Max Reger
* 19. März 1873
† 11. Mai 1916
Trio für Klavier, Violine und Violoncello, e-moll, op.102
Komponiert: | Leipzig (Felixstraße 4), Dezember 1907 – 5. März 1908 |
Widmung: | Dr. Reinhold Anschütz |
Uraufführung: | Leipzig, Kleiner Gewandhaussaal, 21. März 1908 Max Reger, Klavier Edgar Wollgandt (1881-1949), Violine Julius Klengel (1859-1933), Violoncello |
Erstausgabe: | Lauterbach & Kuhn, Leipzig, 1908 |
Max Reger ist, jenseits der Beachtung, die ihm in allen Sammlungen musikalischer Anekdoten gewiß bleibt, kein Thema: Schon 1973 scheiterte eine geplante „diskographische Würdigung“ anläßlich seines hundertsten Geburtstages daran, daß sich für die meisten Werke keine kompetenten Interpreten fanden. Bis heute bleibt Regers Präsenz in unseren Konzertsälen dürftig. Während das den gleichen Zeitraum umspannende Gesamtwerk Alexander Skrjabins einen festen Platz in unserer Vorstellung von der Entstehung der Musiksprache des Zwanzigsten Jahrhunderts hat, gilt Reger vielen heutigen Hörern nur mehr als eine anachronistische Kuriosität. Regers Zeitgenossen waren, wenigstens was die Wahrnehmung seiner Bedeutung und seines kompositorischen Ranges anlangt, gerechter als die Nachwelt – ein eher seltener Fall in der Musikgeschichte.
Zur Zeit der Komposition schieden sich an Regers „Spätwerk“ ( – man sollte sich vergegenwärtigen, daß die Werke, die man unter diesem Begriff subsumieren könnte, etwa ab Regers dreißigstem Lebensjahr entstanden sind – ) die Geister: Es war zwar unbestritten, daß hier eine neue Sprache im Entstehen war – die Frage war, ob man sie auch erlernen wollte. Für die einen war Reger ein unerschrockener Neuerer und kühner Entdecker, für die anderen ein die Tradition schändender Wirrkopf. Je nach Standpunkt galten seine Werke dann als mutig und verwegen oder als abstrus und gesucht. Kein Wunder, daß Reger-Uraufführungen sich meist als skandalträchtig erwiesen. Der mit charakteristischer Derbheit geführte Kampf des Komponisten gegen seine gehässigen Kritiker gehört in das schon eingangs erwähnte Reich der Anekdote, in dem der monomanische Meister, der sich nie ein Blatt vor den Mund (manchmal aber demonstrativ anderswohin) nahm, eine gesicherte Position besetzt hält. Doch es waren nicht nur mißgünstige Neider, die an Regers kompositorischer Entwicklung Anstoß nahmen. Sogar sein einstiger Lehrer Hugo Riemann entrüstet sich (in der siebenten Auflage seines einflußreichen „Musiklexikons“, 1909) über Regers „modulatorische Willkürlichkeiten“ und empfindet das „absichtliche Verneinen der schlichten Natürlichkeit“ schlicht als „abstoßend“ – eine Kritik aus dem Munde des verehrten Mentors, die Reger tief verletzte. Andererseits aber machte die musikalische Avantgarde der Jahrhundertwende, vor allem die österreichische und die russische, Reger zu einem ihrer Heroen. Der St. Petersburger Verein für moderne Musik lud den Komponisten im Dezember 1906 zu einem Regerfest ein, das im Bewußtsein der dortigen jungen Komponistengeneration tiefe Eindrücke hinterließ; und auch in Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ sollten Regers Werke später zum festen Repertoire gehören. Ferruccio Busoni nannte Reger (1905) gar den „größten lebenden Komponisten“.
Die heutige Vernachlässigung Regers hat wohl mit der Entwicklung eines noch weit „radikaleren“ neuen musikalischen Idioms durch seine Bewunderer zu tun. Vor dieser neuen Sprache konnte die Regers plötzlich als „spätromantisch“ und „anachronistisch“ erscheinen. Während die Verfechter der Moderne sich dem jeweils Neuesten zuwandten, zog die Mehrzahl der „konservativen“ Hörer und Interpreten bei Johannes Brahms eine imaginäre Demarkationslinie und ließ Max Reger neben diesem „Schmied“ höchstens noch als „Schmiedl“ gelten. Während man in diesem Lager die frei assoziative Harmonik des Meisters als willkürlich und unnatürlich kritisierte, stieß man sich in jenem an den als stereotyp empfundenen Regerschen Formschemata. Vielleicht ist jetzt, am Ausgang dieses kontroversenreichen Jahrhunderts, doch endlich die Zeit gekommen, dieses beeindruckende Werk unbeeinflußt von ästhetischen und ideologischen Grabenkämpfen neu zu entdecken und zu würdigen.
Die Komposition von Regers einzigem vollendeten Klaviertrio (von einem Jugendwerk dieser Gattung, der 1890/91 in Sondershausen und Wiesbaden geschriebenen Fantaisie caractéristique, ist nur ein Satz erhalten geblieben) fällt in jene Periode, in der sich das Genie des Meisters auf allen Gebieten – als Komponist, Interpret, Lehrer und Organisator – am beeindruckendsten entfaltete. Wenige Tage nach seinem vierunddreißigsten Geburtstag war Max Reger am 23. März 1907 mit seiner Frau von München, wo er seit 1901 trotz heftigster Anfeindungen durch die „Neudeutsche Schule“ (Ludwig Thuille, Max von Schillings u.a.) ausgeharrt hatte, nach Leipzig, seiner neuen Wirkungsstätte, aufgebrochen. Dorthin hatte man ihn auf Betreiben seiner Leipziger Freunde Karl Straube, dem Leiter, und Reinhold Anschütz, dem Vorsitzenden des Leipziger Bach-Vereins, als Universitätsmusikdirektor und Kompositionslehrer berufen – auch das, wie sich bald herausstellen sollte, für den unersättlichen Arbeitshunger Regers noch immer kein erschöpfendes Wirkungsfeld. Da er die Wintermonate 1906/07 nahezu ununterbrochen auf Konzertreisen zugebracht hatte und nur wenig zum Komponieren gekommen war, hatte sich eine Reihe von größeren Entwürfen und Plänen angesammelt, die er sofort nach seiner Ankunft in Leipzig in Arbeit nehmen wollte; es handelte sich dabei um die Hiller-Variationen (op.100), das Violinkonzert (op.101) und unser Klaviertrio (op.102). Reger war im Zenit seiner Kraft und seines Ruhmes, und allein die Ankündigung der neuen Werke löste ein wahres Wettrennen um die Ehre der Uraufführung aus – unter den „Prätendenten“ auf das Violinkonzert waren Carl Flesch, Arnold Rosé und Henri Marteau, welch letzterem das Werk schließlich gewidmet wurde. Ähnlich lagen die Dinge bei den Hiller-Variationen, so daß sich Reger, wieder einmal, in arger Bedrängnis fand, die Werke zu den vorgesehenen Aufführungsterminen fertigzustellen. All das verzögerte die Arbeit am Trio, die er dann schließlich im Dezember 1907, parallel zur Schlußphase der Komposition des Violinkonzertes, in Angriff nahm.
Regers Konzertverpflichtungen sorgen auch bei diesem Werk dafür, daß er wieder in gehörige Zeitnot gerät. Eine triumphale Aufführung der Hiller-Variationen in Hamburg, nach der ihm die Firma Steinway einen Konzertflügel schenkt, zieht am 11. Februar eine feierliche „Flügelweihe“ in Regers Leipziger Wohnung nach sich; zu diesem Zeitpunkt hat Reger gerade den ersten Satz des Trios beendet. Wenige Tage später muß sich seine schwerkranke Frau Elsa in Spitalsbehandlung begeben. Die drei noch fehlenden Sätze des Trios entstehen während der folgenden drei Wochen, meist in fieberhafter Nachtarbeit, in der verwaisten Wohnung; eine Wiener Gesangsstudentin, die mit dem Meister eng befreundete Martha Ruben, führt in dieser Zeit den Haushalt.
Der erste Satz (Allegro moderato) zählt sicher zu den komplexesten und eindrucksvollsten Architekturen des Meisters. Der Satz bezieht seine Energie aus der schroffen Gegenüberstellung eines elegischen Achttakters im Pianissimo und dem unvermittelt hereinbrechenden Aufruhr eines gerafften Fortissimo-Motivs. Trotz größter Klarheit der formalen Grundgestalt stellt dieser Satz wegen seiner vielfältigen motivischen Verästelungen und vor allem seiner komplizierten, immer funktional fundierten Harmonik, größte Anforderungen an Zuhörer und Interpreten. Genugtuung über das Vollbrachte und das für Reger so typische „tierische“ Vergnügen an der Arbeit klingt durch, wenn er schreibt:
„…Trio, erster Satz, ist fix und fertig; ich arbeite schon feste am zweiten Satz, einem ganz verrückten »Marcia« im ppp, ein sehr ulkiges Ding; aber der »Augustin« kommt diesmal nicht darin vor!“
(an Adolf Wach, 16. Februar 1908)
Mit dem grotesk-burlesken Ton dieses Scherzos (Allegretto, c-moll) kontrastiert der „empfindsame“ Kanon der Streichinstrumente im Mittelteil (Andante, E-Dur) – die Beschreibung dieser Stelle als „kurze, aparte Cantilene“ durch einen Berliner Kritiker reißt Reger zu der Tirade hin:
„…Da hat also dieses Urrindvieh nicht mal gemerkt, daß es ein höchst simpler Kanon im Einklang zwischen Cello und Violine ist! Herrgott, ist das ein Schaf!“
(an Karl Straube, 11.Oktober 1908)
Der dritte Satz (Largo, As-Dur) ist in mancher Hinsicht das Herzstück des Werkes: ein modal harmonisiertes Choralthema von unnahbarer Ruhe wird in mehreren Wellen von verhaltenen bis ungestümen Klagen bestürmt, die jedoch alle unerhört an der ewigen Ferne dieses Chorals verebben – ein Stück, dessen hoffnungslose Skepsis bei aller Verschiedenheit der Mittel sehr an den späten Brahms erinnert.
Im vierten Satz (Allegro con moto), mit dessen Vollendung Reger am 5. März 1908 (nur etwas mehr als zwei Wochen vor der Uraufführung) die Komposition des Trios beendete, lösen sich alle Widersprüche und Zweifel der vorangegangenen Sätze in befreiend launiger und übermütiger Weise; daß Übermut bei Reger nicht ohne das obligate Fugato denkbar ist, versteht sich von selbst: es ist hier unerhört kurz (23 Takte) und gibt sich alle erdenkliche und vergebliche Mühe, ernst zu wirken. Der Sieg gehört, ganz unbestritten, dem derben, bajuwarischen Humor des „Akkordarbeiters“ Max Reger.
© by Claus-Christian Schuster