Bernd Alois Zimmermann
* 20. März 1918
† 10. August 1970
Présence. Ballet blanc en cinq scènes (1961)
Komponiert: | Köln, beendet am 27. März 1961 |
Widmung: | Ellen Gorrissen-Arnhold |
Uraufführung: | Uraufführung(konzertant): Darmstadt, Marienhöhe, Internationale Ferienkurse für Musik, 8. September 1961 – Priegnitz-Trio Hans Priegnitz, Klavier Bernhard Hamann, Violine Siegfried Palm (*1927), Violoncello Uraufführung (szenisch): Schwetzingen, Schwetzinger Festspiele, 16. Mai 1968 Aloys Kontarsky (*1931), Klavier Saschko Gawriloff , Violine Siegfried Palm, Violoncello Ballett des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart Choreographie: John Cranko |
Erstausgabe: | Ars viva, Mainz, 1961 |
Mit Bernd Alois Zimmermann ist in unserem Zyklus neben Mauricio Kagel noch ein zweiter wichtiger Repräsentant der sogenannten „Darmstädter Schule“ vertreten, ohne die das Bild der Musik unseres Jahrhunderts nicht vollständig wäre. Während aber Kagels Klaviertrio nur mehr ferne Reflexe der Darmstädter Erfahrung zeigt, ist Zimmermanns Présence ein Schlüsselwerk aus der Hochblüte dieser Schule.
Wie kaum eine andere Gruppierung der Musikgeschichte hat die „Darmstädter Schule“ ( – ein übrigens recht anfechtbarer Terminus – ) weit über ihren unmittelbaren Wirkungsbereich hinaus Kontroversen ausgelöst, die das Bild der „Neuen Musik“ in der musikinteressierten Öffentlichkeit nachhaltiger geprägt haben als die dabei diskutierten Werke selbst.
Schon im ersten Drittel unseres Jahrhunderts hatte sich Darmstadt in der Pflege neuer Musik einen Namen gemacht: Max Reger fand hier besonders begeisterte Anhänger, Felix Weingartner gab als Dirigent während des ersten Weltkrieges wichtige Impulse, und Joseph Rosenstock machte sich in den Zwanziger Jahren als Vorkämpfer Stravinskijs und Schönbergs verdient. Der nationalsozialistische Albtraum hatte diese Tradition unterbrochen. Der Journalist Wolfgang Steinecke wollte an die Ideen der Zwanziger Jahre anknüpfen und organisierte im Sommer 1947 die ersten „Ferienkurse für internationale Neue Musik“ im ehemaligen kurfürstlichen Jagdschloß Kranichstein.
Rolf Liebermann gehörte zu den ganz wenigen „ausländischen“ Gästen dieser ersten Ferienkurse, und er erkannte sofort, was die Darmstädter wirklich brauchten: in die Schweiz zurückgekehrt organisierte er eine Sammlung und kehrte 1948 zu den nächsten Kursen mit einer Wagenladung Partituren, Notenpapier und Instrumentenzubehör zurück. Hermann Scherchen und René Leibowitz waren die dominierenden Persönlichkeiten dieser ersten Kurse. Es galt, das durch die nationalsozialistische Kulturpolitik und den Krieg entstandende Informationsdefizit zu verringern und die in den Isolationsjahren versäumten Entwicklungen kritisch nachzuvollziehen. So wurden die Kurse, die schon seit 1948 den auch heute noch verwendeten Namen „Internationale Ferienkurse für Neue Musik“ führen, zu einem kosmopolitischen Experimentierfeld, auf dem zunächst die Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten von Dodekaphonie und Serialismus diskutiert und erprobt wurden. Deshalb konnte bei vielen mit den Darmstädter Verhältnissen und Gepflogenheiten nicht vertrauten Musikliebhabern der Eindruck entstehen, Darmstadt sei in den Fünfziger- und Sechzigerjahren so etwas wie eine oberste Inquisitionsbehörde in Fragen des orthodoxen Umganges mit Zwölfton- und Reihentechnik gewesen. Die anläßlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Ferienkurse erschienenen Publikationen beweisen, daß diese Institution eine Begegnungsstätte und Ideenbörse von viel weiter reichender Bedeutung war, in der sich alle relevanten Phänomene der Musikgeschichte des letzten halben Jahrhunderts Gehör verschaffen konnten. Aus österreichischer Sicht kann man nicht über Darmstadt sprechen, ohne auch Karl Schiskes zu gedenken, der einer ganzen Pleiade junger österreichischer Komponisten den Weg zu den Ferienkursen öffnete. Daß auf diese Weise so wesensverschiedene Komponistenpersönlichkeiten wie Erich Urbanner und Kurt Schwertsik, Friedrich Cerha und Iván Eröd (um nur einige zu nennen) die in Darmstadt gebotenen Anregungen aufnehmen und verarbeiten konnten, war ein vitaler Impuls für die österreichische Musik unserer Zeit und zeigt zugleich, wie wenig die Darmstädter Erfahrungen das Profil der „Schüler“ prädeterminiert haben.
Bernd Alois Zimmermann war Zögling des Salvatorianerkollegs von Steinfeld und danach des Kölner Katholischen Gymnasiums. 1937 inskribierte er an den Universitäten von Köln und Bonn Vorlesungen in Philologie, Philosophie, Psychologie und Musikwissenschaft; zwei Jahre später begann er zusätzlich ein Musikstudium an der Kölner Musikhochschule. Im Weltkrieg kam Zimmermann als Soldat nach Frankreich, wo er die Werke Milhauds und Stravinskijs für sich entdeckte. 1947 konnte er sein Musikstudium beenden und bildete sich anschließend bei den Ferienkursen für Neue Musik als Schüler von Wolfgang Fortner und René Leibowitz weiter. Als Frank Martin 1957 emeritierte, wurde Zimmermann sein Nachfolger als Professor für Komposition an der Kölner Musikhochschule. Gleichzeitig übernahm er die Leitung des Seminars für Theater- und Filmmusik. Seine lebenslange Beschäftigung mit dem Musiktheater fand in der 1965 uraufgeführten Oper Die Soldaten ihre Erfüllung. Die letzten Lebensjahre Zimmermanns waren von immer häufiger wiederkehrenden Depressionen überschattet, die ihn zuletzt in den Freitod trieben.
Eine der auffälligsten Konstanten im Oeuvre Bernd Alois Zimmermanns sind die fast immer gegenwärtigen außermusikalischen Bezüge: Tanz und Theater, Roman und Gedicht werden oft zum Ausgangspunkt einer Antwort in Tönen, die aber nie erläuternd oder illustrativ ist. Im Gegenteil: Zimmermanns Reaktion auf die ihn verfolgenden außermusikalischen Chiffren ist auch ein Akt der Verweigerung.
Présence entstand als Auftragswerk des Hessischen Rundfunks, zunächst als Concerto scénique, und wurde sieben Jahre nach seiner Entstehung und Uraufführung in konsequenter Weiterentwicklung der ihm zugrundeliegenden Idee als Ballet blanc choreographiert. Als solches nimmt es unmittelbar Bezug auf das Ballet noir „Musique pour les soupers du Roi Ubu“, das 1966 entstanden und im selben Jahr wie die szenische Version von Présence uraufgeführt worden war. Der unverwüstliche König Ubu, die berühmteste Schöpfung des französischen Dichters und Bohémiens Alfred Jarry (1873-1907), die von den Dadaisten und Surrealisten zur Kultfigur erhoben wurde, ist das äußere Bindeglied zwischen den beiden Schwesterwerken. In Présence fällt diese Rolle programmatisch dem Klavier zu, während die Geige den Don Quichote des Cervantes (oder – wie ein unüberhörbares Zitat in der zweiten Szene vermuten ließe – den Richard Straussischen) und das Cello die Molly Bloom aus James Joyces Ulysses darstellen.
Die folgende Einführung des Komponisten nimmt auf diese Elemente der szenischen Aufführung des Werkes Bezug; auch Zimmermanns Lieblingsidee von der „Kugelgestalt der Zeit“, jener unentschlüsselbaren Einheit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, auf die der Titel des Werkes hinweist, klingt hier an:
„Présence: das ist die dünne Eisschicht, auf der der Fuß eben nur so lange verweilen kann, bis sie einbricht; aber während der Fuß noch für den Bruchteil einer Sekunde auszuruhen vermeint, bricht sie schon, die dünne Decke, und zurück bleibt die Gewißheit des Packeises: voraus der Blick in die Zukunft mit einer Gewißheit der immer wieder neu begonnenen Gegenwart des Splitterns der Eisschicht und die Absurdität, die in dem ständig unternommenen Versuch liegt, Fuß zu fassen. So erscheint Présence als jene Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet.
Die Figuren des „ballet blanc“, die Personen der „Handlung“: Don Quichote, mit Goldhelm, Visier und Federbusch: Requisiten aus dem Packeis; danseur noble (violon). – Molly Bloom, Primaballerina, mit Tutu und Maske der Gaia-Tellus, Urmutter des Seins…»and then I asked him with my eyes to ask again yes and then he asked me would I yes… and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes« (violoncelle). – Ubu-Roi, danseur noble mit Tapirkopf (piano). Speaker: »korrekt angezogene Person«, nach der Herrenmode um die Jahrhundertwende gekleidet, mit Kopfbedeckung. Die Wortembleme, Wortsteine: vage Wegweiser in einem Eisfeld – wer vermag zu entscheiden, ob sie nicht »verstellt« sind? -, sind die Dekoration der imaginären Szene. Paul Pörtner gibt damit Zeichen, welche ihren Kontrapunkt in den Bildtafeln der einzelnen Szenen finden, die der speaker – der stumme »speaker« – vorstellt.“
Die Unwirtlichkeit der hier von Zimmermann gezeichneten Landschaft, die Zerbrechlichkeit aller Grundlagen, das fragende Irresein an allen Wegen – all das prägt die tönende Erscheinung dieses Werkes. Auch die literarischen Bezüge sind, wie die „Wortsteine“, nichts weiter als „verstellte“, irreführende Wegweiser für – oder eigentlich gegen? – den Wanderer durch diese Tonwüste. Diese von Zimmermann zuletzt genannten „Wortembleme“, Zitate aus dem Gedichtband „Wurzelwerk“ von Paul Pörtner, sind den fünf Szenen des Werkes vorangestellt, finden aber in der Musik weder Echo noch Erwiderung:
I Introduction et pas d’action (Don Quichotte)
wir jagen das wild
das uns opfert
II Pas de deux (Don Quichotte et Ubu)
die stählernen engel der dinge
holen uns ein
III Solo (Pas d’Ubu)
alle wahrvögel nisten
in einem einzigen baum
IV Pas de deux (Molly Bloom et Don Quichotte)
flutende lippen
umwogen den grund…
unentblätterter schlaf,
atemloses versprechen…
insel der schwebenden vögel
V Pas d’action et finale (Molly Bloom)
im unaufhörlichen
tamtam deiner haare
dreht sich der sarg
der umkehrenden träume
Diese Bruchstücke sind ebenso wie das komplizierte Netz aus literarischen und musikalischen Zitaten unhörbarer Teil der Komposition. Nur an einer Stelle gestattet der Komponist dem Hörer, in dieser Eiswüste der Töne wiedererkennenden Halt zu finden: Richard Strauss‘ Don Quichote und das Andante aus Prokofjews Siebenter Klaviersonate ragen wie Bruchstücke eines im Eismeer gestrandeten Schiffes in den grau verhangenen Himmel ( – Caspar David Friedrich: sogar die Assoziationen dieses Werkes scheinen sich in ein unentwirrbares Geflecht von Zitaten und Chiffren verstricken zu wollen…). Die anderen Zitate – Debussys „Jeux“ und Karlheinz Stockhausens „Zeitmaße“ – sind ebenso gut getarnt wie alle anderen Reminiszenzen, die in die Komposition dieses Stückes eingeflossen sind und in ihm gefangen bleiben. Der ihm so suspekten „Trivialität des tausendmal Gesagten“ ist Zimmermann gewiß entgangen. Ob er auf der dünnen Eisschicht dieses Versuches zu einer verständlichen neuen Sprache gefunden hat, wird jeder Hörer für sich allein entscheiden müssen.
© by Claus-Christian Schuster