Toru Takemitsu
* 08. Oktober 1930
† 20. Februar 1996
Between tides (1993)
Komponiert: | , 1993 |
Widmung: | Pamela Frank, Yo-Yo Ma, Peter Serkin |
Uraufführung: | Berlin, Kammermusiksaal der Philharmonie, 20. September 1993 Peter Serkin (*1947), Klavier Pamela Frank, Violine Yo-Yo Ma (*1955), Violoncello |
Erstausgabe: | Schott, Tokyo, 1995 |
Takemitsu, der erste japanische Komponist, der zu wirklichem Weltruhm gelangt ist, gehört einer sogar im Kontext unseres widersprüchlichen Jahrhunderts ganz besonders „zerrissenen“ Generation an: Wie George Crumb (*1929), Edison Denisov (*1929), Dieter Schnebel (*1930) und Mauricio Kagel (*1931) – um nur einige der besonders markanten Komponisten dieser Generation zu nennen – umfaßt seine Kindheit den Weg aus der Weltwirtschaftskrise in den Zweiten Weltkrieg, also vom Chaos ins Inferno. Aus japanischer Perspektive war dieser Weg vielleicht noch zermürbender, weil er hier aus dem Wahn der imperialen Beherrschung ganz Asiens („Tanaka-Memorandum“ von 1927) geraden Weges nach Hiroshima und Nagasaki führte.
Mit achtzehn Jahren wurde Takemitsu für einige Zeit Privatschüler von Yasuji Kiyose (1900-1981), der seinerseits in Tokyo den Unterricht von Klaus Pringsheim und Alexander Tcherepnin genossen hatte. Takemitsu selbst hat hingegen nie ein Konservatorium oder eine Musikhochschule besucht.1951 war er Mitbegründer von jikken-kobo („Versuchsatelier“), eines Zusammenschlusses von Schriftstellern, bildenden Künstlern und Musikern. Aus diesem Jahr stammt auch sein erstes Kammermusikwerk, das deutlich von der Poetik Debussys und Messiaens geprägte Stück Yosei no kyori (Distance de fée) für Violine und Klavier. Takemitsus Unabhängigkeit vom akademischen Lehrbetrieb erweist sich bald als großer Vorteil: Während seine Generationskollegen systematisch zur Imitation europäischer Modelle angehalten werden, geht er unbekümmert und neugierig seinen ganz eigenen Weg. Er experimentiert mit Tonaufnahmen von Alltagsgeräuschen und Naturlauten und gelangt so zu einer autochthon japanischen Spielart der musique concrète. In der Folge interessiert er sich auch für die zur gleichen Zeit in Darmstadt angestellten Versuche mit graphischer Notation und Aleatorik. Erstaunlich rasch wandelt sich die Summe all dieser heterogenen Erfahrungen und Entdeckungen in eine eigene und unverwechselbare musikalische Sprache, in der vielleicht die Stille das wichtigste Element ist – ein deutlicher Bezug zum Raffinement der Aussparung in der japanischen Malerei und der von Takemitsu besonders geliebten Lyrik.
1964 leitet er zusammen mit John Cage ein Kompositionsseminar an der University of Hawaii, und im darauffolgenden Jahr wird er mit dem Großen Preis der IGNM ausgezeichnet. Von besonderer Bedeutung war für Takemitsu in den folgenden Jahren die Zusammenarbeit mit dem Altmeister des japanischen Films, Akira Kurosawa (Filmmusik zu Dodes’ka-den, 1970, und zu Ran, 1985).
Seit den Sechziger Jahren beschäftigt Takemitsu sich häufiger mit dem Instrumentarium der traditionellen japanischen Musik. Wo er japanische Instrumente mit westlichen Klangkörpern kombiniert, wie etwa in dem Stück November Steps für Biwa, Shakuhachi und Orchester, das er 1967 zum 125. Geburtstag der New Yorker Philharmoniker komponierte (und dem er 1973 unter dem Titel Aki, Herbst, ein Stück in gleicher Besetzung folgen ließ), ist es ihm immer darum zu tun, die wesentlichen Eigenheiten der beiden Klang- und Geisteswelten unvermischt zu bewahren, um sie einander als autonome und vitale Organismen gegenüberstellen zu können. Dem modischen multikulturellen Ragout, das unter dem Vorwand kosmopolitischer Offenheit nur verschiedene dekorative Accessoires verbindet, die losgelöst von den ihnen zugrundeliegenden Wesenheiten nichts mehr bedeuten, konnte er nichts abgewinnen.
Takemitsu starb Anfang 1996 über der Arbeit an seiner ersten Oper, die in Lyon hätte uraufgeführt werden sollen.
In den Werken seiner allerletzten Schaffensperiode zeichnet sich eine Rückkehr zu „funktionaler“ Harmonik und „traditioneller“ Rhythmik ab. Trotzdem geht nichts von dem assoziativen Zauber verloren, der in der Freiheit und Ungebundenheit seines musikalischen Denkens liegt. Diese Rückbesinnung ist also keine resignative Kehrtwendung, sondern ein schöpferisches Wiederfinden, durch das man (mit Groth und Brahms zu reden) „zum zweiten Mal ein Kind“ werden kann.
Between Tides ist vielleicht das eindrücklichste Zeugnis dieses Prozesses. Es ist wohl kein Zufall, daß die leitmotivische Tonfolge, die das ganze Stück durchzieht, wie eine versöhnliche Schwester jenes berühmten ikonoklastischen Signalrufes erscheint, die Schönberg 1906 emblematisch an den Anfang seiner Kammersymphonie stellte. War dort durch eine kompromißlose Folge von heroisch aufsteigenden Quartschritten der Terzenharmonik der Krieg erklärt worden, so läßt sich Takemitsus Thema (A-B-es-g-h-d1) ganz leicht als Folge zweier übereinander geschichteter Dreiklänge mit einleitendem (quasi „leittönigen“) Halbtonschritt deuten. Wie bei Schönberg handelt es sich um ein rhythmisch fast neutrales sechstöniges Motiv, das nur eine Bewegungsrichtung kennt; Webern hat in seiner Bearbeitung der Schönbergschen Kammersymphonie für Klavierquintett genauso wie Takemitsu diese Wendung zuerst dem Cello anvertraut. Wenn man bedenkt, daß es gerade dieses programmatische Motiv war, das über Jahrzehnte hinweg das musikalische Logo der Darmstädter Ferienkurse war, so will man kaum mehr an einen Zufall glauben. Umso bedeutsamer ist der undramatische und versöhnliche Ton, mit dem Takemitsu seine Metamorphose dieses ominösen Schlachtrufes vorträgt. Die friedliche Erscheinung ist in eine mehrschichtige viertaktige Phrase verwoben, die in den darauffolgenden „Wellen“ auf sechs und zehn Takte ausgedehnt wird. Mit jeder Wiederholung wird das Spiel der Linien und Farben reicher und beziehungsvoller. Stimmungen und Gefühle erwachen und vergehen so „zwischen den Gezeiten“ der in organischer Folge wiederkehrenden Klangerscheinungen. Takemitsu vergleicht sein Werk mit dem Mikrokosmos eines kayushiki-teien, des traditionellen japanischen Landschaftsgartens, und erinnert daran, „daß die musikalischen Gegenstände, die er in seinem musikalischen Garten plaziert, sich nur allmählich verändern, gerade so, wie die Erscheinung der Steine, der Pflanzen, des Wassers sich mit dem Standort des Wanderers verändert, der durch die Landschaft schlendert.“
„Das Spiel der drei Instrumente ereignet sich gelassen, zäsurlos, ohne dramatische Aktionen oder turbulenten Wechsel, aber es wird beobachtbar, daß die Klangkonstellationen des Klaviers sich gelegentlich linear verflüssigen, und umgekehrt die grundsätzlich melodische Entfaltung der Streichinstrumente durch wechselnden Bogendruck, Flageoletts, Tremoli oder Oktavierungen klangbetonter werden. Wie die wechselnden Phasen des atmenden Meeres oder der Jahreszeiten werden auch hier komponierte Phasen erkennbar. So wird Between Tides zum Abbild der Atemzüge der Natur oder ist gar eine komponierte Metapher jener kosmischen Gezeiten, die durch die Yin-Yan-Polarität des Universums in Gang gehalten werden.“ (Wolfgang Burde)
Trotz dieses durch und durch orientalischen meditativen Konzepts ist die Klangsprache überreich an abendländischen Echos und Widerspiegelungen. Debussy, Schönberg und Messiaen finden in diesem imaginären und zeitlosen Zaubergarten zueinander. In der Abenddämmerung bedeckt nur mehr ein flüchtiger Nebelschleier die wiedergefundene Ruhe eines C-Dur-Akkords, mit dem die Erscheinung unserem Gehör entgleitet.
© by Claus-Christian Schuster