz war übrigens sowjetisches Pflichtstück für die Geiger, die 1970 am Tschaikovskij-Wettbewerb teilnahmen.“

Hatte sich Schostakowitsch mit seinem ersten Geburtstagsgeschenk verfrüht, so wurde er mit dem zweiten nicht rechtzeitig fertig: Die Sonate wurde erst etwas mehr als drei Wochen nach Oistrachs sechzigstem Geburtstag beendet.

Was nun die warme Aufnahme des Werkes betrifft, von der Oistrach zu berichten weiß, so scheint sie sich in den drei Jahrzehnten seit der Uraufführung merklich abgekühlt zu haben. Der deutsche Kritikernestor Alfred Beaujean nennt das Werk „sperrig“ und „seltsam abstrakt“, und der einfühlsame Schostakowitsch-Biograph (und sein hervorragender Schüler) Krzysztof Meyer stellt bedauernd fest, die Sonate sei „weniger gelungen“ und habe „eine gewisse intellektuelle Kühle“. Obwohl das Zustandekommen dieser gewiß nicht leichtfertig gefällten Urteile durchaus nachvollziehbar ist, sollte man doch nicht die Mühe scheuen, sie mit aller gebotenen Sorgfalt nachzuprüfen. Mir will scheinen, daß es sich hier um ein Paradebeispiel für einen circulus vitiosus der Rezeptionsgeschichte handelt. Die von Schostakowitsch offenbar als Geschwisterwerk zur Geigensonate konzipierte Bratschensonate erscheint wohl nur deswegen „eingängiger“ und „weniger sperrig“ weil sie – angesichts der viel geringeren Zahl repräsentativer Werke dieses Genres – ungleich öfter aufgeführt wird und daher weit besser assimiliert werden kann. Die beiden Spätwerke, die in vielen melodischen und rhythmischen Details aufeinander Bezug nehmen und auch in der Textur einander ähneln, teilen auch die ungewöhnliche Sonderform der Dreisätzigkeit, bei der ein Scherzo von zwei relativ ruhigen, kontemplativen Sätzen umrahmt wird.

In dem etwa ein halbes Jahr vor Beginn der Arbeit an der Violinsonate ebenfalls in Repino (einem Ferienort in der Nähe von St. Petersburg) geschriebenen Streichquartett Nr.12 (op.133) hatte Schostakowitsch das erste Mal mit einer gewissen Konsequenz dodekaphone Elemente in seine nach wie vor tonal definierte Musiksprache einfließen lassen. Die Violinsonate bezeichnet einen weiteren experimentellen Schritt auf diesem Wege. Daß das Werk aber trotz dieser Neuerungen tief in Schostakowitschs davorliegendem Schaffen wurzelt, beweist schon die Existenz eines einige Grundideen der Sonate festhaltenden Skizzenblattes, das das Datum „26. Juni 1945“ trägt.

Dem eröffnenden Andante (ursprünglich: Pastorale) liegt eine dreitaktige Zwölftonreihe zugrunde, die durch einen überzähligen Takt „regelwidrig“ erweitert wird; der Sinn dieser Erweiterung ist – horribile dictu – die tonale Verankerung der Reihe auf dem Ausgangston G. Der so entstandene Viertakter wird dann notengetreu umgekehrt. Eine zusätzliche Freiheit nimmt sich Schostakowitsch im zweiten Takt noch dadurch, daß er die Tonfolge, die in orthodoxer Darstellung „e-f-h-a“ (oder, Gipfel dodekaphoner Liberalität, etwa auch „e-e-f-h-h-a“ etc.) lauten müßte, über einem daktylischen Metrum als spielerisch schwingendes „e-f-e-h-a-h“ erscheinen läßt. Daß ein solches Vergehen mit der „roten Karte“ geahndet werden würde, war ja vorauszusehen:

„Ces formules stéréotypées et creuses dont Chostakovitch aura usé et abusé tout au long de sa vie, resurgissent ici comme des vestiges indestructibles d´une »langue de bois« musicale rebelle à toute déstalinisation. Elles rompent non seulement le système, mais aussi une logique dans la progression de la phrase, qui aurait été, sans ces répétitions, incontestablement plus belle dans son élévation abstraite et dépouillée.“
(André Lischke, Présence et négation du dodécaphonisme dans les dernières œuvres de Chostakovitch, Paris, 1989)

(Die zum Glück ungeschrieben gebliebene Violinsonate von Monsieur Lischke, die dem „System“ und dessen „Logik“ widerspruchslos folgt, stelle ich mir als ideale Hintergrundsmusik für den neunten Kreis des Infernos vor, wo man den verhinderten Komponisten sicher schon erwartet – und wo er auch sicher sein kann, daß er Schostakowitsch nicht begegnet. All das nur als vielleicht überflüssige Illustration für die Grenzenlosigkeit der Anmaßung, die unter Fachleuten – und ein solcher ist Lischke ohne jeden Zweifel – die règle du jeu ist.)

Der aus der erweiterten Reihe und ihrer Umkehrung zusammengesetzte Achttakter fungiert in der Folge als weitgespanntes Passacaglienthema, zwischen dem die Geige in engen Intervallen ihren Klagegesang beginnt (der übrigens, untrügliches Zeichen für die Bekenntnishaftigkeit des ganzen Werkes, wieder einmal mit den berühmten Initialen D-eS einsetzt). Doch in eben dem Augenblick, als sich der Zuhörer in der Gewißheit wiegt, wirklich einer Passacaglia zu folgen, zerbricht das kunstvoll aufgebaute Thema: es gerät ins Stocken, eine zweite, recitativische Reihe taucht ein einziges Mal auf, der Versuch zur Wiederherstellung des so raffiniert konstruierten Kunstgebildes scheitert, und zuletzt ergeben sich die willenlosen Bruchstücke des Passacaglienthemas ohne weiteren Widerstand einem zwischen kindlicher Scheu und durchtriebener Bosheit irisierenden Scherzando-Gedanken. Auch dieses Thema beginnt mit einer neuen Zwölftonformel, die aber unverarbeitet bleibt. Eine vierte herrenlose Reihe verstellt emphatisch den Weg, und das Scherzando-Motiv erstarrt zu einem mechanisch vor sich hintickenden Uhrwerk. Eine verfremdete Wiederkehr des Passacaglienbeginns führt unversehens in eine irreale Zauberwelt: Wie im Innern einer Kristalldruse sind hier rätselhafte Glockentöne und ein irreales Liniengespinst gefangen – dem Ablauf der Zeit entzogen und dem betretbaren Raum entrückt. Die Rückkehr aus diesem Reich führt uns, wie den Siebenschläfer im Märchen, in eine gealterte Welt. Die letzte Reihe erscheint nun ebenso im tiefen Register wie das behäbig gewodene Scherzando. Ein zweites Mal versinkt alles in der geronnenen Zeitlosigkeit, in der jetzt eine auf D und eS gestimmte Totenglocke zu vernehmen ist. Beim Erwachen empfängt uns der ungerührte Oktavrhythmus der Uhr. In dem kahlen und entzauberten Raum wiederholen beide Instrumente noch den letzten, wirkungslosen Zwölftonspruch, bevor der ferne Glockenklang und das beengend nahe mechanische Ticken in ein einziges Symbol der verrinnenden Zeit verschmelzen.

Der Mittelsatz (Allegretto, ursprünglich: Allegro furioso) transformiert die anämische Mechanik dieses Motivs in einen unaufhaltsamen Marsch von rauher Vitalität. Es ist klar, daß die elementare und ungebändigte Kraft, die hier nach Darstellung drängte, sich unmöglich in das Betonbett einer formalen Regulierung zwängen ließ. Dennoch läßt sich, was zunächst wie ein unberechenbares Überquellen ungezügelter Energie wirkt, durchaus als Rondo deuten – freilich nur als ein Rondo, in dessen konkreter Gestaltung sich der frenetische Inhalt überdeutlich widerspiegelt. Unter dieser Prämisse könnte man das Formschema etwa mit ABACABCA umschreiben. Dafür, daß diese biedere Formel garantiert unhörbar bleibt, und das Gefäß nicht die eruptive Irrationalität der Aussage behindert, ist auf drei Gestaltungsebenen gesorgt:
Auf der Ebene der Großform entspricht schon die Überzahl an Formgliedern (und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit, spontan Überblick zu gewinnen oder zu behalten) dem überbordenden Inhalt; auf der Ebene der Proportionen verhindert die radikale Ungleichgewichtung der Abschnitte – das Verhältnis des längsten zum kürzesten Formteil beträgt etwa zehn zu eins – jeden unerwünschten Einblick in das konstruktive Satzganze; und schließlich operiert Schostakowitsch unablässig mit extremen Dehnungen, Verkürzungen, mit einem Wort: mit allen Deformationsstrategien, die ihm zu Gebote stehen, um das Regelwerk der Zivilisation in diesem Satz außer Kraft zu setzen.

Dieser archaische Urzustand klingt noch im Incipit der abschließenden Passacaglia (Largo – Andante, ursprünglich als „Variationen“ bezeichnet) nach – einer majestätischen Eröffnungsgeste, die mit dissonanter Vehemenz das Recht der Grundtonart wiederherstellt.
Mit der Exposition des Passacaglienthemas (Pizzicato) kehren wir zur besonnenen Linearität des ersten Satzes zurück. Der Zuhörer, der dort den vergeblichen Anlauf zu einer Passacaglia miterlebt und -erlitten hat, wird das allmähliche Gedeihen dieses erneuten Versuches mit einiger Bangigkeit mitverfolgen.
Das tonale Thema ist elftaktig und schließt unter Aussparung des Leittones Fis alle anderen elf Töne ein. Mit den ersten sechs Variationen ist es, ganz so, wie man das aus der Klassik kennt, durch stetige Verdichtung der Notenwerte zu einer dramaturgischen Einheit verschmolzen. Variation VII ist durch Ritardandi, Fermaten und einen recitativisch-improvisatorischen Gestus wie eine kleine Kadenz gestaltet, nach der die Urgestalt des Themas, jetzt aber artikulatorisch verdoppelt (Klavierlegato gegen synkopiertes Geigenpizzicato), wiederkehrt (VIII). In der folgenden Variation (IX) erscheint aber nun parallel zu dem bisherigen Passacaglienthema ein zweites, zwölftöniges, das von jetzt an als Comes des ersten fungiert. Da die beiden Themen von sehr unterschiedlicher Länge sind (das tonale Thema umfaßt dreißig Töne), muß das zwölftönige Thema mit verschiedenen Kunstgriffen gedehnt werden – Schostakowitsch nützt von der „unerlaubten“ Wiederholung des zehnten Tones als einer Art „Enjambement“ am Ende der Reihe bis hin zur frei permutierenden Fortspinnung alle sich bietenden Möglichkeiten. Gleichzeitig, also gewissermaßen unter dem Druck dieser Ereignisse, verläßt die Passacaglia die bis hierher beibehaltene Bindung an das tonale Zentrum G. Nach den beiden in Gis stehenden Variationen IX und X führt uns Variation XI chromatisch weiter nach A, von wo wir in Terzmodulationen über F (XII) und Cis (XIII) nach B (XIV) gelangen. Damit ist die Kulmination des Satzes erreicht. Schon ab Variation XI wird das zweite Passacaglienthema immer wieder von Figurationen überwuchert, unter denen seine ursprüngliche Gestalt manchmal nur mehr zu erahnen ist. In den Variationen XIV (in B, Klaviersolo) und XV (in D, Geigensolo) nimmt die Überlagerung der beiden ins Monumentale überhöhten Themen die äußere Gestalt von Solokadenzen an, in denen ungeheure Klangmassen bewegt werden. An diesem Punkt mündet die Doppelpassacaglia in die Reprise des wuchtigen Incipits, an die sich als Variation XVI, unter gleichzeitiger Rückkehr zur Tonika G, die einzige zeitversetzte Exposition der beiden Themen anschließt (erstes Thema in der Geige, gefolgt vom zweiten Thema im Klavier). Am Beginn der Coda, die, den Dimensionen des Satzes entsprechend, von ungewöhnlicher Länge ist, steht eine letzte Doppelvariation, die als Reprise von Variation IX konzipiert ist. Der dort durch die chromatische Rückung nach Gis ausgelöste Entwicklungsbogen findet hier in der Bekräftigung der Tonika das architektonisch notwendige Widerlager. Der folgende Codaabschnitt paraphrasiert die kadenzartige Variation VII und mündet in eine erinnernde Beschwörung der Verzauberung aus dem ersten Satz, in der man wieder die fernen Glocken auf D und eS vernehmen kann. Das Werk schließt mit der echoartigen Gegenüberstellung von Beginn des letzten und Ende des ersten Satzes – ein architektonischer Chiasmus, der zur kunstreichen Gedankentiefe der ganzen Anlage durchaus paßt. Unmittelbar vor diesem Epilog taucht aber mit einem Terzostinato in der Geige noch eine Wendung auf, an deren Zitatcharakter man nur dann zweifeln könnte, wenn man nicht wüßte, wie innig Schostakowitsch Mahlers „Lied von der Erde“ liebte – dort begleitet dieses Motiv die Worte: „Ich wandle nach der Heimat“…

Das Wagnis der Doppelpassacaglia, mit der Schostakowitsch sein Schaffen auf dem Gebiete der Klavierkammermusik krönt und beschließt, ist ebenso wie die Gesamtkonzeption dieser Sonate in jeder erdenklichen Hinsicht eine tour de force. Die Entschlüsselung all jener hermeneutischen Details, die das gedankliche Kräftespiel in diesem gewaltigen Bau lenken und von denen hier nur einige wenige flüchtig zur Sprache gebracht worden sind, ist eine Herausforderung, der sich bis jetzt noch niemand gestellt hat; und vielleicht wird der Gedanke daran das vorschnelle Achselzucken über das „weniger gelungene“ Werk doch ein wenig verzögern.

© by Claus-Christian Schuster

Schubert: Sonate (“Duo”) für Pianoforte und Violine, A-Dur, op.162/D 574

Franz Schubert

* 31. Jänner 1797
† 19. November 1828

Sonate (“Duo”) für Pianoforte und Violine, A-Dur, op.162/D 574

Komponiert:Wien, August 1817
Uraufführung:Wien, Musikverein (I., Tuchlauben 12), 3. März 1864
Erstausgabe:Diabelli, Wien, 1851

Nach den drei zwischen März und April 1816 entstandenen Sonaten (op.137/D 384, D 385, D 408), die in der Musikpraxis gerne verniedlichend als „Sonatinen“ bezeichnet werden, wandte sich Schubert schon im August 1817 wieder diesem Genre zu und schuf mit der A-Dur-Sonate ein Werk, das zwischen der häuslichen Intimität seiner Vorgänger und der transzendenten Virtuosität der beiden rund ein Jahrzehnt danach geschriebenen Werke (Rondeau brillant op.70/D 895 und Fantaisie op.159/D 934) die glückliche Mitte hält. Wie in D 385 und D 408 wählte Schubert auch für dieses Werk die Viersätzigkeit, die Beethoven mit seinen Opera 24 („Frühlingssonate“), 30/2 und 96 so glücklich in die Gattungsgeschichte eingeführt hatte. Die formal überaus schlicht gehaltenen Sätze sind durch eine Vielfalt motivischer Bezüge miteinander verbunden. Besonders originell (und ganz ohne Beethovensche Parallele) ist die tonale Dramaturgie mit einem an zweiter Stelle stehenden Scherzo in der Dominante (E-Dur) und einem Andantino in der Variantenparallele (C-Dur), wodurch sich zwischen diesen beiden Mittelsätzen ganz zwanglos das in der Romantik so geliebte Mediantverhältnis ergibt. Daß Schubert diese Beziehung auch noch durch das C-Dur-Trio des Scherzos betont, beweist einmal mehr, daß auch in solchen „Äußerlichkeiten“ niemals die Willkür, sondern immer eine organische Notwendigkeit regiert: Bis auf diese Ebene herab bestätigt sich also Novalis´ Feststellung: „Jedes Kunstwerk hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein.“

© by Claus-Christian Schuster

Schönberg: Phantasy for Violin with Piano Accompaniment. Op.47

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Phantasy for Violin with Piano Accompaniment. Op.47

Komponiert:Los Angeles, CA (Brentwood Park, 116 North Rockingham Avenue), 3. – 30. März 1949
Widmung:Adolf Koldofsky (1905-1951)
Uraufführung:Los Angeles, CA, 13. September 1949
Adolph Koldofsky (1905-1951), Violine
Leonard Stein (1916-), Klavier
Erstausgabe:Henmar, New York, 1952

In seinem 1963 erschienenen Buch Der getreue Korrepetitor. Lehrschriften zur musikalischen Praxis hat Theodor W. Adorno, Schönbergs Apologet und Intimfeind, diesem letzten Kammermusikwerk des Meisters ein ausgedehntes Kapitel gewidmet, das zwar – getreu dem Werktitel – vor allem um praktische Fragen der Interpretation kreist, aber en passant auch diskussionswürdige Gedanken zur Stellung der Phantasie in Schönbergs Gesamtwerk, ja im Verlauf der abendländischen Musikgeschichte insgesamt enthält. Adorno schreibt unter anderem:

„In einem Gespräch über ein anderes Streichquartett, bei dem ich zugegen war, sagte Arnold Rosé meiner Mutter: die können ja nicht einmal ein Thema spielen. Gemeint war, daß jenes Quartett nicht des Charakters unzweideutiger Setzung von Modellen mächtig sei, der die Voraussetzung thematischer Arbeit bildet, weil die Modifikationen, in denen diese bestehen [recte: besteht?], nur an der einmal geprägten Form als sinnvoll sich ablesen lassen. Die Aufgabe, ein Thema zu spielen oder, wie es vielleicht allgemeiner heißen dürfte, thematisch zu spielen, umschrieb das Interpretationsprinzip der großen Musik von Haydn bis Schönberg. Bewußtsein, das die adäquate Stellung zu jener Musik finden will, muß das Thema als Thesis festhalten, um aus dieser selbst heraus zur Antithesis fortschreiten zu können. Kraft dieses Prinzips war Schönberg Glied der großen Tradition. In seinen letzten Instrumentalwerken, dem Streichtrio und der Phantasie, wird sie aufgekündigt und damit nicht weniger als die Forderung integralen Komponierens. Insofern sind die letzten Werke, in denen der Griff der glücklichen Hand nachzulassen scheint, die avanciertesten, die er schrieb. Solchen Wechsel, die Selbstaufhebung thematischen Musizierens, muß die Interpretation sich zueignen.“

Will man die Tragweite dieser Behauptung bedenken, so tut man gut daran, sich nicht daran zu stoßen, daß sie sich sprachlicher Kothurne bedient (was der Wichtigkeit des Gegenstandes vielleicht nicht unangemessen ist). Adorno glaubt, in den beiden letzten Kammermusikwerken Schönbergs eine Abwendung von jenen Gestaltungsprinzipien feststellen zu können, die dessen Werk bis dahin bestimmten und es – unbeschadet der Etablierung eines neuen Kompositionsverfahrens – in den übergreifenden Kontext einer zumindest bis auf Haydn zurückgehenden Stiltradition einbanden. Diese Sichtweise ist, wie das allermeiste, was Adorno zu Wesen und Eigenart der Zweiten Wiener Schule zu sagen hatte, gut fundiert; sie scheint aber nicht nur auf der Analyse des kompositorischen Materials und des klanglichen Erscheinungsbildes, sondern ebensosehr auf der Anwendung tradierter kunstgeschichtlicher Topoi zu beruhen. Daß der im Zentrum einer Betrachtung stehende Meister eine weit zurückreichende Entwicklungslinie vollendet und erfüllt, gleichzeitig aber mit seinen letzten Werken als unerschrockener Entdecker zu neuen und unbetretenen Ufern aufbricht; daß ihm dies gegen den äußeren Anschein versiegender Vitalität gelingt; und daß er dadurch eine als unumkehrbar und zielgerichtet gedachte Entwicklung vorantreibt – wie anders wäre das Wort „avanciert“ in diesem Zusammenhang zu deuten? – : all das sind geradezu archetypische Modelle, die tief im Mythos des schöpferischen Menschen schlechthin wurzeln.

Tatsache ist, daß Schönberg – aus den schon im Zusammenhang mit der Entstehung des Streichtrios besprochenen Gründen – in seinem letzten Lebensjahrzehnt vergleichsweise wenig komponierte. Um so auffälliger ist der kreative Ausbruch, dem die Violinphantasie ihr Dasein verdankt. Im März 1949 begann der Meister nach vielmonatiger Schaffenspause gleich an drei Werken simultan zu arbeiten: Neben der Phantasie, die zwischen dem 3. und 22. März entstand und deren Reinschrift am 30. März abgeschlossen war, wurde am 20. März die Komposition „Drei mal tausend Jahre“ op.50a (für gemischten Chor a cappella) beendet, nachdem Schönberg zwischen dem 9. und 15. März die Skizzierung eines Chor-Orchesterwerks auf einen eigenen Text („Israel exists again“) in Angriff genommen hatte, das er allerdings im Juni unvollendet liegen lassen sollte.
Dem erprobten Kampfgefährten und Schwager Rudolph Kolisch berichtet er:

„Ich habe vor einer Woche ein Stück für Violin-Solo mit Begleitung des Klaviers fertiggestellt. Dein Vetter, Richard Hoffmann, der, wie Du weißt, hier ist, hat es mit [Leonard] Stein schon gespielt. Es ist sehr schwer, aber alles ist sehr gut ausführbar und soll sehr gut klingen. Ich habe es noch nicht gehört. Willst Du es sehen? Dann lasse ich für Dich eventuell auch eine Kopie machen.“
(12. April 1949)

Den hier schon auffällig betonten – und in der Kammermusik ansonsten peinlich vermiedenen – Unterschied in der Wertigkeit der beiden Instrumente erläuterte der Komponist später noch eindringlicher:

„Um dieses Stück ganz entschieden zu einem Solostück für Geige zu gestalten, habe ich zuerst die ganze Geigenstimme komponiert und dann die Klavierbegleitung hinzugefügt. Als etwas Hinzugefügtes, als eine Begleitung, damit es nicht als ein Duett verstanden wird… Ich habe geglaubt, ein Stück zu schreiben, dessen unbehinderter Fluß nicht auf irgendwelche formale Theorien zurückzuführen ist.“
(an Josef Rufer, 5. Februar 1951)

Die Anwendung eines hinsichtlich der Wertigkeit der Instrumente so „autoritären“, streng hierarchischen Konzeptes steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Natur der Zwölftontechnik an sich: da ausschließlich alle auftretenden musikalischen Gestalten von der zugrundegelegten Reihe abgeleitet sind, also unverleugbare thematische Substanz besitzen, ist die angestrebte Rangordnung zwischen den Instrumenten nur auf der Ebene der musikalischen Gestik und des zeitlichen Ablaufes deutlich zu machen. Daher erschließt sich die Subordination des Klaviers als Begleitinstrument dem Zuhörer auch bei weitem nicht so unmißverständlich wie etwa bei einem Virtuosenstück des XIX. Jahrhunderts.

Daß aber gerade diese virtuose Violinliteratur bei der Komposition der Phantasie Pate gestanden ist, läßt sich nicht verleugnen: Vor allem Paganini ist ein Vorbild, das in der geigerischen Textur des Werkes immer wieder durchscheint. Diese traditionellen Modelle werden einer höchst komplexen Zwölftonkomposition dienstbar gemacht – wobei die Komplexität des Verfahrens so weit fortgeschritten ist, daß eine 1978 erschienene revidierte Neuausgabe dem Komponisten gleich in mehreren Dutzend Fällen „Irrtümer“, d.h. „konstruktiv unlogische“ Noten (fast sämtlich in der untergeordneten Klavierstimme) nachweist. Dieser Umstand stellt den Interpreten vor eine nicht leicht zu beantwortende Frage: Darf er sich über diese „Ungereimtheiten“ mit jenem lakonischen „Na und wenn schon?“ hinwegsetzen, das Schönberg seinem Schwiegersohn Felix Greissle als Antwort auf die Feststellung eines Reihenfehlers (zu Beginn des Violinkonzertes op.36) gab, oder soll er wirklich jene kristalline Logik walten lassen, die die kritischen Herausgeber fordern? Dabei gibt es noch Unwägbarkeiten, welche die Beantwortung dieser Frage zusätzlich erschweren, etwa Schönbergs reduziertes Sehvermögen, das für etliche der Fehler verantwortlich sein mag. Doch bei längerer Bekanntschaft mit dieser bemerkenswerten Partitur stellt sich allmählich heraus, daß diese Fragestellung letztlich nur ein Scheingefecht ist: Diese Musik lebt so ausschließlich von der Klarheit der rhetorischen Gestik, daß Textfragen solcher Art völlig zweitrangig, ja geradezu beckmesserisch erscheinen müssen.
Die von Schönberg gewählte Reihe weist als frappante Besonderheit eine auffällige „Monotonie“ der Intervalle auf: von den elf Intervallen der Reihe sind fünf Septimen, während ein weiteres, der übermäßige Oktavschritt zwischen dem 7. und 8. Ton der Reihe, als Inversion des Septimintervalls verstanden werden kann (und wohl auch ganz intuitiv so gehört wird). Obwohl in der Ausgangsgestalt der Reihe die für die diatonisch-tonale Thematik charakteristischen Intervalle fast völlig fehlen – es begegnen nur eine Terz und zwei Sexten, aber keine Quarten und Quinten –, ruft die Behandlung dieses scheinbar so spröden Materials unwillkürlich tonale Assoziationen wach. So scheint etwa schon der erste Takt der Komposition einer latenten Zentripetalkraft nach G-moll hin zu unterliegen – und ein Blick auf den Baßgang des Schlusses macht deutlich, daß diese Assoziation wohl alles andere als zufällig ist. Das aphoristische, lakonische Element, das der dodekaphonen Komposition zumeist anhaftet, wird hier ständig und mit größtem Einfallsreichtum außer Kraft gesetzt. Konsequenterweise finden die „erlaubten“ verzögernden Techniken der Zwölftonkomposition – Tonwiederholungen und Ostinati – großzügigste Anwendung, und die markante Wiederholung des Anfangstones der Reihe wird gewissermaßen zum beherrschenden Leitmotiv des ganzen Werkes, ein atomares Motiv, dessen Prägnanz und Zeugungskraft eigentlich nur mit dem abgegriffenen Adjektiv „musikantisch“ bezeichnet werden können.
Hinter den raffinierten dodekaphonen Kunstgriffen, die ein Vierteljahrhundert handwerklichen Erfinderehrgeizes resümieren, wird so immer wieder eine musikalische Textur von geradezu volkstümlicher Schlichtheit sicht- und hörbar: So evoziert etwa ein Grazioso-Abschnitt (Takte 52 bis 63) biedermeierlichen Charme, während in der Meno mosso-Passage des Scherzando-Teiles, der nach der von rhapsodischen Grave-Recitativen umrahmten ersten Hälfte der Phantasie die zweite Hemisphäre des Stückes bildet, ein regelrechtes älplerisches Schnaderhüpfl unbekümmert beweist, daß es auch in dodekaphonem Biotop mühelos überleben kann, bevor die letzte Wiederkehr des Grave den nötigen Ernst wiederherstellt und die Großform des Werkes abrundet.
Angesichts solch undogmatischer Vitalität (die der Fortschrittsgläubige vielleicht auch „reaktionär“ nennen könnte) erscheint die These Adornos, hier sei die Grenze integralen Komponierens erreicht und überschritten, reichlich abstrakt; und es ist bezeichnend, daß etwa Claus Raab in einer 1976 veröffentlichten Analyse der Phantasie, die er ebenso pointiert wie provokant Fantasia quasi una Sonata nannte, von Adornos Diagnose ausgehend zu diametral entgegengesetzten Schlüssen gelangte.

Viele Seiten ließen sich mit einander widersprechenden Urteilen und Eindrücken füllen, die Schönbergs Phantasie hervorgerufen hat. Glenn Gould, der das Werk 1964 mit Israel Baker und 1965 mit Yehudi Menuhin aufnahm, etwa hat in der ihm eigenen Respektlosigkeit einer Plattenveröffentlichung folgenden Kommentar beigefügt:
„…one feels that the intervening segments might be juggled ad libitum without compromising any structural objectivity… over all, one has the impression of an advocate willing to rest his case solely upon that most tangential of motives – the twelve-tone row – and a row which, in this case, is neither particularly interesting in itself nor manipulated with an invention sufficient to link the revelation of its motivic secrets with the spontaneous growth and unification of the structure.”
Demgegenüber hielt René Leibowitz im Sonderheft der Berliner „Stimmen“ zu Schönbergs 75. Geburtstag fest:
„Die Tatsache, daß jede Stimme aus völlig für sich abgeschlossenen Reihensegmenten besteht, und daß sich gleichzeitig die andere Stimme der ersten gegenüber komplementär verhält – das kommt mir als eine der wichtigsten Errungenschaften der modernen Harmonik vor, deren weitere Konsequenzen uns ganz neue Wege eröffnen.“

Trotz aller Kontroversen, die sich an seinem Werk entzündeten, konnte Schönberg am Ende seines Lebens die Genugtuung erfahren, daß sich eine ständig wachsende Anzahl berufener Interpreten leidenschaftlich für seine Kompositionen einsetzten. Die Geiger Adolph Koldofsky und Tibor Varga, die Taufpaten der Violinphantasie belegen das beispielhaft: Koldofsky, an Schönbergs 31. Geburtstag in London zur Welt gekommen, Schüler von Ysaye und Sevcik und viele Jahre hindurch Primarius des Toronto String Quartet, war 1946 noch Los Angeles gekommen, wo er sehr bald in engen Kontakt zu Schönberg trat. Er regte die Komposition der Phantasie an und hob sie auch am 75. Geburtstag des Meisters, sekundiert von Schönbergs Assistenten Leonard Stein, in einem vom Los Angeles Chapter der IGNM veranstalteten Festkonzert aus der Taufe. Das Werk, dessen Drucklegung er nicht mehr erlebte, ist seinem Andenken gewidmet. Der aus Györ stammende Tibor Varga, als Wunderkind Schüler von Hubay und Flesch, hatte in Budapest ein Philosophiestudium absolviert, bevor er in London und ab 1949 in Detmold seine pädagogische Karriere begann; er war es, der das europäische Konzertpublikum zuerst mit der Phantasie bekannt machte – unter anderem spielte er die deutsche Erstaufführung des Werkes im Rahmen der Darmstädter Ferienkurse. Vargas Einspielung des Schönbergschen Violinkonzertes, die der Komponist noch ein Jahr vor seinem Tod hören konnte, riß Schönberg zu brieflichen Panegyriken hin; leider ist unter den rund dreißig Plattenaufnahmen, die den Rang der Violinphantasie als eines Klassikers des XX. Jahrhunderts bestätigen, Vargas Interpretation nicht vertreten.

© by Claus-Christian Schuster

Pfitzner: Sonate für Violine und Pianoforte, E-moll, op.27

Hans Pfitzner

* 05. Mai 1869
† 22. Mai 1949

Sonate für Violine und Pianoforte, E-moll, op.27

Komponiert:Strasbourg, Anfang Jänner – 25. Mai 1918
Widmung:Kongl. Svenska Musikaliska Akademien (Kgl. Schwedische Akademie der Musik)
Uraufführung:München, Konzertsaal des Hotels „Vier Jahreszeiten“, 25. September 1918
Felix Berber (1871-1930), Violine
Hans Pfitzner, Klavier
Erstausgabe:Peters, Leipzig, 1918

Nach seinem Fortgang aus Berlin hatte Pfitzner – nach einem kurzen Münchener Intermezzo – mit Beginn der Saison 1907/08 die Leitung der Konzerte des Städtischen Orchesters von Straßburg (heute Orchestre Philharmonique de Strasbourg) übernommen. Im April 1908 war die ganze Familie – das Ehepaar Pfitzner, der fünfjährige Sohn Paul und der eineinhalbjährige Sohn Peter – in die elsässische Hauptstadt übersiedelt, die damals knapp 200.000 Einwohner zählte.
Das Musikleben der Stadt war mit demjenigen Berlins natürlich nicht zu vergleichen; aber Straßburg bot Pfitzner Perspektiven, von denen er in Berlin nicht träumen konnte. Obwohl er dazu keine wirkliche Berufung empfand, übernahm er zusätzlich zur Leitung des Orchesters auch die Direktion des städtischen Konservatoriums, was ihm die Möglichkeit gab, das Musikleben der Stadt weitgehend nach seinen künstlerischen Vorstellungen zu gestalten. Was er hier in den elf Jahren seiner Tätigkeit leistete, ist in jeder Hinsicht bemerkenswert – und widerlegt eindrucksvoll die primitiven Klischees vom geltungssüchtigen Egozentriker und verblendeten Nationalisten Pfitzner: Während er sein eigenes Werk überaus stiefmütterlich behandelte, brachte er eine Vielzahl französischer Werke sowie Kompositionen seiner „Konkurrenten“ Mahler, Strauss, Reger und Busoni zur Aufführung. Unter den jungen Dirigenten, die er nach Straßburg holte, waren Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer und George Szell. Natürlich nützte er die sich ihm jetzt eröffnenden Möglichkeiten aber auch, um alte Dankesschulden abzutragen – zu den ersten Solisten, die er verpflichtete, gehörte sein Jugendfreund Heinrich Kiefer…

Niemals zuvor und niemehr danach war Pfitzners Leben so erfüllt. Die Vielzahl seiner organisatorischen und interpretatorischen Aufgaben und Pflichten wirkte sich dabei auf sein Schaffen nicht hemmend, sondern anregend aus: Zwar ist die Anzahl der in Straßburg entstandenen Werke deutlich geringer als die seines Berliner Jahrzehnts, aber ohne Zweifel bildet die Ernte dieser Jahre den Höhepunkt des Pfitznerschen Schaffens. Und wenn man nicht wüßte, daß dem Genie schematische Überlegungen dieser Art fremd sind, könnte man auf den Gedanken kommen, Pfitzner habe seine kompositorische Produktion „dramaturgisch“ geplant: Genau wie in den Jahren 1890-1896 umrahmen nämlich zwei programmatische und gedankentiefe große Kammermusikwerke die in jeder Hinsicht im Zentrum stehende Oper – dem Opus 1 entspricht gleich zu Beginn des Straßburger Aufenthaltes das monumentale, dem Freund Bruno Walter gewidmete Klavierquintett op.23 (1908), dem Opus 8 die den Abschluß dieses Lebensabschnittes bezeichnende Violinsonate op.27 (1918), und dem jugendlichen Geniestreich des Armen Heinrichs steht hier das opus summum des reifen Meisters, der unsterbliche Palestrina gegenüber.

Die Konzeption dieser Meisteroper geht allerdings wirklich auf die Mainzer Jahre Pfitzners zurück: 1895 war der junge Komponist beim Studium der (unvollendet gebliebenen) Musikgeschichte des Prager Davidbündlers August Wilhelm Ambros (1816-1876) auf das ihn seither nicht mehr loslassende Sujet gestoßen. (Zwischen dem Autor und seinem empfänglichen Leser scheint eine gewisse Affinität bestanden zu haben: Ambros, dessen Leistung als Kulturhistoriker die seines berühmteren jüngeren Freundes Eduard Hanslick bei weitem übertrifft, hat als Komponist nicht nur – wie Pfitzners Idol Schumann – eine Oper auf die Tiecksche „Genoveva“ geschrieben, sondern auch, wie später sein aufmerksamer Adept, Musik zu Kleists „Käthchen von Heilbronn“.)
Nach mehreren gescheiterten Versuchen, sich ein Libretto zu beschaffen, wagte sich Pfitzner 1909 selbst an die Dichtung. In frappanter Übereinstimmung mit seinen programmatischen Schriften über das Wesen des „Einfalls“ bildeten dabei Palestrinas Schlußworte:

Nun schmiede mich, den letzten Stein
An einem deiner tausend Ringe,
Du Gott – und ich will guter Dinge
Und friedvoll sein.

die Keimzelle, aus der und um die sich die dichterische Gestalt des Werkes nach und nach entwickelte. Das 1911 nach intensivem Quellenstudium vollendete Textbuch hat so unbestreitbare literarische Qualitäten, daß es sogar den kritischen Otto Klemperer – dessen Verhältnis zu Pfitzner einigermaßen im Dunklen liegt – an Goethe erinnerte, und Thomas Mann, der mit diesem Adelsprädikat nicht eben freigiebig war, es als „Dichtung“ anerkannte.

Am 1. Jänner 1912 begann Pfitzner mit der Niederschrift der Musik:

„Du sagtest früher einmal, man sollte das, was in genialen oder erleuchteten besonderen Momenten man erkennt, in anderen, gewöhnlichen eben durchführen; darin bestehe eben die vernünftige Richtschnur des Lebens. Dem stimme ich sehr bei. Wenn ich das machen will, muß ich mich von Mimi trennen, das muß die Ausbeute aus dem furchtbaren Zusammenbruch sein, den ich jetzt erlebe – er soll nicht umsonst sein. […] Ich bin körperlich so schwach und geistig so entschlossen, wie ich es nie war. Gestern, am 1. Januar, schrieb ich die ersten ernstlichen Noten am Palestrina. Ich will ihn schreiben. Daran möchte ich mich nicht hindern lassen.“
(an Paul Nikolaus Cossmann, 2. Jänner 1912)

Mimi verläßt mit den Kindern – Pauli, Peti, und der 1908 geborenen Agnes, genannt Agi – das Haus; die Krise ist zwar nicht von langer Dauer, aber die Komposition belastet den Meister und seine Familie auch weiterhin bis zum Äußersten. Um das Werk, in dem er schon lange vor der Realisierung sein Hauptwerk erkannt hat, fertigstellen zu können, läßt Pfitzner sich in der Spielzeit 1914/15 von Oper und Konservatorium dispensieren; am 17. Juni 1915 kann er dann endlich den Schlußstrich unter den Palestrina setzen.
Die ungeheure Willensanspannung, die für diese Leistung notwendig war, hinterläßt ihre Spuren: In den zwei Jahren bis zur Uraufführung des Werkes, die am 12. Juni 1917 zu Beginn einer Pfitzner-Woche am Münchner Prinzregententheater unter der musikalischen Leitung von Bruno Walter stattfindet, schreibt Pfitzner nur einige wenige Lieder (op. 25-26).
Für Thomas Mann wird Palestrina zum Schlüsselerlebnis. Das Bekenntnis zu Pfitzner, dem er einen eigenen Abschnitt in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) widmet, ist der Ausgangspunkt einer ebenso intensiven wie ephemeren Freundschaft. Als der Münchner Pfitzner-Freund Otto Deiglmayr im September 1917 unter dem Eindruck des Palestrina den Plan zur Gründung eines Pfitzner-Vereines faßt, gehört Thomas Mann bald zu seinen Verbündeten: Der Aufruf, mit dem der „Hans-Pfitzner-Verein für deutsche Tonkunst“ wenig später an die Öffentlichkeit tritt, stammt aus seiner Feder.

Aber auch außerhalb Deutschlands wird Pfitzners Meisteroper als ein Manifest jener Humanität begriffen, die auch die wüstesten Verirrungen einer im Vernichtungskrieg versinkenden Welt überdauern kann. Unter Bruno Walters Leitung unternimmt die Münchner Oper im vierten Kriegsjahr eine Tournee in die neutrale Schweiz, wo das Werk in Zürich, Basel und Bern mit überwältigendem Erfolg aufgeführt wird. Wenige Monate nach der Münchner Uraufführung ernennt die Königliche Schwedische Akademie für Musik (mit Dekret vom 30. Oktober 1917) Pfitzner zu ihrem Ehrenmitglied. (Die Pfitzner überreichte Urkunde trägt die Unterschriften von Karl Silverstolpe, einem Vertreter jener kulturhistorisch illustren Familie, der auch der mit Haydn in dessen letzten Lebensjahren befreundete Diplomat Frederik Samuel Silverstolpe angehörte, und des Sekretärs der Akademie, eines außerhalb Schwedens so gut wie unbekannten Komponisten, dessen Name den künftigen Wahlmünchner später vielleicht einmal heimatlich anmuten sollte: Karl Valentin…)

Und so finden wir Pfitzner am ersten Tag des Jahres 1918, wie sechs Jahre zuvor, wieder über dem Beginn eines neuen Werkes: einer als Dankesgabe für die Schwedische Akademie bestimmten Kammermusik. Daß er mit diesem neuen Werk bewußt eine Entwicklungslinie weiterführt, die an das Quintett von 1908 anknüpft, äußert sich auch darin, daß er es vom Anfang an dem Verlag Peters zugedacht hat, wo auch das Opus 23 erschienen war: Schon wenige Tage nach Kompositionsbeginn schreibt er an Henri Hinrichsen (1868-1942), seit 1900 Alleininhaber des Traditionsverlages (der fast gleichzeitig mit Pfitzners bestem Freund Paul Nikolaus Cossmann in Theresienstadt umkommen sollte), er sei „das erste Mal seit dem Klavierquintett wieder mit einem Kammermusikwerk beschäftigt bin und zwar mit einer Violinsonate“ (10. Jänner 1918). Aber erst einige Monate später kann er dem selben Adressaten den Abschluß des ersten Satzes melden und fährt dann fort:

Was die Sonate selbst anbetrifft, so kann ich natürlich über die Musik selber nichts sagen. Es werden drei Sätze werden; vermutlich, da der erste Satz ziemlich umfangreich ist, von beträchtlicher Ausdehnung.
Wenn Sie es für praktisch halten, möchte ich den ersten Satz gleich nach evtl. Vertragsabschluß gesondert einschicken, damit er womöglich sofort in Druck kommt und nachher die Drucklegung nicht überstürzt zu werden braucht. Ich möchte aber gerne vorher den Satz, wie auch nachher die andern Sätze[,] erst mit Professor Berber einmal durchspielen, um die Violinmäßigkeit voll zu erproben und die Bezeichnung möglichst genau zu machen. Ich werde dazu wahrscheinlich Ende April in München Gelegenheit haben.
(an Henri Hinrichsen, 5. April 1918)

Zu diesem Zwecke hält sich Pfitzner vom 21. bis zum 25. April 1918 in München auf – er steigt dabei im Nobelhotel „Vier Jahreszeiten“ ab, wo fünf Monate später auch die Uraufführung des Werkes stattfinden sollte. Nach Straßburg zurückgekehrt, schließt er die Arbeit zügig ab; die Komposition ist am 19., die Reinschrift am 25. Mai 1918 beendet, wie wir aus einem Brief an seinen Münchner „Propagandisten“ (und – was in der Mangelwirtschaft der Kriegs- und Nachkriegszeit wohl nicht weniger verdienstvoll war – Lebensmittellieferanten) Otto Deiglmayr erfahren:

Gestern ist die Violinsonate fertig geworden; sie hat mich die ganze Zeit seit meiner Rückkunft von München in Atem gehalten…
(26. Mai 1918)

Der Adressat ist zu diesem Zeitpunkt ganz mit seiner Lieblingsidee, dem „Hans-Pfitzner-Verein für deutsche Tonkunst“ ausgefüllt; am Nachmittag des 31. Mai findet im Münchner Künstlerhaus die Gründungsversammlung statt. Wie jedem rechten Eiferer fehlt Deiglmayr bei seinen Bemühungen das Augenmaß – auf das ihm nicht unbekannte Konkurrenzverhältnis zwischen „seinem“ Pfitzner und Richard Strauss reagierend, schreibt er letzterem einen ebenso undiplomatischen wie instinktlosen Brief, in welchem er Strauss auffordert, sich dem Verein anzuschließen, „um müßigem Gerede entgegenzutreten“. Als Freund Busching versucht, die peinliche Situation zu bereinigen, antwortet ihm Richard Strauss, der Deiglmayr nicht einmal einer Absage gewürdigt hat, mit einem Schreiben, das ein Deutlichkeit nun wirklich nichts zu wünschen übrigläßt:

„… Daß es mir nach reiflicher Überlegung nicht möglich ist, in die Mitte des Kreises »führender Musiker« einzutreten, ebensowenig als es wohl Franz Liszt oder gar dem Richard Wagner in den Sinn gekommen wäre, im Ehrenausschuß eines Cornelius- oder Draeseke- oder Bruckner-Vereins zu sitzen, bloß um »müßigem Gerede entgegenzutreten«…“
(Juni 1918)

Kein Wunder, daß der Meister, den die Vereinsgründung ehren sollte, wenig Freude an der ganzen Angelegenheit hat: „Mir macht die Tätigkeit des Hans-Pfitzner-Vereins bisher nur schlaflose Nächte.“, schreibt er dem unermüdlichen Deiglmayr am 9. September 1918 aus Straßburg. Da stand die Uraufführung des Opus 27 im Rahmen des ersten Vereinskonzertes – auch das eine Idee Deiglmayrs – schon unmittelbar bevor. Auch die Drucklegung des Werkes war schon lange geregelt – am 30. Juni hatte Pfitzner die letzten Korrekturbögen an Hinrichsen zurückgeschickt und gleichzeitig die Übersendung von Widmungsexemplaren an Felix Berber und Hermann Grevesmühl (Pfitzners Partner in den ersten Aufführungen der Sonate), seinen – als Kammermusiker besonders aktiven und kompetenten – Komponistenkollegen Hermann Zilcher und, last not least, an das ilustre Duo Artur Schnabel/Carl Flesch veranlaßt. Auch über das Honorar hatte man sich ohne Diskussionen geeinigt: Hinrichsen zahlte die von Pfitzner verlangten 10.000 Mark – der Autor des Palestrina hatte offensichtlich einen höheren Marktwert als der Komponist des Armen Heinrich.

Am 13. September reist Pfitzner über Frankfurt, wo er sich drei Tage aufhält, nach München. Er nimmt wieder im Hotel „Vier Jahreszeiten“ Quartier. Die rührige Münchner Pfitzner-Gemeinde umsorgt ihn. Zu diesen von Richard Strauss mit ironischen Gänsefüßchen versehenen „führenden Musikern“ gehören – neben Generalmusikdirektor Bruno Walter – so achtbare Erscheinungen wie der komponierende Altphilologe Otto Crusius (1857-1918), aber auch einige „richtige“ Komponisten, sicher nicht zufälligerweise alle Schüler von Iwan Knorr in Frankfurt oder Ludwig Thuille in München: etwa Bruno Walters Kollege als Generalintendant der Münchner Theater, Clemens von Franckenstein (1875-1942), der Schweizer Walter Courvoisier (1875-1931), Pfitzners Nachfolger als Leiter der Münchner Kaim-Konzerte (1907) und Thuilles Schwiegersohn, oder Pfitzners Landsleute Hermann Zilcher (1881-1948) und Walter Braunfels (1882-1954), beides Schüler von Pfitzners Schwiegervater James Kwast. Braunfels ist es auch, auf dessen Vorschlag am Vorabend der Uraufführung im Konzertsaal der Klavierhandlung Alfred Schmid Nachfolger vor 150 geladenen Vereinsmitgliedern eine inoffizielle Voraufführung stattfindet. Das von Pfitzner gewählte Programm besteht, wie bei der öffentlichen Uraufführung, aus einer Mozart-Sonate, der Schumannschen D-moll-Sonate und Pfitzners Opus 27. Die offizielle Premiere des Werkes findet am 25. September 1918 im Konzertsaal von Pfitzners Hotel „Vier Jahreszeiten“ statt – es ist die erste öffentliche Veranstaltung des „Hans-Pfitzner-Vereins für deutsche Tonkunst“. Wenn man bedenkt, daß sich in diesen Wochen der Kriegsausgang schon überdeutlich abzeichnet, und die Mehrzahl der Proponenten das „Deutsche“ des Vereinsnamens als eine trotzige Kampfansage an die von den Feindesmächten ausgehende „Bedrohung der deutschen Kultur“ verstanden haben mag (aktuelle Reizwörter: „Bolschewismus“, „Internationalismus“, „Futurismus“, „Jazz“ usw.), so kann man das Datum dieses Ereignisses auch als eine subtile Ironie des Schicksals deuten: Es war Schostakowitschs zwölfter und der Vorabend von Gershwins zwanzigstem Geburtstag…

Über die Uraufführung weiß der Pfitzner-Biograph Walter Abendroth (1935) zu berichten: „Das frisch erfundene, meisterlich-unproblematische Werk drang ohne Widerstand durch und wurde mit starkem Beifall belohnt.“ In der Voraufführung mußte der zweite Satz sogar wiederholt werden. Die Abwesenheit von Problemen und Widerständen zu konstatieren, dürfte allerdings doch etwas voreilig gewesen sein: Pfitzners Violinsonate gehört unter den bedeutenden Werken dieser Gattung sicher zu den am seltensten gespielten.
Das Opus 27 ist Pfitzners vorletzte Kammermusik mit Klavier; erst 1945 sollte er mit dem Sextett op.55 ein letztes Mal auf diese Werkkategorie zurückkommen, mit der er sein Schaffen begonnen hatte – aber da war er schon ein ganz anderer geworden. Die Sonate schließt somit einen sich über fast drei Jahrzehnte spannenden Entwicklungsbogen ab, der in seiner inneren Stringenz und seiner kompromißlosen Kraft ein faszinierendes Detail an der großen Kathedrale der Musik darstellt.
Das ganze Werk ist durchweht vom Nachhall des Palestrina; freilich nicht in der simplen Weise, daß man Motive und Bilder der Oper hier wieder finden würde – es ist vielmehr die Haltung eines Menschen, der Schweres und Wichtiges vollendet hat, die sich im Duktus dieser Musik niederschlägt. Palestrina/Pfitzner, der hier am Wort ist, steht noch ganz unter dem Eindruck der ihm auferlegten Aufgabe. Das weitausschwingende Hauptthema des ersten Satzes (Bewegt, mit Empfindung), das von einer entfernt an Bachsche Präludien erinnernden Begleittextur getragen wird, bricht immer wieder sinnend und träumend ab. Der rhapsodische Übergang zum kindlich-zuversichtlichen Seitenthema wird von energischeren Tönen geprägt – die dabei entfaltete Kraft hat aber nichts Kämpferisches, sondern vermittelt das Bild gesammelter und bedächtiger Schwere. Die kontemplative Vielschichtigkeit, die in diesem Expositionsverlauf angelegt erscheint, erforderte für die Weiterführung des Satzes ganz besondere Lösungen: Pfitzner findet sie, indem er der Exposition drei annähernd gleichlange, jeweils emblematisch mit dem Hauptthema beginnende Abschnitte folgen läßt, die sich zwar unschwer als Durchführung, Reprise und Coda benennen lassen, die aber dieses vertraute Schema doch auf sehr spezifische Weise variieren. Äuffällig ist vor allem, daß mit jedem neuen Abschnitt die Entfernung von der „Urgestalt“ des Hauptthemas zunimmt. Im Zentrum der Durchführung steht – anstelle des hier ausgesparten Seitenthemas – ein ausgedehnter Exkurs, der um das ferne As-Dur kreist und in dem die fließende Grundbewegung zu zeitloser Ruhe gerinnt. In der Coda sind dagegen die klassischen Durchführungscharakteristika – Abspaltung, Umreihung, dramatische Zuspitzung – am deutlichsten ausgeprägt: auch das eine durchaus nicht willkürliche, sondern in der Physiognomie des Satzes gut begründete Umkehrung des gewohnten dramaturgischen Ablaufes.
Der zweite Satz (Sehr breit und ausdrucksvoll, C-Dur) ist seinem Wesen nach ein feierlicher Hymnus; doch die breit und majestätisch dahinströmende Cantilene, die sich schon bald in das As-Dur der Durchführungsepisode aus dem ersten Satz wendet, verästelt und verirrt sich nach und nach: unversehens wird aus dem Dankgesang ein Klagelied. Der zweite Teil des Satzes ist eine erweiterte und sieghaft gesteigerte Wiederholung, in der das träumerische As-Dur durch ein strahlendes A-Dur ersetzt wird, so als wollte schon hier der Jubel des Schlußsatzes durchbrechen; aber ein kurzer Abgesang beschließt den Satz in der Stimmung und den Tonarten des Anfangs.
Das sich unmittelbar an den Mittelsatz anschließende Finale (Äußerst schwungvoll und feurig) hielt Wilhelm Furtwängler für den beeindruckendsten, aber auch am leichtesten zu mißdeutenden Versuch Pfitzners, „gemeinverständlich“ zu schreiben. In der Tat ist der freudige Überschwang, der den ganzen Satz durchpulst, nicht nur eine bei Pfitzner selten anzutreffende Stimmung – er scheint auch in nicht leicht erklärbarer Spannung zu den doch wesentlich gedämpfteren Tönen der ersten beiden Sätze zu stehen. Die einfachste – und ohne Zweifel unrichtigste – Deutung, der einige von Pfitzners kritischen Zeitgenossen zuneigten, wäre es, den Komponisten hier auf der Suche nach dem „zündenden Effekt“ zu wähnen. Ein Blick auf die Schlußtakte sollte genügen, um eine solche Hypothese zu widerlegen: Pfitzner führt hier die Geige in ihre tiefste Lage, ja er spart sie bei dem dunklen und wuchtigen Schlußakkord überhaupt aus – der Kunstverstand jedes blutigen Anfängers hätte ausgereicht, hier einen „wirkungsvollen“ Schluß mit strahlender E-Saite, untermalt von pianistischer E-Dur-Euphorie, herzusetzen. Offensichtlich ging es dem Komponisten nicht um ein luxuriöses Klanggewand im Sinne von Richard Strauss, auch wenn die Textur dieses Finales alles andere als schlicht ist. Vielleicht liegt der Schlüssel zum tieferen Verständnis dieses Satzes in dem als verzögerndes Element zwischen Reprisenende und Strettabeginn tretenden G-Dur-Choral: Wird hier etwa, mitten im Euryanthe-Jubel, der späte Schumann beschworen? Eine (weit unterhalb der Zitatebene liegende) generische Verwandtschaft zu jenem Choralthema, mit dem Schumann in seiner D-moll-Sonate (op.121) die Mittelsätze aneinander bindet, ist jedenfalls nicht zu leugnen. Und daß Pfitzner bei der Premiere gerade diese Sonate seinem eigenen Werk gegenüberstellte, könnte diese Vermutung stützen. Der alternde Meister schreibt über die Sternenfreundschaft zwischen Schumann und Wagner, den beiden Leitsternen seiner Jugend – warum sollte es uns nicht erlaubt sein, den Bogen von Pfitzners Opus 1 (in der Tonart des Schumannschen Opus 11 und mit einem Heine/Schumann-Zitat als Motto) bis zu seinem Opus 27 auch im Lichte einer solchen Sternenfreundschaft zu sehen?

Nach der Uraufführung kehrt Pfitzner wieder nach Straßburg zurück. Am 4. Oktober, dem Tag des deutschen Waffenstillstandsangebotes an Präsident Wilson, stellt er das neue Werk auch hier vor – sein Partner ist diesmal Hermann Grevesmühl, mit dem er die Sonate am darauffolgenden Tag noch in Colmar spielt. Es sollte sein vorletzter Konzertauftritt in Straßburg sein. Nach dem letzten noch planmäßig abgehaltenen Abonnementkonzert mit seinem Orchester, reist er zu Konzerten nach München. Dort aber wird der erste Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ auf ganz besondere Weise begangen: In der Nacht vom 7. zum 8. November 1918 besetzt Kurt Eisner mit seinen sozialistischen Parteifreunden den Landtag, am nächsten Tag wird König Ludwig III für abgesetzt erklärt und flieht aus München.
„Pfitzners seltsames Schicksal wollte es, daß er gerade am Abend des achten November ein Konzert hatte, bei dem die wenigen mutigen Besucher auf die immer neuen, in den Saal dringenden Schreckensnachrichten und fernen Schüsse hin sich allmählich davonmachten – er stand unter dem Eindruck, daß nur ihm eine solche revolutionäre Unanehmlichkeit passieren könne – und, erinnere ich mich recht, kam danach noch zu mir ins Haus, wo wir besorgt die Lage besprachen, ohne das geschichtliche Ereignis zu ahnen, von dem uns die Zeitung am nächsten Morgen berichtete.“
(Bruno Walter, Thema und Variationen)

Für die nächsten Wochen sitzt Pfitzner in den „Vier Jahreszeiten“ fest. Das schon mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 de facto wieder französisch gewordene Straßburg, wo er sein wichtigstes Schaffensjahrzehnt verbracht hat, sollte er nicht wiedersehen. Die Palestrina-Stadt hat ihn mühelos vergessen. Im großzügigen Musik- und Kongreßpalast der Europastadt heißen die Säle nach Erasmus von Rotterdam, dem Pfitzner-Bewunderer Albert Schweitzer, dem Lokalmatador und Johann-Strauß-Konkurrenten Emil Waldteufel und nach Charles Münch, dem Sohn von Pfitzners erstem Chorleiter. „Ich werde es immer schwer haben, aber ich werde auch immer das sein.“, hat Pfitzner einmal gesagt. Es scheint, als habe sich an der Stätte seiner wichtigsten Leistung diese Prophezeiung nur zum Teil erfüllt.

© by Claus-Christian Schuster

Hindemith: Sonate Nr.4, C-Dur (1939)

Paul Hindemith

* 16. November 1895
† 28. Dezember 1963

Sonate Nr.4, C-Dur (1939)

Komponiert:Bluche (Kanton Wallis), 3.-9. September 1939
Erstausgabe:Schott, Mainz, 1939

Im August 1938 – die Lage des Komponisten im nationalsozialistischen Deutschland war nach Aufführungsverboten und Diffamierungskampagnen gänzlich unhaltbar geworden – lösten die Hindemiths endlich ihren Berliner Haushalt auf und reisten in die Schweiz aus.

„Es gibt nur zwei Dinge, die anzustreben sind: Anständige Musik und ein sauberes Gewissen…“

schreibt Hindemith am 20. September 1938 seinem Verleger. Noch immer will er nicht wahr haben, daß er eine Entscheidung für den Rest seines Lebens getroffen hat. Mit der Genies eigenen – und niemandem so wie ihnen verzeihlichen – Kurzsichtigkeit geht es ihm wohl zunächst nur darum, seine Arbeit ungestört fortsetzen zu können. In Bluche bei Sierre ( – Hindemith schreibt übrigens, gar nicht kosmopolitisch, beharrlich „Blüsch“, „Sijär“ und „Lozan“ – ) findet man schließlich ein Tusculum:

„… das Häuschen ist so, als wäre es uns auf den Leib geschneidert, und die Gegend ist das Schönste, was man sich wünschen kann, eine liebliche Matten- und Baumlandschaft, rings umgeben von den großartigsten Dingen. Hinter uns die südlichste Kette der Berner Alpen, gegenüber die Walliser Schneeriesen (Weißhorn usw.) und vor uns tief unten das Rhônetal, das man etwa 40 Kilometer weit aufwärts verfolgen kann. Dazu die Abgeschiedenheit in einem winzigen Bauerndörfchen voller Kühe mit ständigem Gebimmel, das Häuschen mit Sommerveranda und Garten mit Obstbäumen, was will man mehr?…“
(an den Schott-Verlag, 2. Oktober 1938)

Wie schon bei der Komposition des Mathis, den Hindemith fern von der Hektik Berlins in Lenzkirch im Schwarzwald geschrieben hatte, bewahrheitete sich auch diesmal das Ovidsche „silva placet musis, urbs inimica poetis“: In den wenigen Monaten, die Hindemith vor seiner Emigration in die USA (Februar 1940) zwischen seinen ausgedehnten Konzertreisen in seinem Walliser Idyll vergönnt waren, entstanden insgesamt elf Werke, darunter neben dem Violinkonzert nicht weniger als fünf Sonaten, die allesamt zu den gelungensten Werken des Komponisten zählen. Während die anderen vier Sonaten Unikate in Hindemiths Oeuvre sind, krönt und beschließt die Violinsonate eine ganze Werkgruppe.

Mit einem Blick auf das Entstehungsdatum des Werkes kann man schwer umhin, in dieser letzten und ambitioniertesten der Hindemithschen Violinsonaten die unmittelbare Antwort des Komponisten auf das Hitlersche Kriegsgebell, das zwei Tage vor Beginn der Niederschrift durch den Äther gegellt hatte, zu sehen. Dem Fanal der kraftmeiernden Barbarei wird hier eine aus gedanklicher Ordnung und Klarheit entspringende Kraft entgegengesetzt, die Hindemiths Postulat von der Einfachheit als „letzter Reduktion hoher Ideen auf die klarste Form“ entspricht. Der kurze, monothematische erste Satz (Lebhaft, in C) hat Ouverturencharakter; die Bauform ist ABCBA, wobei die Differenzierung der einzelnen Architekturglieder bei gleichbleibender Motivik durch dynamische, artikulatorische und metrische Variation erzielt wird.

Im zweiten Satz (Langsam – Lebhaft – Langsam, in E) werden in bewährter Weise die Charakteristika der Mittelsätze einer viersätzigen Sonate in eine dreiteilige Form zusammengezogen; die Eckteile vertreten dabei die Stelle des langsamen Satzes, während der Mittelteil im aparten Fünfachteltakt die Funktion eines Scherzos übernimmt. Der thematische Zusammenhalt mit dem Eröffnungssatz ist in den langsamen Teilen eher lose durch die Übernahme einzelner charakteristischer Motivelemente hergestellt, wohingegen das Thema des raschen Mittelteils unmittelbar aus der Umkehrung des Incipits von dort gewonnen wird. In der Reprise weckt die Geige mit ihren spielerisch-motorischen Skalenornamenten Erinnerungen an ähnlich lautende Stellen aus den Sonaten op.11.

Ziel und Krönung des Werkes ist aber ohne Zweifel die abschließende Tripelfuge (Ruhig bewegt, in C), einer der kontrapunktisch und formal eindrucksvollsten Sätze Hindemiths. Die gestische Charakterisierung der drei Themen ist von großer Einfachheit, was der Transparenz des Satzes sehr zugute kommt. Auch bei der Gliederung verliert Hindemith niemals das Ziel größtmöglicher Klarheit aus den Augen. Drei kadenzartige Zäsuren (C-Dur – Cis-Dur – H-Dur) ordnen den Fluß des Geschehens. Die so gebildeten vier Abschnitte der Fuge verarbeiten der Reihe nach:
1.) Thema 1,
2.) Thema 2 und Kombination der Themen 1 und 2
3.) Thema 3
4.) Kombination aller drei Themen.
Dieser großräumige Bauplan ist ohne alle äußerliche Rhetorik und mit lakonischer Ökonomie ausgeführt. Indem Hindemith die kontrapunktische Artistik Regers aufnimmt und weiterführt, versteht er es doch, ihr neuen Inhalt und Sinn zu geben. In ihrer gewissermaßen leidenschaftlichen Sachlichkeit stellt die letzte Violinsonate Hindemiths in ihrem Genre eine der überzeugendsten Leistungen unseres Jahrhunderts dar.

© by Claus-Christian Schuster

Eisler: Sonate für Violine und Klavier (Die Reisesonate, 1937)

Hanns Eisler

* 06. Juli 1898
† 06. September 1962

Sonate für Violine und Klavier (Die Reisesonate, 1937)

Komponiert:auf der Reise von Svendborg nach Prag, Oktober 1937
Erstausgabe:Peters, Leipzig, 1959

Hanns Eisler, der seit seinem dritten Lebensjahr in Wien aufwuchs und hier 1919 Schüler von Arnold Schönberg wurde, ist vielen Lagern suspekt: den Traditionalisten als respektloser „Neutöner“, den Gralshütern der Avantgarde als ein Rebell, der die „Reinheit der Lehre“ bedenkenlos den Erfordernissen der politischen Agitation opferte. Sein „Verrat“ an Schönberg, dem er im März 1926 gestehen muß, er verstehe bis auf Äußerlichkeiten gar nichts von der 12-Ton-Technik und –Musik, geht Hand in Hand mit seinem um die selbe Zeit ganz in den Vordergrund tretenden sozialrevolutionären Engagement. 1929 beginnt er, mit Bertolt Brecht zusammenzuarbeiten; und nach der durch die nationalsozialistische Machtübernahme erzwungenen Flucht, die ihn zunächst nach Wien zurückführt, kommt er immer wieder zu Brecht nach Dänemark – so auch nach einem Besuch der spanischen Bürgerkriegsfront im Jänner 1937. Von hier reist er im Oktober nach Prag. Auf dieser ebenso beschwerlichen wie gefährlichen Reise entsteht eine Violinsonate, der Eisler selbst den Untertitel „Die Reisesonate“ gibt. Der Komponist geht hier auf so vital musikantische und gleichzeitig raffinierte Art mit dem Gestaltungsintrumentarium der Dodekaphonie um, daß ein imaginärer musikalischer Zollfahnder alle Mühe hätte, die Schmuggelware zu erkennen – Eisler ist en passant eines der luzidesten und vollendetsten Kammermusikwerke der ganzen Stilepoche geglückt. Ein Jahr vor seinem Tod wird er zu Recht sagen können: „Wenn man mich nicht spielt, ist der Musikbetrieb dumm. Das ist eine freche Behauptung, aber ich glaube, es ist eine richtige Behauptung.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Sonate Nr.3, d-moll, op.108

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Sonate Nr.3, d-moll, op.108

Komponiert:Thun, Sommer 1886
Widmung:Hans von Bülow (1830-1894)
Uraufführung:Budapest, 21. Dezember 1888
Johannes Brahms, Klavier
Jenö Hubay (1858-1937), Violine
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1889

KOMPONIEREN NACH BEETHOVEN
DIE DREI SONATEN FÜR KLAVIER UND VIOLINE VON JOHANNES BRAHMS

Die drei Violinsonaten von Johannes Brahms (1833-1897) gehören so sehr zum Allgemeingut der Kammermusikgemeinde der ganzen Welt, daß nichts überflüssiger erscheint, als sie im üblichen Sinne „vorzustellen“. Sie regen aber in besonderer Weise zum Nachdenken über den musikgeschichtlichen Prozeß, in dem sie entstanden sind, an. Freilich ist das Feld, das sich hier auftut, für den hier gebotenen Rahmen viel zu weit. Daher bitte ich Sie, mit den folgenden Gedankenskizzen vorliebzunehmen.
Wie in fast allen Genres der Musik läßt sich auch an der Gattung „Sonate für Violine und Klavier“ (die bis an das Ende des XIX. Jahrhunderts fast immer unter der Bezeichnung „Sonate für Klavier und Violine“ figurierte) über den Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg eine stetige quantitative Abnahme der Produktion feststellen. So stehen den insgesamt 38 Violinsonaten Mozarts (von denen immerhin 19 in den gängigen Ausgaben berücksichtigt werden) und 10 Werken von Beethoven nur mehr je drei Sonaten von Schumann und Brahms gegenüber, während die meisten bedeutenden Komponisten unseres Jahrhunderts überhaupt nur ein bis zwei Kompositionen dieser Art hinterlassen haben (Ravel, Bartòk, Prokofiev, Shostakovitch usw.). Es ist bezeichnend, daß die Ausnahmen (etwa Max Reger mit seinen 9 Violinsonaten) sofort in den Verdacht geraten, „Vielschreiber“ zu sein, und im Konzertleben zu einem Schattendasein verurteilt werden.
Natürlich spiegelt sich in diesem Phänomen nicht etwa ein Versiegen menschlicher Kreativität wider – wenn auch zugestanden werden muß, daß die technisch-industrielle Revolution einen nicht unbedeutenden Teil des schöpferischen Potentials der Menschheit in anderen Schaffensgebieten gebunden hat. Doch die indirekten Folgen dieser Revolution erwiesen sich für die musikalische Produktion als viel folgenschwerer: Einerseits entwuchs die Musik ihrem sozialen Selbstverständnis als „Gebrauchsmusik“, deren gedachter Wirkungshorizont kaum mehr als einige Jahre betrug, und emanzipierte sich als eine autonome Kunstleistung, deren Anspruch das hic et nunc weit hinter sich ließ; daraus ergibt sich wiederum die Forderung nach der „Einmaligkeit“ des einzelnen Werkes, durch die sich die früher übliche „Serienproduktion“ sozusagen von selbst verbot. (Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist etwa, daß Beethovens op.12 und op.30 noch je drei Sonaten umfaßt und op.23-24 immerhin noch als Diptychon konzipiert ist, während die letzten beiden Sonaten einzeln erschienen – eine Erscheinung, die sich im wesentlichen bei allen vergleichbaren Werkkategorien Beethovens wiederfindet.) Andererseits führte die – ebenfalls technisch und wirtschaftlich bedingte – Entwicklung des Musiklebens (Konzertorganisation, Verlagswesen usw.) zu einer allmählichen „Historisierung“ oder „Musealisierung“ der Rezeption, so daß der Komponist der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts viel fühlbarer sup specie aeternitatis komponierte als seine Kollegen der vorangegangenen Generationen: Der Bezugspunkt war nicht mehr das rezente Musikangebot einer überschaubaren Region, sondern das gesamte Musikschaffen innerhalb eines sich kontinuierlich erweiternden historischen und geographischen Horizontes. Analog dem Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ nahm so – eigentlich unausgesprochen – die Idee einer „Weltmusik“ allmählich Gestalt an. Es liegt auf der Hand, daß (parallel der Entwicklung in den anderen Künsten) angesichts der sich so anbahnenden Omnipräsenz alles schon Dagewesenen – eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit noch um ein Vielfaches beschleunigt hat – Originalität und Neuheit auch in der Musik zu selbständigen und schließlich alle anderen Beurteilungskategorien in den Schatten stellenden Werten wurden. Daß diese Perspektive vieles objektiv Große klein und unbedeutend erschienen ließ, während manche Belanglosigkeit im Schlagschatten dieser Beleuchtung epochale Dimensionen zu besitzen schien, war unvermeidlich. Ohne allen Kulturpessimismus darf man aber darüber hinaus feststellen, daß ganz allgemein die Situation des künstlerisch schöpferischen Menschen im Laufe des XIX. Jahrhunderts zunehmend schwieriger wurde. Das in dieser Form eigentlich neue Phänomen des „Spätbrufenen“ (Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, Anton Bruckner u.v.a.) ist nur eines der vielen Symptome, an denen sich diese Komplikation ablesen läßt. Das Neue und Problematische der Situation haben nur wenige unter den Großen so klar und so schmerzlich erkannt und empfunden wie Johannes Brahms.
Immer wieder wird an die Hypothek erinnert, die Schumanns Artikel „Neue Bahnen“ für den jungen Brahms bedeutet haben muß. Und in der Tat muß man zugeben, daß es für den zwanzigjährigen Komponisten sicher nicht leicht war, sich gewissermaßen als Erben Beethovens proklamiert zu sehen. Doch eigentlich drückt sich in diesem individuellen biographischen „Zufall“ die neue Qualität der allgemeinen Schaffensbedingungen nur in besonders symbolischer Sinnfälligkeit aus. Mit einem Seitenblick auf die weniger problematischen Naturen unter seinen Kollegen schreibt Brahms seinem Verleger einmal: „Für gewöhnlich wundere ich mich stets weniger, daß ich so faul, als daß die anderen so fleißig sein können.“ (an Fritz Simrock, April 1870). Im Schatten des „Riesen“ Beethoven wird er mehr als zwei Jahrzehnte um seine Erste Symphonie ringen müssen, die dann schon die Zeitgenossen als die „Zehnte“ empfanden. Obwohl das Schaffen Brahms´ nur einem sehr oberflächlichen Betrachter konservativ im Sinne von „rückwärtsgewandt“ erscheinen wird, ist doch die verinnerlichte Gegenwart des großen Vorgängers immer wieder deutlich zu spüren.
In ähnlicher Wiese wie in seinen Symphonien bezieht sich Brahms auch in seiner Kammermusik auf dieses Erbe. Wie er in seiner ersten Sonate für Klavier und Violoncello (e-moll, op.38) das in Beethovens letzter Cellosonate (op.102 Nr.2) entwickelte Modell zum Ausgangspunkt nimmt, so knüpft seine erste Violinsonate (G-Dur, op.78) unmittelbar an Beethovens letztes Werk dieser Gattung (G-Dur, op.96) an. Der Bezug ist hier noch um einiges offensichtlicher: Brahms verwendet die selbe Tonartenfolge wie Beethoven (G-Dur – Es-Dur – g-moll – G-Dur), und auch in Aufbau und Textur finden sich einige unüberhörbare Parallelen. Noch auffälliger sind aber die prononcierten Unterschiede zu Beethovens Partitur: das Wegfallen des Scherzos, die konsequente Weiterentwicklung der motivischen Ökonomie und die noch weiter gehende „Poetisierung“ des Textes – der letzte Satz ist sogar ganz explizit eine Meditation über zwei, schon 1873 komponierte Lieder („Regenlied“ op.59 Nr.3, und „Nachklang“ op.59 Nr.4, beide auf Texte von Brahms´ Freund und Landsmann Klaus Groth [1819-1899]), worauf sich der manchmal für das Werk verwendete Name „Regenliedsonate“ bezieht. Das Werk, das übrigens – zusätzliches Indiz für die oben skizzierte Problematik – wahrscheinlich schon den vierten Versuch des Komponisten in diesem Genre darstellt, entstand in den Sommern der Jahre 1878 und 1879 in Pörtschach am Wörthersee und wurde schon am 8. November 1879 in Bonn von dem Ehepaar Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier, und Robert Heckmann (1848-1891), Violine, uraufgeführt.
Die anderen beiden Sonaten sind Zwillingsschwestern: Brahms schuf beide Werke in dem so überaus ertragreichen Sommer 1886, den er am Thuner See in der Schweiz verbrachte und der ganz der Instrumententrias Klavier-Violine-Violoncello gehörte. Neben den beiden Violinsonaten entstanden zur gleichen Zeit das 3. Klaviertrio (c-moll, op.101), die zweite Cellosonate (F-Dur, op.99) und das Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester (a-moll, op.102). Die eine der beiden Sonaten, nämlich die zweite Violinsonate (A-Dur, op.100), wurde noch im selben Jahr aus der Taufe gehoben: Der Komponist selbst spielte sie mit Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893) am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal (jetzt Brahms-Saal) des Wiener Musikvereins. (Eben dieser Hellmesberger hatte ja schon im November 1862, wenige Wochen nach Brahms´ Ankunft in Wien, die Schumannsche Prophezeiung von 1853 erst auf die griffige Formel „Das ist der Erbe Beethovens!“ gebracht, ein Urteil, das er in späteren Jahren, als er darum bemüht war, im Streit zwischen „Brahmsianern“ und „Wagnerianern“ neutral zu erscheinen, damit zu entschuldigen pflegte, daß er vorher „zu viel kroatischen Wein“ getrunken habe.) Die „Wagnerianer“ bemächtigten sich der neuen Sonate sofort, indem sie ihr den Namen „Meistersinger-Sonate“ anhefteten – mit keiner besseren Begründung als der wirklich läppischen Übereinstimmung der ersten beiden Intervalle mit dem Beginn der Stolzing-Arie „Morgenlich leuchtend“. Brahms selbst hat bei anderer Gelegenheit einem Reminiszenzen-Jäger geantwortet, noch viel merkwürdiger als das „Zitat“ selbst sei doch wohl der Umstand, daß es jedem Esel auffalle. Wer ernsthaftere und erhellendere Bezüge in dem Werk sucht, wird sie in zahlreichen Selbstzitaten des Meisters finden: Da er die Sonate nach dem Zeugnis seines Biographen Max Kalbeck „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“, nämlich der Altistin Hermine Spies (1857-1893) schrieb, könnte man aus den zitierten Liedern so etwas wie einen „Brief in Tönen“ herauslesen; und es ist sicher kein Zufall, daß der Dichter, der Brahms dazu seine Worte leiht, wieder Klaus Groth ist („Wie Melodien zieht es…“ op.105 Nr.1 und „Komm bald!“ op.97 Nr.5).
Mit dem Schwesterwerk, der dritten Violinsonate (d-moll, op.108) ließ der Meister sich mehr Zeit. Erst im Oktober 1888 schickte Brahms das Manuskript den Herzogenbergs nach Berlin. Elisabet von Herzogenberg (1847-1892), deren Briefwechsel mit Brahms zu den berührendsten Dokumenten der deutschen Musikgeschichte zählt, regte den Komponisten dann noch zu einigen Änderungen an. In dieser definitiven Fassung wurde das Werk am 21. Dezember 1888 in Budapest von Brahms mit dem ungarischen Geiger und Joachim-Schüler Jenö Hubay (1858-1937) uraufgeführt. Wie oft bei unmittelbar benachbarten Werken der gleichen Gattung fällt zuallererst die antithetische Stimmung des Sonatenpaares auf: der sonnig-träumerischen Welt der A-Dur-Sonate steht hier eine wildzerklüftete, wetterdurchleuchtete Landschaft gegenüber. Daß die Dramatik dieses Werkes auch einen bestimmten Interpretentyp verlangt, deutete Brahms in der Widmung an – übrigens der einzigen „offiziellen“ Dedikation, die er einer Violinsonate angedeihen ließ: die Sonate ist Hans von Bülow (1830-1894) zugeeignet, der 1854 (nach dem Komponisten) der erste Pianist gewesen war, der ein Brahms-Werk öffentlich aufgeführt hatte.
Auch in dieser Geste manifestiert sich, daß Brahms keine prinzipielle Berührungsscheu gegenüber dem Wagner-Kreis hatte – der „Krieg“ wurde von den Aposteln sehr viel heftiger geführt als von den Meistern selbst. Dennoch sollte man die historische Bedeutung dieses Konfliktes nicht unterschätzen: zum ersten Mal in der Musikgeschichte stehen wir hier zwei fundamental unterschiedlichen Idiomen und Ideologien gegenüber, die sich beide explizit auf das klassische Erbe und im besonderen auf Beethoven berufen. Im Unterschied zu den national, sozial oder persönlich bedingten Konflikten, die bis dahin die ästhetische Diskussion über die Musik weitgehend bestimmt hatten, haben wir es nun mit einem tieferreichenden und folgenschwereren Streit zu tun, von dem man den Ausgang jenes Phänomens herleiten kann, das vielen Menschen unseres Jahrhunderts dann als die „babylonische Sprachenverwirrung“ der Musik erscheinen mußte.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Sonate Nr.2, A-Dur, op.100

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Sonate Nr.2, A-Dur, op.100

Komponiert:Thun, Sommer 1886
Uraufführung:Wien, Musikverein, Kleiner Saal (Brahms-Saal),
2. Dezember 1886
Johannes Brahms, Klavier
Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893), Violine
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1887

KOMPONIEREN NACH BEETHOVEN
DIE DREI SONATEN FÜR KLAVIER UND VIOLINE VON JOHANNES BRAHMS

Die drei Violinsonaten von Johannes Brahms (1833-1897) gehören so sehr zum Allgemeingut der Kammermusikgemeinde der ganzen Welt, daß nichts überflüssiger erscheint, als sie im üblichen Sinne „vorzustellen“. Sie regen aber in besonderer Weise zum Nachdenken über den musikgeschichtlichen Prozeß, in dem sie entstanden sind, an. Freilich ist das Feld, das sich hier auftut, für den hier gebotenen Rahmen viel zu weit. Daher bitte ich Sie, mit den folgenden Gedankenskizzen vorliebzunehmen.
Wie in fast allen Genres der Musik läßt sich auch an der Gattung „Sonate für Violine und Klavier“ (die bis an das Ende des XIX. Jahrhunderts fast immer unter der Bezeichnung „Sonate für Klavier und Violine“ figurierte) über den Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg eine stetige quantitative Abnahme der Produktion feststellen. So stehen den insgesamt 38 Violinsonaten Mozarts (von denen immerhin 19 in den gängigen Ausgaben berücksichtigt werden) und 10 Werken von Beethoven nur mehr je drei Sonaten von Schumann und Brahms gegenüber, während die meisten bedeutenden Komponisten unseres Jahrhunderts überhaupt nur ein bis zwei Kompositionen dieser Art hinterlassen haben (Ravel, Bartòk, Prokofiev, Shostakovitch usw.). Es ist bezeichnend, daß die Ausnahmen (etwa Max Reger mit seinen 9 Violinsonaten) sofort in den Verdacht geraten, „Vielschreiber“ zu sein, und im Konzertleben zu einem Schattendasein verurteilt werden.
Natürlich spiegelt sich in diesem Phänomen nicht etwa ein Versiegen menschlicher Kreativität wider – wenn auch zugestanden werden muß, daß die technisch-industrielle Revolution einen nicht unbedeutenden Teil des schöpferischen Potentials der Menschheit in anderen Schaffensgebieten gebunden hat. Doch die indirekten Folgen dieser Revolution erwiesen sich für die musikalische Produktion als viel folgenschwerer: Einerseits entwuchs die Musik ihrem sozialen Selbstverständnis als „Gebrauchsmusik“, deren gedachter Wirkungshorizont kaum mehr als einige Jahre betrug, und emanzipierte sich als eine autonome Kunstleistung, deren Anspruch das hic et nunc weit hinter sich ließ; daraus ergibt sich wiederum die Forderung nach der „Einmaligkeit“ des einzelnen Werkes, durch die sich die früher übliche „Serienproduktion“ sozusagen von selbst verbot. (Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist etwa, daß Beethovens op.12 und op.30 noch je drei Sonaten umfaßt und op.23-24 immerhin noch als Diptychon konzipiert ist, während die letzten beiden Sonaten einzeln erschienen – eine Erscheinung, die sich im wesentlichen bei allen vergleichbaren Werkkategorien Beethovens wiederfindet.) Andererseits führte die – ebenfalls technisch und wirtschaftlich bedingte – Entwicklung des Musiklebens (Konzertorganisation, Verlagswesen usw.) zu einer allmählichen „Historisierung“ oder „Musealisierung“ der Rezeption, so daß der Komponist der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts viel fühlbarer sup specie aeternitatis komponierte als seine Kollegen der vorangegangenen Generationen: Der Bezugspunkt war nicht mehr das rezente Musikangebot einer überschaubaren Region, sondern das gesamte Musikschaffen innerhalb eines sich kontinuierlich erweiternden historischen und geographischen Horizontes. Analog dem Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ nahm so – eigentlich unausgesprochen – die Idee einer „Weltmusik“ allmählich Gestalt an. Es liegt auf der Hand, daß (parallel der Entwicklung in den anderen Künsten) angesichts der sich so anbahnenden Omnipräsenz alles schon Dagewesenen – eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit noch um ein Vielfaches beschleunigt hat – Originalität und Neuheit auch in der Musik zu selbständigen und schließlich alle anderen Beurteilungskategorien in den Schatten stellenden Werten wurden. Daß diese Perspektive vieles objektiv Große klein und unbedeutend erschienen ließ, während manche Belanglosigkeit im Schlagschatten dieser Beleuchtung epochale Dimensionen zu besitzen schien, war unvermeidlich. Ohne allen Kulturpessimismus darf man aber darüber hinaus feststellen, daß ganz allgemein die Situation des künstlerisch schöpferischen Menschen im Laufe des XIX. Jahrhunderts zunehmend schwieriger wurde. Das in dieser Form eigentlich neue Phänomen des „Spätbrufenen“ (Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, Anton Bruckner u.v.a.) ist nur eines der vielen Symptome, an denen sich diese Komplikation ablesen läßt. Das Neue und Problematische der Situation haben nur wenige unter den Großen so klar und so schmerzlich erkannt und empfunden wie Johannes Brahms.
Immer wieder wird an die Hypothek erinnert, die Schumanns Artikel „Neue Bahnen“ für den jungen Brahms bedeutet haben muß. Und in der Tat muß man zugeben, daß es für den zwanzigjährigen Komponisten sicher nicht leicht war, sich gewissermaßen als Erben Beethovens proklamiert zu sehen. Doch eigentlich drückt sich in diesem individuellen biographischen „Zufall“ die neue Qualität der allgemeinen Schaffensbedingungen nur in besonders symbolischer Sinnfälligkeit aus. Mit einem Seitenblick auf die weniger problematischen Naturen unter seinen Kollegen schreibt Brahms seinem Verleger einmal: „Für gewöhnlich wundere ich mich stets weniger, daß ich so faul, als daß die anderen so fleißig sein können.“ (an Fritz Simrock, April 1870). Im Schatten des „Riesen“ Beethoven wird er mehr als zwei Jahrzehnte um seine Erste Symphonie ringen müssen, die dann schon die Zeitgenossen als die „Zehnte“ empfanden. Obwohl das Schaffen Brahms´ nur einem sehr oberflächlichen Betrachter konservativ im Sinne von „rückwärtsgewandt“ erscheinen wird, ist doch die verinnerlichte Gegenwart des großen Vorgängers immer wieder deutlich zu spüren.
In ähnlicher Wiese wie in seinen Symphonien bezieht sich Brahms auch in seiner Kammermusik auf dieses Erbe. Wie er in seiner ersten Sonate für Klavier und Violoncello (e-moll, op.38) das in Beethovens letzter Cellosonate (op.102 Nr.2) entwickelte Modell zum Ausgangspunkt nimmt, so knüpft seine erste Violinsonate (G-Dur, op.78) unmittelbar an Beethovens letztes Werk dieser Gattung (G-Dur, op.96) an. Der Bezug ist hier noch um einiges offensichtlicher: Brahms verwendet die selbe Tonartenfolge wie Beethoven (G-Dur – Es-Dur – g-moll – G-Dur), und auch in Aufbau und Textur finden sich einige unüberhörbare Parallelen. Noch auffälliger sind aber die prononcierten Unterschiede zu Beethovens Partitur: das Wegfallen des Scherzos, die konsequente Weiterentwicklung der motivischen Ökonomie und die noch weiter gehende „Poetisierung“ des Textes – der letzte Satz ist sogar ganz explizit eine Meditation über zwei, schon 1873 komponierte Lieder („Regenlied“ op.59 Nr.3, und „Nachklang“ op.59 Nr.4, beide auf Texte von Brahms´ Freund und Landsmann Klaus Groth [1819-1899]), worauf sich der manchmal für das Werk verwendete Name „Regenliedsonate“ bezieht. Das Werk, das übrigens – zusätzliches Indiz für die oben skizzierte Problematik – wahrscheinlich schon den vierten Versuch des Komponisten in diesem Genre darstellt, entstand in den Sommern der Jahre 1878 und 1879 in Pörtschach am Wörthersee und wurde schon am 8. November 1879 in Bonn von dem Ehepaar Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier, und Robert Heckmann (1848-1891), Violine, uraufgeführt.
Die anderen beiden Sonaten sind Zwillingsschwestern: Brahms schuf beide Werke in dem so überaus ertragreichen Sommer 1886, den er am Thuner See in der Schweiz verbrachte und der ganz der Instrumententrias Klavier-Violine-Violoncello gehörte. Neben den beiden Violinsonaten entstanden zur gleichen Zeit das 3. Klaviertrio (c-moll, op.101), die zweite Cellosonate (F-Dur, op.99) und das Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester (a-moll, op.102). Die eine der beiden Sonaten, nämlich die zweite Violinsonate (A-Dur, op.100), wurde noch im selben Jahr aus der Taufe gehoben: Der Komponist selbst spielte sie mit Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893) am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal (jetzt Brahms-Saal) des Wiener Musikvereins. (Eben dieser Hellmesberger hatte ja schon im November 1862, wenige Wochen nach Brahms´ Ankunft in Wien, die Schumannsche Prophezeiung von 1853 erst auf die griffige Formel „Das ist der Erbe Beethovens!“ gebracht, ein Urteil, das er in späteren Jahren, als er darum bemüht war, im Streit zwischen „Brahmsianern“ und „Wagnerianern“ neutral zu erscheinen, damit zu entschuldigen pflegte, daß er vorher „zu viel kroatischen Wein“ getrunken habe.) Die „Wagnerianer“ bemächtigten sich der neuen Sonate sofort, indem sie ihr den Namen „Meistersinger-Sonate“ anhefteten – mit keiner besseren Begründung als der wirklich läppischen Übereinstimmung der ersten beiden Intervalle mit dem Beginn der Stolzing-Arie „Morgenlich leuchtend“. Brahms selbst hat bei anderer Gelegenheit einem Reminiszenzen-Jäger geantwortet, noch viel merkwürdiger als das „Zitat“ selbst sei doch wohl der Umstand, daß es jedem Esel auffalle. Wer ernsthaftere und erhellendere Bezüge in dem Werk sucht, wird sie in zahlreichen Selbstzitaten des Meisters finden: Da er die Sonate nach dem Zeugnis seines Biographen Max Kalbeck „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“, nämlich der Altistin Hermine Spies (1857-1893) schrieb, könnte man aus den zitierten Liedern so etwas wie einen „Brief in Tönen“ herauslesen; und es ist sicher kein Zufall, daß der Dichter, der Brahms dazu seine Worte leiht, wieder Klaus Groth ist („Wie Melodien zieht es…“ op.105 Nr.1 und „Komm bald!“ op.97 Nr.5).
Mit dem Schwesterwerk, der dritten Violinsonate (d-moll, op.108) ließ der Meister sich mehr Zeit. Erst im Oktober 1888 schickte Brahms das Manuskript den Herzogenbergs nach Berlin. Elisabet von Herzogenberg (1847-1892), deren Briefwechsel mit Brahms zu den berührendsten Dokumenten der deutschen Musikgeschichte zählt, regte den Komponisten dann noch zu einigen Änderungen an. In dieser definitiven Fassung wurde das Werk am 21. Dezember 1888 in Budapest von Brahms mit dem ungarischen Geiger und Joachim-Schüler Jenö Hubay (1858-1937) uraufgeführt. Wie oft bei unmittelbar benachbarten Werken der gleichen Gattung fällt zuallererst die antithetische Stimmung des Sonatenpaares auf: der sonnig-träumerischen Welt der A-Dur-Sonate steht hier eine wildzerklüftete, wetterdurchleuchtete Landschaft gegenüber. Daß die Dramatik dieses Werkes auch einen bestimmten Interpretentyp verlangt, deutete Brahms in der Widmung an – übrigens der einzigen „offiziellen“ Dedikation, die er einer Violinsonate angedeihen ließ: die Sonate ist Hans von Bülow (1830-1894) zugeeignet, der 1854 (nach dem Komponisten) der erste Pianist gewesen war, der ein Brahms-Werk öffentlich aufgeführt hatte.
Auch in dieser Geste manifestiert sich, daß Brahms keine prinzipielle Berührungsscheu gegenüber dem Wagner-Kreis hatte – der „Krieg“ wurde von den Aposteln sehr viel heftiger geführt als von den Meistern selbst. Dennoch sollte man die historische Bedeutung dieses Konfliktes nicht unterschätzen: zum ersten Mal in der Musikgeschichte stehen wir hier zwei fundamental unterschiedlichen Idiomen und Ideologien gegenüber, die sich beide explizit auf das klassische Erbe und im besonderen auf Beethoven berufen. Im Unterschied zu den national, sozial oder persönlich bedingten Konflikten, die bis dahin die ästhetische Diskussion über die Musik weitgehend bestimmt hatten, haben wir es nun mit einem tieferreichenden und folgenschwereren Streit zu tun, von dem man den Ausgang jenes Phänomens herleiten kann, das vielen Menschen unseres Jahrhunderts dann als die „babylonische Sprachenverwirrung“ der Musik erscheinen mußte.

© by Claus-Christian Schuster

Brahms: Sonate Nr.1, G-Dur, op.78

Johannes Brahms

* 7. Mai 1833
† 3. April 1897

Sonate Nr.1, G-Dur, op.78

Komponiert:Pörtschach, Sommer 1878 u. 1879
Uraufführung:Bonn, Goldener Stern, 8. September 1879
Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier
Robert Heckmann (1848-1891), Violine
Erstausgabe:Simrock, Berlin, 1879

KOMPONIEREN NACH BEETHOVEN
DIE DREI SONATEN FÜR KLAVIER UND VIOLINE VON JOHANNES BRAHMS

Die drei Violinsonaten von Johannes Brahms (1833-1897) gehören so sehr zum Allgemeingut der Kammermusikgemeinde der ganzen Welt, daß nichts überflüssiger erscheint, als sie im üblichen Sinne „vorzustellen“. Sie regen aber in besonderer Weise zum Nachdenken über den musikgeschichtlichen Prozeß, in dem sie entstanden sind, an. Freilich ist das Feld, das sich hier auftut, für den hier gebotenen Rahmen viel zu weit. Daher bitte ich Sie, mit den folgenden Gedankenskizzen vorliebzunehmen.
Wie in fast allen Genres der Musik läßt sich auch an der Gattung „Sonate für Violine und Klavier“ (die bis an das Ende des XIX. Jahrhunderts fast immer unter der Bezeichnung „Sonate für Klavier und Violine“ figurierte) über den Zeitraum der letzten zweihundert Jahre hinweg eine stetige quantitative Abnahme der Produktion feststellen. So stehen den insgesamt 38 Violinsonaten Mozarts (von denen immerhin 19 in den gängigen Ausgaben berücksichtigt werden) und 10 Werken von Beethoven nur mehr je drei Sonaten von Schumann und Brahms gegenüber, während die meisten bedeutenden Komponisten unseres Jahrhunderts überhaupt nur ein bis zwei Kompositionen dieser Art hinterlassen haben (Ravel, Bartòk, Prokofiev, Shostakovitch usw.). Es ist bezeichnend, daß die Ausnahmen (etwa Max Reger mit seinen 9 Violinsonaten) sofort in den Verdacht geraten, „Vielschreiber“ zu sein, und im Konzertleben zu einem Schattendasein verurteilt werden.
Natürlich spiegelt sich in diesem Phänomen nicht etwa ein Versiegen menschlicher Kreativität wider – wenn auch zugestanden werden muß, daß die technisch-industrielle Revolution einen nicht unbedeutenden Teil des schöpferischen Potentials der Menschheit in anderen Schaffensgebieten gebunden hat. Doch die indirekten Folgen dieser Revolution erwiesen sich für die musikalische Produktion als viel folgenschwerer: Einerseits entwuchs die Musik ihrem sozialen Selbstverständnis als „Gebrauchsmusik“, deren gedachter Wirkungshorizont kaum mehr als einige Jahre betrug, und emanzipierte sich als eine autonome Kunstleistung, deren Anspruch das hic et nunc weit hinter sich ließ; daraus ergibt sich wiederum die Forderung nach der „Einmaligkeit“ des einzelnen Werkes, durch die sich die früher übliche „Serienproduktion“ sozusagen von selbst verbot. (Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist etwa, daß Beethovens op.12 und op.30 noch je drei Sonaten umfaßt und op.23-24 immerhin noch als Diptychon konzipiert ist, während die letzten beiden Sonaten einzeln erschienen – eine Erscheinung, die sich im wesentlichen bei allen vergleichbaren Werkkategorien Beethovens wiederfindet.) Andererseits führte die – ebenfalls technisch und wirtschaftlich bedingte – Entwicklung des Musiklebens (Konzertorganisation, Verlagswesen usw.) zu einer allmählichen „Historisierung“ oder „Musealisierung“ der Rezeption, so daß der Komponist der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts viel fühlbarer sup specie aeternitatis komponierte als seine Kollegen der vorangegangenen Generationen: Der Bezugspunkt war nicht mehr das rezente Musikangebot einer überschaubaren Region, sondern das gesamte Musikschaffen innerhalb eines sich kontinuierlich erweiternden historischen und geographischen Horizontes. Analog dem Goetheschen Begriff der „Weltliteratur“ nahm so – eigentlich unausgesprochen – die Idee einer „Weltmusik“ allmählich Gestalt an. Es liegt auf der Hand, daß (parallel der Entwicklung in den anderen Künsten) angesichts der sich so anbahnenden Omnipräsenz alles schon Dagewesenen – eine Entwicklung, die sich in unserer Zeit noch um ein Vielfaches beschleunigt hat – Originalität und Neuheit auch in der Musik zu selbständigen und schließlich alle anderen Beurteilungskategorien in den Schatten stellenden Werten wurden. Daß diese Perspektive vieles objektiv Große klein und unbedeutend erschienen ließ, während manche Belanglosigkeit im Schlagschatten dieser Beleuchtung epochale Dimensionen zu besitzen schien, war unvermeidlich. Ohne allen Kulturpessimismus darf man aber darüber hinaus feststellen, daß ganz allgemein die Situation des künstlerisch schöpferischen Menschen im Laufe des XIX. Jahrhunderts zunehmend schwieriger wurde. Das in dieser Form eigentlich neue Phänomen des „Spätbrufenen“ (Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer, Anton Bruckner u.v.a.) ist nur eines der vielen Symptome, an denen sich diese Komplikation ablesen läßt. Das Neue und Problematische der Situation haben nur wenige unter den Großen so klar und so schmerzlich erkannt und empfunden wie Johannes Brahms.
Immer wieder wird an die Hypothek erinnert, die Schumanns Artikel „Neue Bahnen“ für den jungen Brahms bedeutet haben muß. Und in der Tat muß man zugeben, daß es für den zwanzigjährigen Komponisten sicher nicht leicht war, sich gewissermaßen als Erben Beethovens proklamiert zu sehen. Doch eigentlich drückt sich in diesem individuellen biographischen „Zufall“ die neue Qualität der allgemeinen Schaffensbedingungen nur in besonders symbolischer Sinnfälligkeit aus. Mit einem Seitenblick auf die weniger problematischen Naturen unter seinen Kollegen schreibt Brahms seinem Verleger einmal: „Für gewöhnlich wundere ich mich stets weniger, daß ich so faul, als daß die anderen so fleißig sein können.“ (an Fritz Simrock, April 1870). Im Schatten des „Riesen“ Beethoven wird er mehr als zwei Jahrzehnte um seine Erste Symphonie ringen müssen, die dann schon die Zeitgenossen als die „Zehnte“ empfanden. Obwohl das Schaffen Brahms´ nur einem sehr oberflächlichen Betrachter konservativ im Sinne von „rückwärtsgewandt“ erscheinen wird, ist doch die verinnerlichte Gegenwart des großen Vorgängers immer wieder deutlich zu spüren.
In ähnlicher Wiese wie in seinen Symphonien bezieht sich Brahms auch in seiner Kammermusik auf dieses Erbe. Wie er in seiner ersten Sonate für Klavier und Violoncello (e-moll, op.38) das in Beethovens letzter Cellosonate (op.102 Nr.2) entwickelte Modell zum Ausgangspunkt nimmt, so knüpft seine erste Violinsonate (G-Dur, op.78) unmittelbar an Beethovens letztes Werk dieser Gattung (G-Dur, op.96) an. Der Bezug ist hier noch um einiges offensichtlicher: Brahms verwendet die selbe Tonartenfolge wie Beethoven (G-Dur – Es-Dur – g-moll – G-Dur), und auch in Aufbau und Textur finden sich einige unüberhörbare Parallelen. Noch auffälliger sind aber die prononcierten Unterschiede zu Beethovens Partitur: das Wegfallen des Scherzos, die konsequente Weiterentwicklung der motivischen Ökonomie und die noch weiter gehende „Poetisierung“ des Textes – der letzte Satz ist sogar ganz explizit eine Meditation über zwei, schon 1873 komponierte Lieder („Regenlied“ op.59 Nr.3, und „Nachklang“ op.59 Nr.4, beide auf Texte von Brahms´ Freund und Landsmann Klaus Groth [1819-1899]), worauf sich der manchmal für das Werk verwendete Name „Regenliedsonate“ bezieht. Das Werk, das übrigens – zusätzliches Indiz für die oben skizzierte Problematik – wahrscheinlich schon den vierten Versuch des Komponisten in diesem Genre darstellt, entstand in den Sommern der Jahre 1878 und 1879 in Pörtschach am Wörthersee und wurde schon am 8. November 1879 in Bonn von dem Ehepaar Marie Heckmann-Hertwig (1843-1890), Klavier, und Robert Heckmann (1848-1891), Violine, uraufgeführt.
Die anderen beiden Sonaten sind Zwillingsschwestern: Brahms schuf beide Werke in dem so überaus ertragreichen Sommer 1886, den er am Thuner See in der Schweiz verbrachte und der ganz der Instrumententrias Klavier-Violine-Violoncello gehörte. Neben den beiden Violinsonaten entstanden zur gleichen Zeit das 3. Klaviertrio (c-moll, op.101), die zweite Cellosonate (F-Dur, op.99) und das Doppelkonzert für Violine, Cello und Orchester (a-moll, op.102). Die eine der beiden Sonaten, nämlich die zweite Violinsonate (A-Dur, op.100), wurde noch im selben Jahr aus der Taufe gehoben: Der Komponist selbst spielte sie mit Joseph Hellmesberger sen. (1828-1893) am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal (jetzt Brahms-Saal) des Wiener Musikvereins. (Eben dieser Hellmesberger hatte ja schon im November 1862, wenige Wochen nach Brahms´ Ankunft in Wien, die Schumannsche Prophezeiung von 1853 erst auf die griffige Formel „Das ist der Erbe Beethovens!“ gebracht, ein Urteil, das er in späteren Jahren, als er darum bemüht war, im Streit zwischen „Brahmsianern“ und „Wagnerianern“ neutral zu erscheinen, damit zu entschuldigen pflegte, daß er vorher „zu viel kroatischen Wein“ getrunken habe.) Die „Wagnerianer“ bemächtigten sich der neuen Sonate sofort, indem sie ihr den Namen „Meistersinger-Sonate“ anhefteten – mit keiner besseren Begründung als der wirklich läppischen Übereinstimmung der ersten beiden Intervalle mit dem Beginn der Stolzing-Arie „Morgenlich leuchtend“. Brahms selbst hat bei anderer Gelegenheit einem Reminiszenzen-Jäger geantwortet, noch viel merkwürdiger als das „Zitat“ selbst sei doch wohl der Umstand, daß es jedem Esel auffalle. Wer ernsthaftere und erhellendere Bezüge in dem Werk sucht, wird sie in zahlreichen Selbstzitaten des Meisters finden: Da er die Sonate nach dem Zeugnis seines Biographen Max Kalbeck „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“, nämlich der Altistin Hermine Spies (1857-1893) schrieb, könnte man aus den zitierten Liedern so etwas wie einen „Brief in Tönen“ herauslesen; und es ist sicher kein Zufall, daß der Dichter, der Brahms dazu seine Worte leiht, wieder Klaus Groth ist („Wie Melodien zieht es…“ op.105 Nr.1 und „Komm bald!“ op.97 Nr.5).
Mit dem Schwesterwerk, der dritten Violinsonate (d-moll, op.108) ließ der Meister sich mehr Zeit. Erst im Oktober 1888 schickte Brahms das Manuskript den Herzogenbergs nach Berlin. Elisabet von Herzogenberg (1847-1892), deren Briefwechsel mit Brahms zu den berührendsten Dokumenten der deutschen Musikgeschichte zählt, regte den Komponisten dann noch zu einigen Änderungen an. In dieser definitiven Fassung wurde das Werk am 21. Dezember 1888 in Budapest von Brahms mit dem ungarischen Geiger und Joachim-Schüler Jenö Hubay (1858-1937) uraufgeführt. Wie oft bei unmittelbar benachbarten Werken der gleichen Gattung fällt zuallererst die antithetische Stimmung des Sonatenpaares auf: der sonnig-träumerischen Welt der A-Dur-Sonate steht hier eine wildzerklüftete, wetterdurchleuchtete Landschaft gegenüber. Daß die Dramatik dieses Werkes auch einen bestimmten Interpretentyp verlangt, deutete Brahms in der Widmung an – übrigens der einzigen „offiziellen“ Dedikation, die er einer Violinsonate angedeihen ließ: die Sonate ist Hans von Bülow (1830-1894) zugeeignet, der 1854 (nach dem Komponisten) der erste Pianist gewesen war, der ein Brahms-Werk öffentlich aufgeführt hatte.
Auch in dieser Geste manifestiert sich, daß Brahms keine prinzipielle Berührungsscheu gegenüber dem Wagner-Kreis hatte – der „Krieg“ wurde von den Aposteln sehr viel heftiger geführt als von den Meistern selbst. Dennoch sollte man die historische Bedeutung dieses Konfliktes nicht unterschätzen: zum ersten Mal in der Musikgeschichte stehen wir hier zwei fundamental unterschiedlichen Idiomen und Ideologien gegenüber, die sich beide explizit auf das klassische Erbe und im besonderen auf Beethoven berufen. Im Unterschied zu den national, sozial oder persönlich bedingten Konflikten, die bis dahin die ästhetische Diskussion über die Musik weitgehend bestimmt hatten, haben wir es nun mit einem tieferreichenden und folgenschwereren Streit zu tun, von dem man den Ausgang jenes Phänomens herleiten kann, das vielen Menschen unseres Jahrhunderts dann als die „babylonische Sprachenverwirrung“ der Musik erscheinen mußte.

© by Claus-Christian Schuster

Shostakovitch: Sonate für Violoncello und Klavier, d-moll, op.40

Dmitrij Shostakovitch

* 12. September 1906
† 09. August 1975

Sonate für Violoncello und Klavier, d-moll, op.40

Komponiert:Moskva – Sankt-Peterburg, 14. August – 19. September 1934
Widmung:Viktor L´vovic Kubackij (1891-1970)
Uraufführung:Sankt-Peterburg („Leningrad“), Kleiner Saal der Philharmonie, 25. Dezember 1934
Dmitrij Schostakowitsch, Klavier
Viktor L´vovic Kubackij, Violoncello
Erstausgabe:Triton, Sankt-Peterburg (“Leningrad”), 1935

Den Frühsommer 1934 verbrachte Schostakowitsch im Erholungsheim des Bol´shoj Teatr in Polenovo an der Oka. In diesem Ort, der früher Borok hieß, hatte der große russische Maler Vasilij Polenov (1844-1927), einer der Mitstreiter der „Peredvizhniki“, von 1892 bis zu seinem Tode gelebt und gearbeitet; jetzt, nach der Enteignung des Besitzes und der von Stalin angeordneten Deportation von Polenovs Kindern, hatte man hier eine Ferienstation eingerichtet.
Rund einhundertzwanzig Kilometer südlich von Moskau liegt Polenovo mitten in einer dem russischen Herzen besonders teuren Landschaft, etwa auf halbem Weg zwischen Tschechows Wohnort Melichovo und Jasnaja Poljana, dem Landgut Lev Tolstojs. Es gibt in dieser Gegend kaum einen Ort, der nicht in irgendeiner Verbindung mit dem Leben eines großen Malers, Dichters oder Komponisten stünde. Dem unspektakulären, epischen Reiz dieser Landschaft erlag auch Sergej Prokofjev, der ein Jahr später als Schostakowitsch Gast in Polenovo war und hier an „Romeo und Julia“ (op.64) arbeitete und die „Detskaja muzyka“ („Kindermusik“) op.65 schrieb, in der der Zauber dieser ländlichen Idylle unüberhörbar nachklingt.
1934 war unter den Gästen zusammen mit Schostakowitsch auch Viktor L´vovic Kubackij, der bis 1921 Solocellist des Bol´shoj Teatr gewesen war und 1920 eines der ersten sowjetischen Streichquartette, das Stradivarius-Quartett, gegründet hatte. Er war dem Komponisten nicht unbekannt: Schostakowitsch hatte nicht lange zuvor in der Wohnung von Viktors Vater Lev, der ebenfalls lange Jahre als Cellist und Dirigent am Bol´shoj Teatr gewirkt hatte, den Künstlern des Theaters seine im Dezember 1932 beendete Oper „Ledi Makbet Mcenskogo uezda“ („Die Lady Macbeth des Mzensker Kreises“) vorgespielt – und die Direktion hatte daraufhin die Aufführung des Werkes für Anfang 1935 in Aussicht genommen. In Polenovo kamen Viktor Kubackij und Schostakowitsch einander näher, und als Schostakowitsch nach zweimonatigem Aufenthalt im August nach Moskau fuhr, hatte er dem Freund die Komposition einer Cellosonate versprochen. Noch in Moskau nahm er das Werk in Angriff, und schon fünf Wochen später, bald nach seiner Rückkehr nach Sankt-Peterburg, konnte er die Sonate beenden.

Eigentlich hätte der Sommer ja der Komposition einer Opernfarce gewidmet werden sollen; aber die Arbeit daran war schon in Polenovo nach kurzer Zeit ins Stocken geraten. Ein anderes, weit ehrgeizigeres Projekt befand sich damals gerade erst in der Anfangsphase: die Komposition der IV. Symphonie. Daß Schostakowitsch diese Arbeit unterbrach, um die Cellosonate zu schreiben, hat sicher tiefere Gründe als das Kubackij gegebene Versprechen. Die IV. Symphonie sollte das Schmerzenskind des Komponisten werden: Nachdem er das Werk 1936, am Höhepunkt der ersten gegen ihn gerichteten stalinistischen Denunziationscampagne, schließlich beendete, wurde er gezwungen, auf die – schon fixierte und einstudierte – Uraufführung zu verzichten; erst fünfundzwanzig Jahre später durfte Kirill Kondrashin die Symphonie aus der Taufe heben.

Es ist wohl nicht zu bestreiten, daß die frische Erinnerung an Polenovo und die dort – etwa bei der Lektüre der Erzählungen Turgenevs – besonders lebendig heraufbeschworenen Bilder in der Cellosonate Spuren hinterlassen haben; aber den Augen des Komponisten wird wohl nicht entgangen sein, was hinter der scheinbaren Idylle kaum zu verbergen war: und man sollte gewärtig sein, auch die Spuren dieser Einsichten hier wiederzufinden.

Da Schostakowitsch in den Jahren 1933/34, vor allem nach den triumphalen und fast gleichzeitigen Petersburger (22. Jänner 1934) und Moskauer (24. Jänner 1934) Premieren der „Lady Macbeth“, im Zenith seines jungen Ruhmes stand, haben etliche Kommentatoren den gegenüber den Kühnheiten dieser Oper deutlich veränderten Ton der Werke dieser Zeit – der Präludien op.34, des Klavierkonzertes op.35 und unserer Sonate – als Ausdruck vorauseilenden Gehorsams betrachtet: Schostakowitsch habe sich mit einer „gemäßigten“, „allgemeinverständlichen“, ja „konservativen“ Tonsprache den Positionen der staatlich verordneten Ästhetik angenähert. Der rasche Erfolg der Sonate, um deren Aufführung die russischen Cellisten beim Komponisten Schlange standen, und die sofort auch im Ausland von Stars wie Pjatigorskij und Fournier ins Repertoire genommen wurde, hat ein übriges dazu beigetragen, daß dieses Werk bis heute weithin als unproblematisch und nicht besonders tiefschürfend gilt.

Wie grundfalsch diese Einschätzung ist, wird jeder erfahren können, der sich etwas eingehender mit dieser Partitur beschäftigt. Wer den provokanten, bissigen Schostakowitsch der Oper „Nos“ („Die Nase“, op.15, 1927/28) sucht, wird hier freilich nicht fündig. Der Komponist hat seine alles andere als konventionelle Aussage in eine Ebene verlegt, deren Erfassung genaues Hinhören voraussetzt. Einem Zuhörer, der diese Herausforderung annimmt, wird sich der erste Satz des Werkes (Allegro non troppo, im Autograph: Moderato) nicht als das balladesk-sentimentale Stück darstellen, für das es oft genommen wird. Er wird hinter dem, was einer nach formalen Schemata lechzenden Musikwissenschaft mit Kennermiene „Spiegelreprise“ zu benennen gefällt (die spiegelbildliche Umkehr der Abfolge von Haupt- und Nebensatz in der Reprise), etwas völlig anderes erkennen: nämlich die erbarmungslose Deformation und unumkehrbare Entseelung des Hauptthemas. Denn was von diesem Hauptthema, das gewiß eine der eingängigsten Trouvaillen des Melodikers Schostakowitsch ist, am Schluß des Satzes in der Leichenstarre des Largo übrigbleibt, ist wirklich nur mehr eine verlassene Hülle. Vor diesem Hintergrund gewinnt dann auch das Seitenthema, das dem Unbeteiligten süßlich und gefällig erscheinen mag, eine Dimension der Klage, die es der Region des Rührseligen ein für allemal entrückt. Das abschließende Ostinato kündigt schon von ferne den Starrkrampf des Englischhorns am Ende des zyklopischen ersten Satzes der IV. Symphonie an – ein Indiz mehr gegen die behauptete „Harmlosigkeit“ dieser Musik. (Mehr als vierzig Jahre später wird übrigens ein solches Quarten-Ostinato, als letztes Ereignis in der sein Œuvre beschließenden Bratschensonate op.147, Schostakowitschs letztes Wort sein.)

Im darauffolgenden Scherzo (Allegretto, im Autograph: Moderato con moto, a-moll) scheint diese Tragödie keine Spuren hinterlassen zu haben, oder vielmehr: Dieses Scherzo kennt gar keine andere Aufgabe, als jede Spur dieses Geschehens für immer zu verwischen. Das funebre Quartmotiv, mit dem das Hauptthema des ersten Satzes zu Grabe getragen wurde, wird hier (trotz der anderen Tonart notenident!) in atemlos bemühter Geschäftigkeit zu Skalenfragmenten umgekehrt, über denen sich ein holzschnittartiges „folkloristisches“ Tanzthema austobt. Das von Flageolett-Glissandi und Arpeggi begleitete Trio (D-Dur) versucht, aus diesen manischen Skalenfragmenten eine bukolische Idylle hervorzuzaubern, durch die eine Zinnsoldatenparade und für einen Augenblick auch eine Sennerin als schattenhafte Irrläufer geistern (auch tonartlich – As-Dur vor dem D-Dur-Hintergrund – durch den charakteristischen Tritonusabstand als solche gebrandmarkt). In der ganz gerafften und völlig unvermittelten Coda erscheint dann dieses „bukolische“ Thema plötzlich bis auf die Zähne bewaffnet. (Die Schlußgeste, wieder eine abrupte und willkürliche Tritonusrückung, diesmal von Es-moll nach A-moll, wird Schostakowitsch am Schluß des analogen, aber ungleich radikaleren Satzes der Violinsonate spiegelbildlich wiederholen.)

Doch alle Mühen der Verdrängung erweisen sich als vergeblich: Mit dem Largo (h-moll) wird nicht nur äußerlich die Gangart der Beisetzung des ersten Satzes wieder aufgenommen. Bemerkenswert ist allein schon die gezielte Anwendung des H-moll-Topos als eines elegischen Archetyps. Das klagende Recitativ, mit dem der Satz beginnt, wird zweimal wiederholt, das erste Mal wieder um das aussagekräftige Intervall eines Tritonus, das zweite Mal um eine kleine Terz nach unten transponiert. Dazwischen tritt ein achttaktiges Thema, das – über einem die Skalenfragmente des Scherzos in unendlich gedehnte, schleppende Schritte verwandelnden Baß – um ein punktiertes Dreitonmotiv kreist. Dieses Motiv gliedert auch die Fortsetzung des Gesanges in das Thema paraphrasierende „Variationen“ (drei davon vor der ersten, zwei vor der zweiten Wiederholung des Recitativs). Diese eigenwillige statische Form entspricht vollkommen dem Inhalt des Satzes, dessen Sinn sich nur im Rückblick auf das Geschehen des Kopfsatzes erschließt.

Das Finale des Werkes (Allegro, im Autograph: Allegretto) scheint, befreit von dessen manischen Zügen, die burleske Stimmung des Scherzos weiterführen zu wollen. Es präsentiert sich als ein Kettenrondo der Gestalt ABACADA-Coda. Die frühklassische Modelle parodierende Textur des Ritornells (A), der spöttische Ton der hier unangefochten dominierenden Marschelemente sowie schließlich die einen vulgären Foxtrot evozierende zweite Episode (C) – all das schafft eine Atmosphäre spielerischer Distanz und artifizieller Stilisierung. Gestört wird diese Eindimensionalität durch die wirkungsvoll placierten Eckepisoden (B, D), die dieser fast rokokohaften Nonchalance Bilder von roher Kraft entgegensetzen; vor allem die letzte dieser Episoden (D) wirkt entschieden wie ein Fremdkörper und enthält in nuce ein wenig von der barbarischen Frenetik, auf der die unwiderstehliche Wirkung des berühmten Presto-Fugatos im ersten Satz der IV. Symphonie beruht.

Wie der Komponist selbst sein Werk einschätzte, erhellt vielleicht am besten aus der Tatsache, daß er es – zusammen mit der Violinsonate und der damals erst zu schreibenden Bratschensonate, die sein letztes Werk wurde (op.147) – im Mai 1975 für den zur Eröffnung der folgenden Saison der Petersburger Philharmonie geplanten Autorenabend auswählte, den er selbst nicht mehr erleben sollte.

© by Claus-Christian Schuster