Frank Martin
* 15. September 1890
† 21. November 1974
Trio sur des mélodies populaires irlandaises (1925)
Komponiert: | Capbreton (Landes), Sommer 1925 |
Uraufführung: | Paris, April 1926 Frank Martin, Klavier Joachim Röntgen (?), Violine Antonio Tusa (?), Violoncello |
Erstausgabe: | Hug, Zürich, 1930 |
Obwohl kaum jemand, der sich mit dem Werk Frank Martins beschäftigt, daran zweifeln wird, daß wir es hier mit einem der großen musikalischen Geister unseres Jahrhunderts zu tun haben, hat sein Werk nie jene Verbreitung gefunden, die seiner Bedeutung entsprechen würde. Martin ist ein Musikerkomponist und für das Publikum eine Art Geheimtip geblieben.
Als zehntes und letztes Kind des wohlhabenden Pastors Charles Martin (1843-1934) und dessen Frau Pauline, geb. Duval (1847-1911) in Genf geboren, wuchs Frank Martin in einer gleichermaßen behüteten und anregenden Umgebung auf. Die von einem weitläufigen Park umgebene Villa (67, Route de Malagnou), die der Vater 1893 erbauen hatte lassen, war ein beliebter Treffpunkt des geistigen Genf. Da alle Kinder musizierten, gab es reichlich Gelegenheit zu Kammermusikkonzerten und sogar zu improvisierten Opernaufführungen. Den großen Anteil von Kammermusik und szenischer Musik im Werkkatalog Martins kann man sicher auf diese prägenden Kindheitseindrücke zurückführen.
Genf – das war bis 1918 musikalisch fast eine deutsche Stadt; unter den Komponisten der französischen Kultursphäre, die in Martins Blickfeld traten, finden wir daher bezeichnenderweise an erster Stelle den deutschstämmigen César Franck. Lange bevor er Debussy und Ravel kennenlernte, waren ihm die Werke von Richard Strauss und Gustav Mahler vertraut. Auch Martins einziger Kompositionslehrer, Joseph Lauber, darf als ein Repräsentant dieser Ausrichtung auf den deutschen Sprachraum hin gelten, auch wenn das für Martin keine weiterreichenden Konsequenzen hatte: „Ich habe meine sämtlichen Studien in Genf bei einem Privatlehrer gemacht, der ein sehr guter Techniker, aber nicht sehr künstlerisch veranlagt war. Ich hätte mir nichts besseres wünschen können: er hat mich viel gelehrt, aber wenig beeinflußt.“
Erst als 1918 Ernest Ansermet (1883-1969) das Orchestre de la Suisse Romande gründete, machte Frank Martin Bekanntschaft mit den Großen der zeitgenössischen französischen Musik – Fauré, Debussy, Ravel. Ansermet selbst wurde von da an der wichtigste Anreger und Freund in Martins musikalischer Biographie – man könnte fast sagen: sein musikalisches Gewissen. (Vielleicht hat gerade diese enge Beziehung dazu beigetragen, daß Martin von manchen Apologeten der Neuen Musik mit Argwohn behandelt wird: Ansermets grundlegendes Werk Les fondements de la musique dans la conscience humaine (1962) gilt als die prägnanteste und fundierteste Kritik an Technik und Ästhetik der Zweiten Wiener Schule und an den Glaubenssätzen der Darmstädter Schule, als eine kämpferische Antwort auf Adornos Philosophie der neuen Musik (1949), jenes Werk, das über mehrere Jahrzehnte hinweg als die Bibel der zeitgenössischen Musik betrachtet wurde. Der mit dem Häretiker Ansermet so innig verbundene Martin mußte also jedem orthodoxen Kritiker suspekt erscheinen.)
Nach einem Züricher Intermezzo (1918-1920) lebte Frank Martin ab 1920 mit seiner ersten Frau, Odette Micheli, auf dem Landgut von deren Eltern in Landecy am Stadtrand von Genf. Von hier aus unternahm er 1921/22 eine ausgedehnte Italienreise, deren Hauptstationen Rom und Ravenna waren ( – Martin wurde, ähnlich wie der um fünf Jahre ältere Egon Wellesz, wenn auch nicht mit dessen wissenschaftlicher Ambition, in der Folge ein profunder Kenner der byzantinischen Kultur, der er hier das erste Mal begegnete – ), und von Landecy aus brach er 1924 auch nach Paris auf.
Es ist das Paris Faurés und Ravels, das Paris der Six, die Stadt der sich eben zusammenfindenden École de Paris, in der Emigranten aus allen Teilen Europas aufeinander treffen und einander anregen, die Stadt Stravinskijs und der Ballets Russes, ohne Zweifel (und trotz der Konkurrenz von Berlin, Moskau und Wien) die kulturell bunteste und reichste Weltstadt dieser Jahre, in die der vierunddreißigjährige Komponist hier kommt. Doch Martin ist nicht der Mann, um auf dieses neue Milieu rasch zu reagieren und die sich ihm bietenden Eindrücke mühelos zu assimilieren. Ohnehin ist er nicht der Komponistentyp der leichten Produktion: Während der um zwei Jahre jüngere Darius Milhaud 1924 schon bei Opusnummer 85 angelangt ist, umfaßt Martins Werkkatalog bei seiner Ankunft in Paris gerade neunzehn Werke. Der scheue und introvertierte Komponist führt ein recht zurückgezogenes und isoliertes Leben, das Leben eines abwartenden und suchenden Beobachters. Sein Kontakt mit der Emigrantenszene beschränkt sich im wesentlichen auf die Brotarbeit, die er für das russische Marionettentheater Les petits comédiens de bois von Mme Sazonova im Théâtre du Vieux-Colombier als Arrangeur leistete. Mit den französischen Komponisten seiner Generation hat er nur flüchtigen Kontakt. Sein bester Freund in Paris wird der französische Schriftsteller und Psychologe André Berge, in dessen Heim in der Rue Lincoln er wesentliche Anregungen empfängt; so ist es Berge, der Martins Interesse auf die ostasiatische Musik und den Jazz lenkt.
Eines Tages macht Frank Martin in Paris die Bekanntschaft eines reichen Amerikaners irischer Abstammung. In der Folge bestellt dieser bei Martin ein Klaviertrio über irische Volksweisen. Vielleicht weiß der Auftraggeber vom ausgeprägten Interesse des Komponisten für die Volksmusik – schon eines der ersten Werke Martins, die während seines Kriegsdienstes im Berner Jura niedergeschrieben Symphonie burlesque sur des thèmes savoyards (1915; W 6), ist ein Zeugnis dieser Vorliebe, und auch das Klavierquintett von 1919 (W 9), das bis dahin bedeutendste Kammermusikwerk Martins, verarbeitet im letzten Satz ein Volkslied aus Savoyen. Sicher hegt der gute Mann aber die naive Hoffnung, von Martin ein leicht spielbares Potpourri beliebter „folkloristischer“ Melodien zu erhalten. Doch das ist nun eben nicht Martins Art, an eine solche Aufgabenstellung heranzugehen: wochenlang recherchiert er in der Bibliothèque Nationale, wo er schließlich auf eine reichhaltige Sammlung irischer Volkslieder und -tänze stößt. (Seitdem man zu Beginn des XIX. Jahrhunderts mit der Erforschung der bretonischen Folklore begonnen hatte, war in Frankreich auch das Interesse an der Volksmusik der keltischen Völker Irlands und Großbritanniens gewachsen.) Durch seine Beschäftigung mit byzantinischer und fernöstlicher Musik war Frank Martin ein musikalischer Gourmet mit einer dezidierten Vorliebe für das Ungewöhnliche, Asymmetrische und Archaische geworden. Das in seinem Nachlaß aufgefundene Notenheft, in dem er die in der Bibliothèque Nationale entdeckten Melodien mit genauer Quellenangabe und großer Akribie aufzeichnete, zeigt, mit welcher Treffsicherheit er das Spezifische und Originelle aus der Fülle des Materials auszuwählen verstand. Gleichzeitig kann man an diesem einzigartigen Dokument nachvollziehen, wie der Komponist sich schrittweise von der getreuen Wiedergabe seiner Vorlage zu eigenen skizzenhaften Kombinationsversuchen und fragmentarischen Entwürfen der endgültigen Textur in Particellform vortastet. Von den siebzehn Melodien, die der Komponist in die engere Wahl zieht und in sein Skizzenheft überträgt, finden vierzehn schließlich Eingang in das Trio. Während eines Sommeraufenthaltes, den Martin 1925 mit der Familie Berge im atlantischen Badeort Capbreton verbringt, eine knappe Autostunde nördlich von Saint-Jean-de-Luz, wo Ravel elf Jahre zuvor sein Trio niedergeschrieben hat, formt er aus diesem Stoff ein Klaviertrio in drei kurzen Sätzen. Seine Vorgangsweise hat er selbst einige Jahre später so erläutert:
„Bei der Verwendung des reichen musikalischen Gedankengutes der irischen Folklore habe ich versucht, mich so weit wie möglich ihrem spezifischen Charakter zu unterwerfen; ich habe jede Verformung der gewählten Melodien vermieden und sie immer in ihrer Integrität bewahrt, ohne sie mit sinnverändernden Harmonien zu überlasten. Das heißt, man wird in diesem Trio keinerlei Entwicklung im klassischen Sinne des Wortes finden. Im Rhythmus habe ich das Prinzip meiner musikalischen Form gesucht und in den rhythmischen Kombinationen das Mittel, meine Sprache zu bereichern. Der erste Satz basiert zur Gänze auf einer rhythmischen Progression, die durch ein stufenweises Accelerando erreicht wird, indem der Eintritt jedes neuen musikalischen Gedankens ein etwas rascheres Tempo nach sich zieht. In diesem Satz spielt die Wiederkehr der Themen kaum eine Rolle – es ist die rhythmische Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen vorgestellten Melodien, die für die Einheit des Satzes sorgt.
Im zweiten Satz wird man dank der Wiederkehr einer dem Violoncello anvertrauten Melodie eine größere thematische Einheit feststellen; diese Melodie erscheint vor einem sich ständig verändernden melodischen und rhythmischen Hintergrund immer in der selben Form, dem selben Register und der selben Tonart.
Der Motor des dritten Satzes, Gigue, ist nicht mehr ein Accelerando, sondern die Bereicherung der rhythmischen Textur durch die Überlagerung verschiedener Motive. Hier wird man die metrische Unabhängigkeit der einzelnen Stimmen des Trios noch besser verfolgen können als in den vorangegangenen Sätzen.
Um es zusammenzufassen: dieses Trio stellt sehr wenig Ansprüche an die Harmonie und an das polyphone Prinzip der Imitation und verlangt alles von Rhythmus und Melodie, die die Grundlage des irischen Gesanges und Tanzes bilden.
(nach: Schweizerische Musikzeitung 1930/11, S.427f.,
mit autorisierten Retouchen)
Der nostalgische Auftraggeber des Werkes freilich sah sich in seinen Hoffnungen getrogen: keine einzige seiner „populären“ Lieblingsmelodien hatte dem kritischen Anspruch des Komponisten genügt. Er verweigerte die Annahme des Werkes und die Auszahlung des vereinbarten Honorars. Frank Martin ertrug sein Mißgeschick mit Noblesse: Er antwortete dem enttäuschten Amerikaner, er selbst habe bei der Komposition viel Vergnügen gehabt und wäre ohne den Auftrag wohl schwerlich auf dieses Sujet verfallen, deshalb gebe es keine Schuld zu begleichen. Tatsächlich hatte die Arbeit am Trio den Komponisten so fasziniert, daß er beschloß, die von André Berge empfangenen Anregungen und die während der Arbeit am Trio gewonnenen Einsichten gleich im folgenden Werk vom Kammermusikalischen ins Orchestrale zu übertragen: der Titel, Rythmes (1926, W 21), ist Programm.
Bei seiner Heimkehr nach Genf, 1926, trifft Martin auf einen bemerkenswerten Mann, der dieses Programm besser versteht, als irgendein anderer: Der in Wien geborene Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950), Schüler von Fauré in Paris und von Bruckner in Wien, hatte ein pädagogisches Konzept entwickelt, das auf der Umsetzung rhythmischer Strukturen in gestische Impulse beruht. Sein 1910 in Dresden-Hellerau gegründetes Lehrinstitut mußte während des ersten Weltkrieges seine Tätigkeit einstellen und fand gerade im Jahre von Martins Rückkehr in Genf eine neue Heimstätte. Eine Begegnung der beiden Komponisten konnte nicht ausbleiben: 1928 berief Jaques-Dalcroze Frank Martin als Lehrer an sein Institut. Der manchmal geäußerten Vermutung, die rhythmischen Experimente der Pariser Werke Martins seien durch die Ideen von Jaques-Dalcroze angeregt worden, entgegnete Martin also zu Recht:
„Es war nicht der Einfluß von Dalcroze, der meine Untersuchungen auf dem Gebiet der Rhythmik veranlaßt hat, sondern vielmehr das leidenschaftliche Interesse, mit dem ich diese Untersuchungen betrieb, das mich in sein Institut geführt hat.“
Das Trio und die Rythmes bilden den Höhepunkt und Abschluß von Frank Martins erster Schaffensperiode. Die hier gemachten Erfahrungen und erworbenen Fähigkeiten sind, über alle stilistischen Wandlungen hinweg – die ihn wenige Jahre später auch zu Experimenten mit der Dodekaphonie führen sollten – für sein gesamtes Oeuvre relevant: die räumliche Gliederung durch Orgelpunkte, die Verwendung statischer Klangflächen und charakteristischer Ostinati, die agogische Strukturierung ganzer Sätze ( – das formbildende Accelerando des ersten Satzes unseres Trios findet sich etwa im Cembalokonzert von 1952 wieder – ), vor allem aber die bemerkenswerte Freiheit und Erfindungsgabe im Umgang mit der Rhythmik bleiben Grundzüge seiner unverwechselbaren musikalischen Sprache. Noch in einem seiner letzten Werke, in der für Paul Badura-Skoda und auf dessen Anregung geschriebenen Phantasie sur des rythmes flamenco (1973, W 139), wendet er diese seltene Gabe noch einmal auf folkloristisches Material an und bestätigt damit die Konsequenz seines künstlerischen Weges durch ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte.
© by Claus-Christian Schuster