Max Bruch
* 06. Jänner 1838
† 20. Oktober 1920
Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell, c-moll, op.5
Komponiert: | Köln, 1857 |
Widmung: | Ferdinand David (1810-1873) und Friedrich Grützmacher (1832-1903) |
Uraufführung: | Köln, Hotel Disch, 4. November 1857 Max Bruch, Klavier Julius Grunwald (1834-1863), Violine Bernhard Breuer (1808-?), Violoncello |
Erstausgabe: | Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1858 |
Die beiden Kinder des Polizeijuristen August Bruch (1799-1861) und
seiner Frau Wilhelmine, geb. Almenräder (1799-1867), zeigten schon sehr
früh ausgeprägtes musikalisches Talent. Von der Mutter, deren Erbteil
diese Gabe ohne Zweifel war – ihr Vater und ihre beiden Brüder waren
1812 Gründungsmitglieder der Kölner Musikalischen Gesellschaft gewesen,
und sie selbst hatte sich in ihrer Jugend als Gesangssolistin an den
Rheinischen Musikfesten einen Namen gemacht – erhielten Max und seine um
drei Jahre jüngere Schwester Mathilde („Till“, 1841-1914) ersten und
gut fundierten Unterricht. Der Mutter ist auch die erste erhaltene
Komposition des Sohnes gewidmet, ein Geburtstagslied aus dem Jahre 1847.
Etwa um diese Zeit entschied sich der kleine Max zwischen seinen beiden
rivalisierenden Talenten – der Malerei und der Musik – zugunsten der
letzteren.
Nach dem Revolutionsjahr 1848/49 mußte der Vater, der inzwischen zum
königlichen Polizeirat avanciert war, zu seinem größten Mißvergnügen
zeitweise das Amt eines Pressezensors ausüben. Max aber wurde 1849 der
musikalischen Obhut eines Studienfreundes des Vaters, des Bonner
Universitätsmusikdirektors Heinrich Breidenstein (1796-1876)
überantwortet. Im April 1850 übersiedelte Ferdinand Hiller von
Düsseldorf (wo Robert Schumann seinen Platz einnehmen sollte) nach Köln,
um hier die Nachfolge Heinrich Dorns anzutreten – der ehemalige Lehrer
Robert Schumanns und Clara Wiecks war an die Berliner Oper berufen
worden. Schon wenige Tage nach Hillers Ankunft in Köln stellte ihm
August Bruch seinen zwölfjährigen Sohn vor. Aus Hillers Tagebüchern läßt
sich ablesen, welch großen Anteil der neue städtische Musikdirektor und
Konservatoriumsleiter an dem vielverprechenden Knaben nahm. Von den
meisten der heute verschollenen Jugendkompositionen Bruchs wissen wir
nur aus dieser Quelle. 1852 sorgte Hiller dafür, daß die Frankfurter
Mozart-Stiftung ein Streichquartett des Vierzehnjährigen mit einem Preis
auszeichnete, der ein vierjähriges Stipendium von jährlich 400 Gulden
einschloß. Mit dieser Unterstützung nahm Max Bruch nun zwischen 1853 und
1857 bei Ferdinand Hiller Kompositionsunterricht, während seine
pianistische Weiterbildung von Carl Reinecke (1824-1910) und Ferdinand
Breunung (1830-1883) beaufsichtigt wurde.
Obwohl Bruchs herausragende pianistischen Fähigkeiten immer Bewunderung
hervorriefen, stand er dem Klavier mit zunehmender Skepsis gegenüber,
die sich mit der Zeit zu einer heftigen Aversion auswuchs: In Briefen an
seinen Verleger Fritz Simrock sollte er das Instrument später als „das
unmelodische Tastending“ oder „den öden Klapperkasten“ schmähen, um
schließlich den folgenden kühnen Wunsch zu formulieren:
„Könnte man doch einmal ein großes Autodafé von 10000 bis 20000
Klavieren veranstalten, damit diese Plage des 19. Jahrhunderts, wenn
auch nicht ausgerottet, doch wenigstens auf ein erträgliches Maß
zurückgeführt werde!“
Der junge Bruch muß freilich noch etwas milder über sein Instrument
gedacht haben – trotzdem fällt auf, daß er schon in seiner ersten
Schaffensperiode das Klavier lieber als Ensembleinstrument denn als
Soloinstrument verwendet. Leider sind mit Ausnahme unseres Trios alle
bis 1858 enstandenen Klavierkammermusikwerke – darunter drei weitere
Klaviertrios und ein Klavierquintett – verschollen.
Am Ende seiner Kölner Lehrjahre stellte der junge Komponist seinen
Landsleuten in zwei Abschiedsveranstaltungen einen Querschnitt durch
sein bisheriges Schaffen vor: Am 4. November 1857 brachte er im Festsaal
des Kölner Nobelhotels Disch eine ganze Reihe seiner Kompositionen,
darunter auch unser Klaviertrio, zur Aufführung, und am 14. Jänner 1858,
wenige Tage nach seinem zwanzigsten Geburtstag, erlebte sein Opus 1,
die Vertonung des Goetheschen Singspiels Scherz, List und Rache, am
Kölner Stadttheater eine durchaus erfolgreiche öffentliche Premiere.
Daß Bruch – unter Hillers Enfluß – ausgerechnet die Neuvertonung des
Goetheschen Sujets aus dem Jahre 1784 zu seinem programmatischen Opus 1
erkor, ist in mancher Hinsicht bezeichnend: Goethe hatte ja, zwei Jahre
vor seiner ersten Italienreise, den Plan zu einer leichten Spieloper in
italienischer Manier unter dem Eindruck der Korrespondenz mit dem damals
gerade in Süditalien weilenden Komponisten Philipp Christoph Kayser
(1755-1823) sowie des Weimarer Wirkens der fast ausschließlich die Opera
buffa pflegenden Schauspieltruppe von Joseph Bellomo entwickelt.
Kaysers Vertonung, die er Goethe im November 1787 in Rom vorlegte, hatte
sich als nicht lebensfähig erwiesen – und auf die Gründe für dieses
Scheitern sollte Hiller in der zwei Jahre vor seinem Tode erschienenen
Studie Goethes musikalisches Leben (Köln 1883) noch einmal ausführlich
zurückkommen. Daß Hiller, der – ebenso wie sein Duzfreund Mendelssohn –
in Weimar (1825-1827) noch mit Goethe verkehren konnte, seinen
Schützling gerade auf diese Bahn wies, nimmt nicht wunder. (Unter den
verlorenen Kompositionen aus Bruchs Jugendzeit findet sich übrigens auch
eine Vertonung von Goethes „Schweizerstück“ Jeri und Bätely.)
Allerdings läßt sich diese Bruch in die Nachfolge von Mendelssohn und
Hiller stellende Goethe-Affinität nicht allein mit dem unmittelbaren
Einfluß des Lehrers erklären: Nach dem Tod von Bruchs Schwiegertochter
tauchte 1968 ein bis dahin unbekanntes Septett (für Klarinette, Horn,
Fagott, zwei Violinen, Violoncello und Kontrabaß) auf, das mit dem 28.
August 1849 datiert und ganz offensichtlich als Hommage zu Goethes
hundertstem Geburtstag gedacht war – das früheste erhaltene
Kammermusikwerk Bruchs, verfaßt im Jahr vor seiner ersten Begegnung mit
Hiller.
Aber wie fest der junge Bruch auch in der „klassischen“ Tradition einer
sich am „italienischen Goethe“ orientierenden Ästhetik verankert war, so
zeigt doch schon sein Frühwerk recht verräterische Verwerfungen (die
man nur zur Vermeidung eines allzu billigen Kalauers nicht „Bruchlinien“
nennen kann). Das hängt ohne Zweifel mit den merklich erschwerten
Schaffensbedingungen der Zeit zusammen. Gerade in den Jahren nach
1848/49 spitzte sich die Diskussion musikästhetischer Fragen in einer
Weise zu, welche die stilistischen Kontroversen der Vergangenheit
rückblickend als idyllisches Geplänkel erscheinen lassen konnte. Dieses
im gesamten deutschen Sprachraum nachweisbare Phänomen spiegelte sich
selbstverständlich auch in Bruchs engerer Heimat wieder: 1850 hatte
Ludwig Bischoff (1794-1867) die in Köln erscheinende Rheinische
Musik-Zeitung (ab 1853 Niederrheinische Musik-Zeitung) gegründet, deren
erklärtes Ziel es war, die Traditionen der „klassischen Kunst“ gegen die
Zumutungen der Zeitgenossen zu verteidigen. Dieser Abwehrkampf richtete
sich durchaus nicht nur gegen die Symbolfiguren der „Zukunftsmusik“
(Liszt, Wagner, Berlioz), sondern mit nicht geringerer Vehemenz auch
gegen deren (vermeintliche) Antipoden – etwa gegen Brahms und Verdi.
Bischoffs Sicht der Musikgeschichte stimmte in vielen Punkten mit der
seiner einflußreichen Kollegen in anderen Musikzentren überein; Eduard
Hanslicks 1854 in Leipzig erschienener programmatischer Schrift Vom
musikalisch Schönen, die den vielsagenden Untertitel Ein Beitrag zur
Revision der Ästhetik der Tonkunst trug, gelang es, dieser ganzen
musikästhetischen Richtung zumindest den Anschein klar umrissener
Konturen und Inhalte zu geben.
Die (wahrscheinlich von Ludwig Bischoff selbst verfaßte) Kritik der
Uraufführung unseres Trios artikuliert – hinter allem gönnerhaften
Wohlwollen – den normativen Anspruch, mit dem man einem Kunstwerk zu
begegnen pflegte, mit unüberbietbarer Deutlichkeit:
„Am 4. des Monats gab Herr [Max] Bruch mit Unterstützung der Herren
[Julius] Grunwald, B[ernhard] Breuer, E. Koch, M. Dumont-Fier, W. Hülle
und einer zahlreichen Chorvereinigung von Dilettanten aus den
verschiedenen Gesangsvereinen eine Soirée im Hotel Disch. Außer der
Sonate in E-Moll op.90 von Beethoven, welche der Concertgeber recht gut
spielte, waren sämtliche Musikstücke eigene Compositionen.
Die Soirée begann mit einem Trio für Pianoforte, Violine und Violoncell,
das uns in seiner früheren Form mehr angesprochen hat als in seiner
jetzigen, wo das etwas lange Adagio den ersten Satz bildet, dem sich
dann das recht hübsche Scherzo und ein feuriges Finale anreihen. Dem
Eindruck des ersten Satzes, der übrigens recht schöne Stellen enthält,
schadete es offenbar, daß die Zuhörer nicht recht wußten, was sie daraus
machen sollten, indem ein Anfangssatz in so langsamem Tempo und solcher
Ausdehnung als erster, also Hauptsatz eines Trio´s etwas Unerwartetes
war. Wir können diese Form nicht billigen, und wünschen aufrichtig, daß
der talentvolle Componist nicht dahin neigen möge, in neuen Formen ein
Interesse zu suchen, das allein der Inhalt geben kann.
[…]
Einen ganzen Abend bei der Musik Eines und desselben Componisten mit
Spannung auszuhalten, ist unter allen Umständen etwas viel verlangt; daß
die Theilnahme der Zuhörer aber in diesem falle keineswegs erlahmte,
sondern bis zum letzten Tone sichtbar rege blieb, das spricht allein
schon zu Gunsten des jungen Tondichters.“
(Niederrheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler,
Köln, 5. Jahrgang, Nr. 45, 7. November 1857)
Dieser Rezension können wir einige beachtenswerte Details entnehmen:
Zuallererst den Umstand, daß Bruchs Trio vor dieser öffentlichen
Uraufführung eine Darbietung im privaten Kreis erlebt hat, und daß es
damals noch eine in wesentlichen Punkten andere Gestalt haben muß.
(Denkbar wäre, daß Bruch bei der Umarbeitung einen ursprünglich
vorhandenen Kopfsatz verworfen hat.) Von dieser Frühfassung des Werkes
hat sich im Max-Bruch-Archiv der Universität Köln ebensowenig eine Spur
erhalten wie von seinen (vermutlich drei) Vorgängern, von denen wir nur
aus Hillers Tagebüchern wissen. All das deutet auf eine komplexe und
nicht konfliktfreie Entstehungsgeschichte, die der heutige Hörer wohl
nicht leicht hinter der scheinbar „glatten“ Oberfläche des Werkes
vermuten würde.
Eine andere bemerkenswerte Einzelheit ist aber in der
Programmzusammenstellung selbst enthalten: Für seinen Kompositionsabend
wählte der junge Bruch als einziges „fremdes“ Werk Beethovens Opus 90 –
und daß sich dahinter mehr verbirgt als nur die quasi-rituelle Anrufung
eines „Schutzheiligen“, dürfte dem Kritiker entgangen sein. Denn
Beethovens E-moll-Sonate, die mehr als fünf Jahre nach ihrer
Es-Dur-Vorgängerin (op.81a) im August 1814 entstand, wird mit vollem
Recht als die erste seiner späten Klaviersonaten betrachtet, und sie
eröffnet diese Werkgruppe, in der Beethoven das Terrain für die
Entdeckungsreisen der späten Streichquartette auch in formaler Hinsicht
schon absteckt, mit derselben ungewöhnlichen äußeren Form, die er dem
Schlußstück der Reihe (op.111) geben wird. Die Wahl gerade dieses Werkes
ist also wohl mehr als nur Ausdruck einer (bei Bruch wahrscheinlich
durch seinen Lehrer Breidenstein, den Initiator des Bonner
Beethoven-Denkmals [1845], geförderten) besonderen Beethovenverehrung,
sie kann auch als historische Rechtfertigung für die Durchbrechung des
als einengend empfundenen normativen Formkanons verstanden werden, deren
Bruch sich in der revidierten Fassung seines Klaviertrios „schuldig“
gemacht hatte. Die Beflissenheit, mit der der Rezensent diesen zarten
Hinweis überhört hat, ist bezeichnend; und man darf mit gutem Grund
annehmen, daß auch Bischoff, für den – in einer Zeit, als dieser
Superlativ noch nicht journalistisches Kleingeld war – Mozart ganz
fraglos „der größte Musiker aller Zeiten“ war, in dessen Werken das
Unerhörte, Gewagte und Ungesicherte einfach nicht wahrnehmen wollte.
Die Sorgfalt, mit der Bruch sein Klaviertrio gestaltete, äußert sich in
einer langen Reihe konstruktiver und dramaturgischer Details, auf die
hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann. Ein ganzes Netz
motivischer und harmonischer Querbezüge überzieht die drei Sätze des
Werkes, die – trotz der notierten Trennung zwischen zweitem und drittem
Satz – ein einziges Continuum bilden. Die den Kritiker der Uraufführung
so irritierende Eröffnung des Werkes mit einem voll ausgeführten
langsamen Satz (anstelle der vielleicht erwarteten langsamen Einleitung)
ist natürlich durchaus kein Novum der Klaviertriogeschichte, auch wenn
man von den in anderer Formentradition stehenden Trios Haydns und seiner
Zeitgenossen absieht – so beschreitet etwa Robert Volkmanns 1849/50
entstandenes zweites Klaviertrio, übrigens auch ein Opus 5, den gleichen
Weg. (Die Opuszahl kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß
der um eine Generation ältere Volkmann [1815-1883] hier eben kein
Jugendwerk, sondern die reife Frucht einer langen kompositorischen
Entwicklung vorlegt; das Liszt gewidmete Werk wurde denn auch in der
Folge eines der meistgespielten Klaviertrios des XIX. Jahrhunderts.)
Ähnlich wie bei Volkmann ist auch die agogische Dramaturgie des
Werkganzen – die Abfolge der Sätze erzeugt eine kontinuierliche
Temposteigerung (bei Volkmann: Largo – Allegretto – Allegro, bei Bruch:
Andante – Allegro – Presto); auch dieser Kunstgriff trägt zur
Geschlossenheit des Werkes bei.
Im eröffnenden Andante molto cantabile wird einem choralartigen
Gedanken, der unüberhörbar an die religiösen Momente Mendelssohns
erinnert, ein schwärmerisches zweites Thema gegenübergestellt, in dessen
pianistischer Textur das Erbe Schumanns lebendig ist. Als Formmodell
hat Bruch hier eine entwickelte Zweiteiligkeit (ABAB-Coda) gewählt,
wobei die „Reprise“ das Material in stark geraffter, aber harmonisch und
kontrapunktisch bereicherter Gestalt wiederaufnimmt, während in der
Coda die schlichte Gestik des Anfangs zu tragischer Emphase gesteigert
erscheint.
In den C-moll-Schluß des Andantes fällt das (wohl mit voller Absicht
nicht als solches bezeichnete) Scherzo ein: Der Satz (Allegro assai,
G-Dur/Es-Dur) weist zwar in Tempo, Metrik, Form und Disposition fast
alle Charakteristika des traditionellen Scherzotyps auf, läßt aber doch
ganz deutlich erkennen, daß es Bruch darum zu tun war, ein den ganz
spezifischen Bedürfnissen der von ihm gewählten Großform genügendes
Mittelstück, also eine gedankliche Brücke zwischen den kontrastierenden
Stimmungsregionen der Ecksätze zu schaffen, kurz: dem Satz nicht
allzuviel tektonisches Eigengewicht aufzubürden.
Aus eben diesem Grund ergibt sich (trotz des Fehlens der entsprechenden
Spielanweisung) der nahtlose Übergang zum Finalsatz (Presto), einem
Rondo, in dessen Zentrum (als zweite Episode) die Wiederkehr des ersten
Gedankens aus dem Kopfsatz steht: Die daraus zwingend folgende
Temporelation zwischen den beiden Ecksätzen tut noch ein übriges zur
Vereinheitlichung des Werkes; dem selben Zweck dient auch die
konsequente Verkürzung der Ritornelle und die Wiederholung des
Andantezitats unmittelbar vor dem abschließenden Prestissimo.
Mit seinem Klaviertrio und etwa einem Dutzend anderer Werke im Gepäck
brach der Zwanzigjährige einige Tage nach der Premiere von Scherz, List
und Rache nach Leipzig auf. Der Weg in Deutschlands unangefochtene
Musikmetropole war ihm wohl von Hiller geebnet worden – der Lehrer
schickte seinen Lieblingsschüler auf dieselbe Bahn, die wenige Jahre
zuvor Robert Schumann Johannes Brahms gewiesen hatte (und die einige
Monate später Edvard Grieg auf Anraten Ole Bulls beschreiten sollte).
Hillers ehemaliger Lehrer Ignaz Moscheles (1794-1870) lebte und wirkte
seit seiner Rückkehr aus London 1846 in Leipzig, und Hillers vertrauter
Freund Ferdinand David (1810-1873) war schon 1836 von Mendelssohn als
Konzertmeister des Gewandhausorchesters hierher berufen worden. Von
beiden erfuhr Bruch bereitwillige Förderung: Moscheles verschaffte Bruch
innerhalb kürzester Zeit einen Verleger für das Capriccio op.2 und
notierte in sein Tagebuch: „Es ist viel Frische und Tüchtigkeit in
seinen Sachen.“ David, der 1849 den siebzehnjährigen Friedrich
Grützmacher als Solocellisten in das Gewandhausorchester geholt hatte,
stellte sich zusammen mit diesem als Triopartner des Komponisten für
eine Leipziger Aufführung des Klaviertrios zur Verfügung – eine in
Anbetracht der Jugend und Unbekanntheit Bruchs sicher nicht alltägliche
Anerkennung und Förderung. In beiden Fällen revanchierte sich Bruch auf
die nächstliegende Weise: er widmete das Fis-moll-Capriccio Ignaz
Moscheles und ließ auf das Titelblatt des 1858 im Traditionsverlag
Breitkopf & Härtel herausgegebenen Trios in blumiger Schrift
stechen: „Den Herren F. David und F. Grützmacher“.
Vielleicht ist es die Summe dieser Unterstützungen, die dem jungen Bruch
von Hiller, Moscheles, David und anderen zuteil wurden, die
nationalsozialistische „Musikforscher“ zu dem Schluß kommen ließ, Bruch
sei jüdischer Abstammung gewesen und habe ursprünglich „Baruch“
geheißen. Die Konsequenzen dieser Vermutung waren immerhin so
gravierend, daß sich Bruchs Tochter Margarethe genötigt sah, ihr 1933
mit einer genealogischen Publikation zu widersprechen – und so zu
verhindern, daß die wenigen in Deutschland verbliebenen Geiger auch noch
auf Bruchs Violinkonzert verzichten mußten…
© by Claus-Christian Schuster