Hans Gál
* 05. August 1890
† 04. Oktober 1987
Variationen über eine Alt-Wiener Heurigenmelodie op.9
Komponiert: | Wien, Frühsommer 1914 |
Widmung: | „Dem Trön in Grinzing zugeeignet“ |
Erstausgabe: | Simrock, Berlin, 1921 |
Nach dem Abschluß des Maximiliangymnasiums in der Wasagasse, wo sein „Zwillingsbruder“ Erich Kleiber sein Sitznachbar und bester Freund gewesen war, wurde der Arztsohn Hans Gál Kompositionsschüler von Eusebius Mandyczewski. 1913 promovierte er mit einer Dissertation über „Die Stileigentümlichkeiten des jungen Beethoven“ unter den Auspizien von Guido Adler. In den bangen Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb er Variationen für Klaviertrio über ein in Grinzing gehörtes Heurigenlied, die nach dem Kriege veröffentlicht wurden und seither, im Gegensatz zu den meisten anderen Werken Gáls, eine ganzeReihe von Neuauflagen erlebt haben.
Das Thema ist, ganz wie der Weiglsche „Gassenhauer“ des Beethoven-Trios op.11, ein unscheinbares und überaus simples Gebilde: ein Achttakter im Zweivierteltakt, der viermal das gleiche metrische Modell wiederholt – ein städtischer Nachfahre eines unverwüstlichen „Schnaderhüpflers“. Nichts an diesem Einfall scheint irgendeine Entwicklungsmöglichkeit zu bieten; trotzdem ist von Anfang an zu spüren, daß Gál dieses anspruchslose Material mit einer gewissen liebevollen Sorgfalt und ganz ohne Überheblichkeit behandelt. Nachdem alle drei Instrumente der Reihe nach das Thema vorgestellt haben, beginnt eine ununterbrochene Folge von 24, meist paarweise zusammengehörenden Variationen, in deren Verlauf nur zweimal das achttaktige Schema um kurze Überleitungen erweitert wird: nach dem Variationenpaar 11/12 (das im 7/8-Takt dahinstolpert) moduliert eine Codetta nach G-Dur, wo nun eine Gruppe von sechs Variationen (13-18) im Dreivierteltakt beginnt, in deren Verlauf in allmählich sich steigerndem Tempo das Lied vom lieben Augustin unser Variationenthema überlagert. Auch hier folgt dann eine knappe Überleitung, nach der die Geradtaktigkeit wiederhergestellt wird. Nach der letzten Variation wird das Thema wieder, analog dem Anfang, von den drei Instrumenten der Reihe nach rekapituliert, wobei aber diesmal die Einsätze „enggeführt“ werden. Diese erste Coda mündet in eine über einer chromatischen Baßlinie viermal wiederholte schüchterne Frage. In die hierauf folgende Stille (ideales Betätigungsfeld für musikalische Huster!) „bricht mit einem Male / los der volle, kräft’ge Chor“. Aber weil eine Heurigenpartie doch nicht mit Pathos enden soll und darf, auch wenn es nur ein ausgelassenes ist, gibt es noch ein allerletztes Thema, das die Geige fast alleine vorträgt: das Cello spielt nur die jeweiligen Abschlußnoten (quasi mit herausgestreckter Zunge), und das Klavier muß natürlich zwölf Glockenschläge vernehmen lassen. Doch nicht einmal hierin waltet in Grinzing Disziplin – die letzten beiden Glockenschläge verlassen das ostinate B und lösen schließlich jene chromatische Schlußverwirrung aus, die das Werk zu einem nicht eben nachdenklichen Ende bringt.
Grinzing und der liebe Aug:ustin, in den letzten, schon überschatteten Friedenstagen noch einmal wehmütig und doch auch leichtsinnig beschworen – dieses kleine musikalische Apercu ist, in all seiner Bescheidenheit, doch auch ein privates programmatisches Postskriptum zu einer Epoche, deren qualvolles und über Jahrzehnte prolongiertes Dahinsterben in immer nacktere Barbarei schließlich auch den Komponisten zu einem Heimatlosen und Enterbten machen sollte. Gál, einst Mitarbeiter Eusebius Mandyczewskis im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, fand nach einem Intermezzo als Direktor der Musikhochschule in Mainz (1929-1933) nach 1938 Zuflucht in Edinburgh, wo er 1987 gestorben ist
© by Claus-Christian Schuster