Schönberg: Verklärte Nacht

Arnold Schönberg

* 13. September 1874
† 13. Juli 1951

Verklärte Nacht. Gedicht von Richard Dehmel (aus „Weib und Welt“) für sechs Streich-Instrumente. Op.4 (autorisierte Übertragung für Klavier, Violine und Violoncello von Eduard Steuermann)

Komponiert:Payerbach und Wien, September – 1. Dezember 1899
Widmung:Bearbeitung: Alice Moller (1871-1962)
Uraufführung:Original:
Wien, Musikverein/Kleiner Saal(Brahms-Saal), 18. März 1902
Arnold Rosé (1863-1946), Violine
Albert Bachrich (1874-1924), Violine
Anton Ruzitska (1872-1933), Viola
Franz Jelinek (1868-1945), Viola
Friedrich Buxbaum (1869-1948), Violoncello
Franz Schmidt (1874-1939), Violoncello

Bearbeitung:
nicht dokumentiert
Erstausgabe:Original: Dreililien-Verlag, Berlin, 1905; Bearbeitung: Margun Music, Newton Centre, 1979

Nach seinem freudigen Ausscheiden aus dem ungeliebten Bankdienst, den Schönberg nach dem vorzeitigen Tod seines Vaters (1. Jänner 1891) antreten hatte müssen, wirkte er einige Jahre hindurch als Dirigent von Arbeiterchören in Stockerau (1895/96), Mödling (1896-1898) und Wien. Schon im ersten Jahr dieser Tätigkeit lernte er den um drei Jahre älteren Alexander von Zemlinsky kennen, mit dem ihn bald eine enge Freundschaft verband. Zemlinsky wurde Schönbergs einziger Kompositionslehrer – „derjenige, dem ich fast all mein Wissen um die Technik und die Probleme des Komponierens verdanke“, wie Schönberg in dem 1949 niedergeschriebenen Lebensrückblick My evolution festhält.

„Als ich Zemlinsky kennenlernte, war ich ausschließlich Brahmsianer. Er aber liebte Brahms und Wagner gleichermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein Wunder, daß die Musik aus dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner und vielleicht auch Hugo Wolf.“
(Schönberg, My evolution)

In seiner kompositorischen Entwicklung war Zemlinsky als brillanter Schüler der beiden „Füchse“ (Robert Fuchs und Johann Nepomuk Fuchs) seinem jungen Freunde, der nach eigenem Zeugnis bis dahin seine theoretischen Kenntnisse vor allem dem Studium der einschlägigen Artikel in Meyers Konversationslexikon verdankte, weit voraus. Neben zahlreichen Liedern und einigen Kammermusikwerken hatte Zemlinsky schon drei Orchesterwerke und eine Oper vollendet. Diese Oper, Sarema (nach Rudolf von Gottschalls Die Rose vom Kaukasus) wurde am 10. Oktober 1897 in München uraufgeführt, und aus diesem Anlaß bat Zemlinsky Schönberg, ihm bei der Herstellung des Klavierauszuges behilflich zu sein. Zu diesem Zwecke begleitete Schönberg seinen Freund nach Payerbach auf Sommerfrische. Dort schrieb Schönberg in jenem Sommer 1897 nicht nur sein erstes vollständig erhaltenes Streichquartett (D-Dur), das – nach gründlicher Revision unter Zemlinskys Anleitung und auf dessen Vermittlung hin – am 17. März 1898 im Wiener Tonkünstlerverein uraufgeführt wurde, sondern auch zwei Lieder, deren Texte er dem 1893 erschienenen Gedichtband Aber die Liebe von Richard Dehmel (1863-1920) entnommen hatte.

1899 finden wir die beiden Dioskuren wieder in Payerbach auf Sommerfrische; in Schönbergs Gepäck findet sich auch diesmal ein Dehmel-Band, Weib und Welt, aus dem er schon im Frühling vier Gedichte vertont hatte. Das Buch, dessen explizit erotischer Ton schon bei seiner Veröffentlichung (1896) für erhebliches Aufsehen gesorgt hatte, findet in diesen Monaten in Arnold Schönberg einen besonders empfänglichen Leser: seit einiger Zeit wirbt er um die vierundzwanzigjährige Schwester seines Freundes, Mathilde Zemlinsky, die den beiden jungen Männern in Payerbach Gesellschaft leistet. Der leidenschaftliche und zunehmend kühne Ton der Dehmel-Kompositionen dieser Monate verrät mehr über die Gefühle und Erlebnisse der jungen Liebenden, als es ein noch so offenherziges Tagebuch je vermöchte.

Schon in dem Lied Warnung (op.3 Nr.3), am 7. Mai 1899 noch in Wien komponiert, hat Schönberg für Dehmels drastische Behandlung des Motives der Eifersucht eine kühn zupackende und wirkungsvolle musikalische Gestalt gefunden. Kurz danach entsteht das später als op.2 Nr.2 veröffentlichte Schenk´ mir deinen goldenen Kamm (Jesus bettelt). Hier schwelgt Dehmel in der Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria Magdalena, einem Thema, das er ein Jahrzehnt später in den Verwandlungen der Venus (1907) so breit ausführen wird, daß Borries von Münchhausen eine (erfolgreiche) Anklage wegen Blasphemie gegen ihn anstrengen kann. Am 9. August folgt dann Schönbergs Vertonung des Dehmel-Gedichtes Erwartung (op.2 Nr.1): Die preziöse Jugendstilerotik der Vorlage inspiriert den Komponisten zu einer sehr subtilen harmonischen Gestaltung, deren raffinierte Vorhaltshäufungen die weitere Entwicklung des Schönbergschen Idioms schon erahnen lassen.

Wahrscheinlich im September begann Schönberg dann die Arbeit an der Verklärten Nacht, die den eigentümlichen poetischen Zauber der vorangegangenen Dehmel-Vertonungen fortsetzt und vertieft, sich aber aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den doch sehr zeitbedingten Versen löst. Dazu schrieb der Komponist rückblickend:

„Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Detlev von Liliencron, Hugo von Hofmannsthal und Richard Dehmel die bedeutendsten Vertreter des »Zeitgeistes« in der Lyrik. In der Musik aber folgten nach Brahms´ Tod viele junge Komponisten dem Vorbild von Richard Strauss, indem sie Programmusik schrieben. Dies erklärt die Komposition der »Verklärten Nacht«: sie ist Programmusik, weil sie die Dichtung Richard Dehmels beschreibt und auszudrücken versucht.
Mein Werk zeigt aber vielleicht doch einige Unterschiede von anderen Werken dieser Art. Erstens wurde es nicht für Orchester geschrieben, sondern für Kammerbesetzung, und zweitens, weil sie nicht irgendeine Handlung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen und menschliche Empfindungen auszudrücken. Es scheint, daß meine Komposition aufgrund dieser Haltung Qualitäten gewonnen hat, die auch befriedigen, wenn man nicht weiß, was sie schildert, oder, mit anderen Worten, sie bietet die Möglichkeit, als »reine« Musik geschätzt zu werden. Daher vermag sie einen vielleicht das Gedicht vergessen zu lassen, das mancher heutzutage als ziemlich abstoßend bezeichnen könnte.
Dessenungeachtet verdient vieles von dem Gedicht Anerkennung wegen seiner in höchstem Maße poetischen Darstellung der Gefühlsregungen, die durch die Schönheit der Natur hervorgerufen werden, und wegen seiner bemerkenswerten moralischen Haltung bei der Behandlung eines erschütternd schwierigen Problems.“
(Programm-Anmerkungen zur Verklärten Nacht, 20. August 1950)

Ein weiteres halbes Jahrhundert später ist es für uns noch viel schwieriger geworden, die Faszination nachzuempfinden, die Dehmels Verse zur Zeit ihrer Entstehung ausgeübt haben müssen; daß ihr aber nicht nur Komponisten scharenweise erlagen, zeigen die bewundernden Urteile Wedekinds, Liliencrons und vieler anderer, die Dehmel neidlos für den bedeutendsten Lyriker ihrer Generation hielten. Niemand konnte damals ahnen, daß die erotische Exaltation Dehmels noch viel rascher verwelken würde als das hohepriesterliche Pathos seines unversöhnlichen Rivalen Stefan George, der auf die zeitgenössischen Komponisten – und besonders auf Schönberg – eine ebenso unwiderstehliche Wirkung ausübte. (Im Schnittpunkt dieser einander ausschließenden und doch ergänzenden Lebensentwürfe steht – cherchez la femme – Georges Freundin und Dehmels spätere Ehefrau Ida Coblenz.) Schönbergs Entscheidung, das Gedicht unter Aussparung der Worte zu vertonen, hat jedenfalls die Überlebensfähigkeit des Werkes nicht unwesentlich erhöht.

Zur Komposition des Werkes brauchte Schönberg nur etwa drei Wochen, während ihn die zahlreichen – in erster Linie den formalen Verlauf betreffenden – Korrekturen bis tief in den Herbst beschäftigten. Die wohl schon in Wien beendete Reinschrift trägt das Abschlußdatum 1. Dezember 1899.

In der an Entwicklungsschüben und -sprüngen reichen Biographie Schönbergs wird die Zielstrebigkeit und Rasanz seiner künstlerischen Entwicklung vielleicht nirgendwo so faßbar wie im direkten Vergleich des D-Dur-Streichquartetts von 1897 mit der Verklärten Nacht von 1899: Stringenz der motivischen Arbeit, kontrapunktische Meisterschaft und ein sehr persönlicher Umgang mit der nachwagnerschen Harmonik heben das neue Werk weit über die durchaus respektable Talentprobe, die Schönberg mit jenem Streichquartett erbracht hatte, hinaus. Die Prägnanz der Motive und die dramatische Plastizität der musikalischen Gestik eröffnen schon hier einen Ausblick auf den schicksalhaften Weg, den Schönberg in den folgenden Jahrzehnten beschreiten wird müssen – und unwillkürlich wird man an jene Worte von Adolf Loos erinnert, die er auf die (im wesentlichen zwei Jahre nach der Verklärten Nacht beendeten) Gurrelieder gemünzt hat:

„In diesem ersten Werk ist für den, der Ohren hat zu hören und Augen hat zu sehen, das ganze Lebenswerk des Künstlers enthalten. Die Krokodile sehen einen menschlichen Embryo und sagen: Es ist ein Krokodil. Die Menschen sehen denselben Embryo und sagen: Es ist ein Mensch. Von den Gurreliedern sagen die Krokodile, es wäre Richard Wagner. Aber die Menschen fühlen nach den ersten drei Takten das unerhört Neue und sagen: Das ist Arnold Schönberg!“
(Adolf Loos, Arnold Schönberg zum 50. Geburtstage, 1924)

Die Übernahme konkreter literarischer Programme war auch vor Schönberg nicht auf die symphonische Musik beschränkt (Liszts drei Petrarca-Sonette aus den Années de Pèlerinage z.B. gehen bis auf das Jahr 1837 zurück), die konsequente Anwendung der in der symphonischen Dichtung ausgeprägten Gestaltungsprinzipien auf ein kammermusikalisches Gebiet, das bis dahin als die klassische Domaine „absoluter“ Musik schlechthin gegolten hatte, darf aber durchaus als eine selbständige Errungenschaft des jungen Schönberg betrachtet werden:

„Bei der Komposition von Richard Dehmels Gedicht Verklärte Nacht leitete mich die Absicht, in der Kammermusik jene neuen Formen zu versuchen, welche in der Orchestermusik durch Zugrundelegen einer poetischen Idee entstanden sind. Zeigt das Orchester die gleichsam episch-dramatischen Gebilde tondichterischen Schaffens, so kann die Kammermusik die lyrischen oder lyrisch-epischen darstellen. Stehen nun auch die Mittel der letzteren hinsichtlich der tonmalerischen Ausdrucksfähigkeit hinter denen des Orchesters zurück, – ein Mangel, der nur beim Vergleich bemerkbar ist, der aber doch auch, wenn er wirklich einer ist, mit Rücksicht auf das Kolorit zu Gunsten der Sinfonie gegen das Streichquartett überhaupt spräche – so bleibt doch als Gemeinsames das formenbildende Prinzip. Dieses ist ein uraltes und leitet seinen Ursprung von jenen alten Meistern her, die in den – heute endlos scheinenden – Textwiederholungen solange über einen poetischen Gedanken musikalisch phantasierten, bis sie ihm alle möglichen Stimmungen und Bedeutungen abgewonnen – fast möchte ich sagen: bis sie ihn analysiert hatten.“
(Arnold Schönberg in „Deutsche Tonkünstler-Zeitung“)

Nicht nur wegen der ganz ungewohnten Verquickung von Programm- und Kammermusik, sondern auch aufgrund der stellenweise unerhört komplexen Harmonik des Werkes stieß es schon vor seiner Uraufführung auf Widerstände. Zemlinsky, der Schönbergs D-Dur-Quartett den Weg geebnet hatte, versuchte auch diesmal seinen Einfluß geltend zu machen:

„Im Sommer 1899 (während eines gemeinsamen Aufenthaltes in Payerbach) schrieb Schönberg ein Streichsextett nach einem Gedicht von Richard Dehmel. Soviel ich weiß, war es die erste Programmusik für Kammermusik. Ich versuchte abermals, den Vorstand des Tonkünstlervereins zu einer Aufführung dieses Werkes zu bestimmen. Aber diesmal hatte ich kein Glück. Das Stück wurde »geprüft«, und das Ergebnis war absolut negativ. Ein Mitglied der Jury gab sein Urteil mit den Worten ab: »Das klingt ja, als ob man über die noch nasse Tristan-Partitur darübergewischt hätte!« – Nun, dieses Sextett, »Verklärte Nacht«, ist eines der am meisten aufgeführten Werke von Schönberg und der modernen Kammermusikliteratur überhaupt geworden. Schönberg ließ sich durch diesen scheinbaren Mißerfolg nicht beirren; ein paar kräftige, launige Worte auf seine Kritiker – und damit hatte seine damals noch ungemein heitere, optimistische Natur die ganze Angelegenheit erledigt.“
(Alexander von Zemlinsky, Jugenderinnerungen)

Wer dieser harsche und verständnislose Kritiker war, ist nicht überliefert. Die oft geäußerte Vermutung, es sei Richard Heuberger (1850-1914) gewesen, läßt sich jedenfalls dokumentarisch nicht belegen. Heuberger, der zu Brahms´ engerem Freundeskreis gehört hatte, allerdings schon ein Jahr nach dem Tod des Meisters eine ganz unbrahmsische Karriere als Operettenkomponist begonnen hatte (Der Opernball, 1898), soll (nach dem Zeugnis von Schönbergs Jugendfreund David Josef Bach) dem jungen Schönberg nachdrücklich zur Komponistenlaufbahn geraten haben; und seit dem 27. Oktober 1899 waren Schönberg und Heuberger (als neugewählter Präsident) sogar Kollegen im Vorstand des Tonkünstlervereines. Daß Zemlinsky und Schönberg, wie dessen Schwester Ottilie zu erzählen wußte, Heubergers Opernball instrumentieren mußten, mag einer der Gründe sein, warum der harmlose Erfolgskomponist von dem jungen Freundespaar mit besonderer Inbrunst verachtet wurde.

Da Schönberg wenige Wochen, nachdem er Mathilde von Zemlinsky zu seiner Frau gemacht hatte (18. Oktober 1901), seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte, wo er als Kapellmeister an Ernst von Wolzogens Buntem Theater („Überbrettl“) wirkte, mußte Zemlinsky seinen Schwager über die skandalumwitterte Uraufführung, die das erweiterte Rosé-Quartett am 18. März 1902 – ganz ohne Mitwirkung des gestrengen Tonkünstlervereines – spielte, brieflich berichten. Auch aus diesem Dokument ist ersichtlich, daß man in Heuberger einen Hauptgegner sah:

„Lieber Freund, unser Telegramm hat Dir bereits einen Vorgeschmack meines Eindrucks über den Erfolg deiner „verkl. Nacht“ gegeben. Nun ein wenig Ausführlicheres. Mit Ausnahme einiger grossen Längen u. Gespreiztheiten in der Mitte des Werkes, habe ich einen grossen Eindruck empfangen. Es sind Stellen von wirklicher Schönheit u. tiefster Empfindung, sowie von echter grosser ungewöhnlicher Kunst darin! Du musst unbedingt die Sache noch einmal redigiren, herausgeben u. Verbreitung suchen. Es ist sehr viel Tristan noch zu hören – aber du weißt, wie ich darüber denke. Wir, unsere wirklichen Freunde, waren begeistert. Ich habe auch [Heinrich] Reinhard[t], Robert [recte: Gustav?] Schönaich gesprochen, sie alle haben den Eindruck eines Werkes von Bedeutung „wenn auch mit starken Auswüchsen“ gehabt. Wie Heuberger darüber denkt, weiss ich bis jetzt nicht. Wahrscheinlich nicht anders als damals. Das wäre ja zu „beschämend“ für ihn.
Der Erfolg war so wie du ihn wünschtest. Starke oftmalige Hervorrufe mit Opposition gemischt. Wir haben die paar tüchtig niedergestunken. […] Es kommt für uns Alle die Zeit!! U. die Heubergers u. Genossen seh ich doch noch am Schindanger umkommen.
(Zemlinsky an Schönberg, 19. März 1902)

Der Lieblingsfeind äußerte sich einige Tage später in der Neuen Freien Presse:

…Da es noch genug „ungebildete“ Leute zu geben scheint, welche das Gedicht nicht kennen, so stiess diese Programm-Kammermusik (Gott schütze uns in Zukunft vor dieser Species!) auf das Unverständnis aller nicht secessionistisch angehauchten Zuhörer. Das Eine fühlte aber ein Jeder, dass diese verklärte Nacht erschrecklich lange gewährt haben muss, und nicht einmal durch allerhand Finessen, wie Pizzicati, Flageolet-Töne, Sordinen etc. war einiges Licht in sie zu bringen. Es ist nicht wegzuleugnen, dass Herr Schönberg es versteht, für Streichinstrumente wirkungsvoll zu schreiben; möge er diese Gabe bei einem gediegenen Kammermusikwerk auszunützen versuchen! Die durch die Novität aufgeregte Zuhörerschaft, welche applaudirte, zischte und schrie, wurde erst durch das herrlich schön gespielte Quintett in F-Dur von Brahms beruhigt.
(R[ichard] h[euberger], Neue Freie Presse, 24. März 1902)

Sogar diese minimalen und gönnerhaften Konzessionen des strengen Kritikers an die Fähigkeiten Schönbergs sorgten bei den Freunden schon für ein ungläubig-spöttisches Staunen:

Rudolf Hoffmann u. Carl Weigl sind plötzlich deine Verehrer geworden seit R. Heuaff dich lobt. Ich muss aus demselben Grunde an deinem Talent zweifeln u. darauf erhebe ich mein (Augen)-glas…
(Zemlinsky an Schönberg, 26. März 1902)

Allem kritischen Gebell zum Trotz wurde die Verklärte Nacht in den nächsten Jahren zu einem der meistgespielten Werke Schönbergs; über das absolute Ausmaß dieser „Popularität“ sollte man sich freilich keine falschen Illusionen machen: Als Schönberg vom Berliner Dreililienverlag zur Wiener Universal-Edition überwechselte, schickte Max Marschalk am 13. März 1911 eine Abrechnung nach Wien, aus der hervorgeht, daß die Verklärte Nacht mit 57 (!) zwischen 1905 und 1911 verkauften Partituren die kommerziell erfolgreichste Komposition Schönbergs war…

Alice Moller (1870-1962), die zwischen 1918 und 1920 bei Schönberg studierte, hatte eine ganz besondere Vorliebe für das Werk; als Geburtstagsgeschenk für sie fertigte Eduard Steuermann (1892-1962), der auf Vermittlung Busonis schon 1912 in Berlin Schönbergs Schüler geworden war, 1931/32 die vorliegende Bearbeitung für Klaviertrio an. Sie liegt seit 1979 gedruckt vor.


Richard Dehmel (1863-1920)
Verklärte Nacht
(aus „Weib und Welt“, 1896)

Zwei Menschen gehen durch kahlen, kalten Hain;
Der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:

Ich trag ein Kind, und nit von Dir,
ich geh in Sünde neben Dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen.
Ich glaubte nicht mehr an ein Glück,
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensinhalt, nach Mutterglück
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen,
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt:
Nun bin ich Dir, o Dir begegnet.

Sie geht mit ungelenkem Schritt.
Sie schaut empor; der Mond läuft mit.
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:

Das Kind, das Du empfangen hast,
sei Deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um alles her,
Du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von Dir in mich, von mir in Dich.
Die wird das fremde Kind verklären,
Du wirst es mir, von mir gebären;
Du hast den Glanz in mich gebracht,
Du hast mich selbst zum Kind gemacht.

Er faßt sie um die starken Hüften.
Ihr Atem küßt sich in den Lüften.
Zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht.

© by Claus-Christian Schuster